Weihnachtsgeschichte 2025

In wenigen Stunden werden wieder Kerzen entzündet, Lieder angestimmt, der Glühwein erwärmt und jene eigentümliche Rührung kultiviert, die sich jedes Jahr zuverlässig einstellt, wenn wir der Geburt eines jüdischen Kindes gedenken, dessen einziges Kapital Worte waren – Sätze, Gleichnisse, Zumutungen –, und das gerade dadurch zum wohl wirkmächtigsten Revolutionsführer der Weltgeschichte wurde. Keine Armee, kein Palast, kein Staatsapparat, nicht einmal ein Schwert; nur Sprache, nur Sinn, nur eine radikale Ethik, die Macht durch Wahrheit ersetzte und Wahrheit gefährlicher machte als jede weltliche Gewalt. Dass diese Worte gefürchtet wurden, ist kein Wunder: Sie unterliefen Imperien, entlarvten Heuchelei, zogen den Herrschenden den Teppich aus moralischer Selbstgewissheit unter den Füßen weg. Und doch feiern wir dieses jüdische Kind heute oft so, als sei es eine harmlose Porzellanfigur, eine sentimentale Dekoration zwischen Lichterkette und Rabattaktion – entkernt, entschärft, entjudet.

Das Fest der Verdrängung

Während wir also die Geburt eines Juden feiern, der den christlichen Glauben begründete, tobt in vielen Städten der westlichen Welt ein antisemitischer Furor, der sich modern gibt, global vernetzt ist und sich gerne hinter moralischen Parolen verschanzt. Menschen werden bedroht, angegriffen, mitunter getötet, nicht wegen individueller Taten, sondern wegen ihrer bloßen Existenz als Juden. Auf Straßen, an Universitäten, in kulturellen Räumen wird eine alte Obsession neu etikettiert: Judenhass als vermeintlicher Widerstand, als angeblich progressives Engagement, als modischer Ersatz für Denken. Der Zynismus dieser Gleichzeitigkeit ist atemberaubend: Wir singen vom „Frieden auf Erden“ und erklären zugleich, warum Juden sich besser verstecken, ihre Symbole ablegen, ihre Stimmen senken sollten – zu ihrer eigenen Sicherheit, versteht sich. Es ist die Pädagogik der Einschüchterung, vorgetragen mit dem Tonfall moralischer Überlegenheit.

Die Wiederkehr der Herbergslosigkeit

Die Weihnachtsgeschichte erzählt von Josef und Maria, Juden aus Nazareth, die keine Herberge fanden, von verschlossenen Türen und administrativer Kälte. Man staunt darüber – historisch gerührt, gefahrlos empört. Doch während wir diese Szene jedes Jahr nachspielen, entsteht erneut eine Atmosphäre, in der Juden sich fragen müssen, ob dieses Land noch ihr Zuhause ist. Ein Milieu, das sich als aufgeklärt und humanistisch versteht, aber Antisemitismus nur erkennt, wenn er in historischer Tracht auftritt, sorgt dafür, dass jüdisches Leben wieder zur Zielscheibe wird. Staatlich alimentierte Projekte, kulturelle Institutionen, akademische Zirkel – sie alle versichern unablässig ihre guten Absichten und erklären gleichzeitig, warum der Hass, der vor ihren Augen wuchert, eigentlich keiner sei. Das Resultat ist bitter ironisch: Ausgerechnet in Gesellschaften, die sich ihrer Lehren aus der Geschichte so sicher sind, packen Juden wieder Koffer und suchen Zuflucht dort, wo sie wenigstens wissen, warum sie bedroht werden.

Moral als Tarnkappe

Besonders perfide ist die moralische Umkehrung, die diesen Zustand begleitet. Antisemitismus wird nicht mehr als solcher bekämpft, sondern kontextualisiert, relativiert, funktionalisiert. Er erscheint als Kollateralschaden höherer Ziele, als verständliche Reaktion, als notwendige Zuspitzung. Wer widerspricht, gilt schnell als unsensibel, reaktionär oder – das Totschlagargument unserer Zeit – „problematisch“. In dieser Logik wird der Jude vom Subjekt zum Symbol, vom Menschen zum Argument. Seine reale Angst stört die saubere Theorie, sein reales Leben passt nicht in die wohlgeordnete Empörungshierarchie. Dass dabei auch radikale islamistische Ideologien, die Judenhass offen propagieren, aus falsch verstandener Toleranz geschont oder gar indirekt legitimiert werden, gehört zu den großen intellektuellen Bankrotterklärungen unserer Epoche.

Die belagerte Erinnerung

Wer die Juden verrät, verrät nicht irgendeine Minderheit, sondern die Wurzeln der eigenen Kultur. Das ist keine pathetische Überhöhung, sondern eine nüchterne Feststellung. Judentum ist kein Anhängsel des Abendlandes, es ist eines seiner Fundamente – religiös, ethisch, intellektuell. Weihnachten ohne das Jüdische ist Folklore ohne Inhalt, ein Ritual ohne Ursprung. Wer also heute mit ruhigem Gewissen antisemitische Ressentiments duldet, relativiert oder in geopolitische Abstraktionen auflöst, sägt an dem Ast, auf dem er sitzt, und nennt es Fortschritt. Die historische Ironie ist grausam und beinahe komisch, wäre sie nicht so gefährlich: Ausgerechnet jene, die sich als antifaschistisch verstehen, reproduzieren Denkfiguren, die Juden wieder zu Fremden erklären.

Ein augenzwinkernder Ernst

Vielleicht hilft nur noch der Galgenhumor, um diese Widersprüche auszuhalten. Wir feiern die Geburt eines jüdischen Kindes mit Lichterglanz und verweigern lebenden Juden die Selbstverständlichkeit von Sicherheit. Wir beschwören „Nie wieder“ und üben uns im „Schon wieder, aber anders gemeint“. Wir nennen es Satire, wenn wir lachen, und Zynismus, wenn wir schweigen. Und doch bleibt die Hoffnung, dass die Worte jenes Kindes – unbequeme, klare, entlarvende Worte – noch immer wirken können, wenn man sie ernst nimmt. Sie richten sich nicht gegen Macht als solche, sondern gegen ihre moralische Verkleidung. Vielleicht wäre das die radikalste Weihnachtsbotschaft: weniger Kerzen, mehr Klarheit; weniger Selbstgerechtigkeit, mehr Verantwortung. Und ja, das wäre tatsächlich revolutionär.

Die bittere Wahrheit

Du bist keine Minderheit, nur weil du minderintelligent bist

Es gibt Wahrheiten, die schmecken bitter wie kalter Espresso aus dem Pappbecher der Erkenntnis. Man nippt daran, verzieht das Gesicht und schiebt den Becher hastig beiseite, um stattdessen einen süßen Mythos zu bestellen: den Mythos der eigenen Verfolgung. Denn nichts ist heute so begehrt wie der Status der Minderheit, dieses moralische All-inclusive-Armband, das nicht nur vor Kritik schützt, sondern jede persönliche Unzulänglichkeit in strukturelle Benachteiligung umlackiert. Und so stehen sie da, die neuen Leidtragenden der Geschichte, die sich mit bebender Stimme und festem Blick in den Spiegel erklären: Ich bin nicht unfähig, ich bin marginalisiert. Ein Satz, so tröstlich wie falsch, so bequem wie ein Sofa aus Ausreden. Doch hier beginnt die bittere Wahrheit, und sie ist unerquicklich: Nicht jede Dummheit ist ein politisches Schicksal, nicht jede intellektuelle Flaute ein historisches Unrecht. Manchmal ist der Himmel grau, weil Wolken da sind, nicht weil das Universum dich hasst.

Die Inflation der Opferrolle

Die Opferrolle hat Konjunktur. Sie wird gehandelt wie eine Kryptowährung der Moral, volatil, aber mit enormem symbolischem Wert. Wer sie besitzt, darf laut sprechen und muss wenig erklären. Wer sie beansprucht, immunisiert sich gegen Zweifel und Kritik, denn Kritik wäre ja – wie praktisch – ein weiterer Beweis der Unterdrückung. In dieser ökonomischen Logik der Selbstentlastung ist Minderintelligenz kein Makel mehr, sondern ein Identitätsmerkmal, das man stolz vor sich herträgt wie einen Orden, der im Schützengraben der Kommentarspalten verdient wurde. Man ist dann nicht schlecht informiert, sondern „anders informiert“. Man ist nicht begriffsstutzig, sondern „kognitiv divers“. Und man ist ganz gewiss nicht falsch – man ist nur „zum Schweigen gebracht worden“. Dass man allerdings nie besonders viel zu sagen hatte, wird großzügig unter den Teppich der Systemkritik gekehrt, wo sich bereits andere Staubflocken der Selbsttäuschung tummeln.

Die Verwechslung von Quantität mit Qualität

Ein besonders hübsches Kunststück dieser Selbstverklärung ist die Verwechslung von Masse mit Bedeutung. Wenn viele etwas glauben, so die naive Hoffnung, muss es doch wahr sein. Und wenn viele dasselbe nicht verstehen, dann liegt der Fehler natürlich nicht bei ihnen, sondern bei der Sache selbst. So wird Komplexität zur Zumutung erklärt und Differenzierung zum elitären Akt der Ausgrenzung. Der Gedanke, dass manche Dinge schwierig sind, weil die Welt schwierig ist, erscheint in diesem Weltbild geradezu obszön. Stattdessen fordert man die Vereinfachung bis zur Unkenntlichkeit und nennt das dann „Demokratisierung des Wissens“. Dass dabei am Ende nur noch triviale Parolen übrig bleiben, ist kein Unfall, sondern das Ziel. Denn wo alles gleich flach ist, kann niemand mehr untergehen – außer vielleicht der Gedanke selbst.

Bildung als vermeintlicher Klassenfeind

Besonders unerquicklich wird es, wenn Bildung selbst zur verdächtigen Größe erklärt wird. Wissen gilt dann als Machtinstrument, Intelligenz als Herrschaftsform, Nachdenken als Akt der Gewalt. Der Gelehrte wird zum Unterdrücker, das Argument zur Mikroaggression, der Hinweis auf Fakten zur Majestätsbeleidigung des gefühlten Weltbildes. In dieser verdrehten Dramaturgie ist der Uninformierte nicht mehr jemand, dem etwas fehlt, sondern jemand, dem etwas angetan wurde. Dass Lernen Mühe macht, dass Verstehen Arbeit ist und Irrtum ein notwendiger Begleiter des Denkens – all das passt schlecht in eine Kultur, die Anstrengung mit Ungerechtigkeit verwechselt. Und so bleibt man lieber stehen, erklärt das Stehenbleiben zur Haltung und wundert sich, warum die Welt dennoch weitergeht.

Die zynische Pointe der Selbstentmündigung

Die eigentliche Tragik – und hier erlaubt sich das Essay einen Anflug von Mitleid – liegt in der freiwilligen Selbstentmündigung, die hinter all dem steckt. Wer sich zur Minderheit erklärt, um seine Defizite zu adeln, gibt zugleich den Anspruch auf Entwicklung auf. Man verzichtet auf das Recht, klüger zu werden, um das Privileg zu genießen, niemals falsch zu liegen. Das ist bequem, aber teuer. Denn es kostet Neugier, Selbstkritik und am Ende auch Würde. Ironischerweise ist es gerade diese Haltung, die echte Minderheiten verächtlich macht, indem sie deren reale Kämpfe mit dem Theater persönlicher Unzulänglichkeiten verwechselt. So wird das große Drama der Geschichte zur Kulisse für das kleine Drama des eigenen Denkfaulheitskomforts.

Ein augenzwinkerndes Schlusswort wider die intellektuelle Bequemlichkeit

Man darf dumm sein. Wirklich. Dummheit ist menschlich, allgegenwärtig und erstaunlich gleichmäßig verteilt. Sie wird erst problematisch, wenn sie sich für verfolgt hält und Applaus verlangt. Die bittere Wahrheit lautet daher nicht, dass Minderintelligenz verachtenswert wäre – sie ist lediglich kein politisches Argument. Wer klüger sein will, muss denken; wer denken will, muss zweifeln; und wer zweifelt, muss aushalten, dass er nicht immer recht hat. Das ist keine Unterdrückung, das ist Erwachsenwerden. Und vielleicht, nur vielleicht, liegt in dieser unbequemen Einsicht ein kleiner Trost: Man ist keine Minderheit. Man ist einfach auf dem Weg. Oder man bleibt stehen und nennt es Widerstand. Das Ergebnis sieht dann ähnlich aus – nur ohne Fortschritt, aber mit sehr viel Lärm.

Nachbemerkung zu Bondi Beach

Es ist ein merkwürdiges Ritual unserer Gegenwart, dass Worte wie in Watte gepackt werden, bevor sie in die Öffentlichkeit dürfen. Man streicht, poliert, entschärft, bis aus der Beschreibung eines konkreten Ereignisses ein semantisches Schonprogramm geworden ist. So auch im Fall Bondi Beach: Ein Anschlag, ein Täter, ein Motiv – und doch eine Formulierung, die sich anfühlt wie ein Umweg mit Absicht. „Antisemitischer Anschlag“ steht da, geschniegelt und neutralisiert, als hätte man das Etikett bewusst so gewählt, dass es möglichst viele Assoziationen offenlässt und zugleich möglichst wenige Fragen provoziert. Denn „antisemitisch“, das wissen wir alle, ist ein Wort mit eingebautem Autopiloten: Es lenkt das Denken sofort in eine Richtung, die man für vertraut hält. Man denkt an Springerstiefel, an rechte Chatgruppen, an das altbekannte Personal des Ressentiments. Man denkt – und denkt damit genau das, was man denken soll.

Die bequeme Abkürzung des Denkens

„Antisemitismus“ ist längst kein analytischer Begriff mehr, sondern ein kulturelles Reflexwort. Es fällt, und das Publikum nickt, als hätte jemand einen vertrauten Akkord angeschlagen. Das ist bequem. Bequem für Medien, bequem für Politik, bequem für eine Öffentlichkeit, die ohnehin schon erschöpft ist vom ständigen Neusortieren der Welt. Der Begriff funktioniert wie eine Abkürzung, die man nimmt, wenn man keine Lust auf eine längere Strecke hat. Doch Abkürzungen haben den Nachteil, dass sie Landschaften ausblenden. Sie verkürzen nicht nur den Weg, sondern auch die Wahrheit. Und so wird aus einem islamistisch motivierten Angriff – wenn er denn genau das war – eine semantische Nebelkerze, hinter der sich alle möglichen Akteure in Sicherheit bringen können.

Das Phantom des rechten Täters

Warum ist das so? Weil das Bild des rechten Antisemiten perfekt in das moralische Ordnungssystem westlicher Gesellschaften passt. Er ist der Bösewicht, den man kennt, den man bekämpft hat, den man immer wieder erfolgreich heraufbeschwören kann. Er ist gewissermaßen der Antagonist im Fortsetzungsroman der liberalen Selbstvergewisserung. Wenn also „antisemitischer Anschlag“ gesagt wird, ohne weitere Präzisierung, entsteht automatisch ein Phantom: der rechte Täter, der alte Feind, der uns erlaubt, die eigene Gegenwart als Variation der Vergangenheit zu lesen. Das hat etwas Tröstliches. Denn es bedeutet, dass wir nichts wirklich Neues lernen müssen. Alles bleibt vertraut, alles bleibt erklärbar, alles bleibt in den alten Schubladen.

Die Unsichtbarmachung des Unbequemen

Ein islamistischer Anschlag hingegen ist unbequem. Er zwingt zur Differenzierung, zur sprachlichen Präzision, zur Trennung von Islam und Islamismus – und genau diese Trennung ist anstrengend. Sie verlangt mehr als Schlagworte, mehr als moralische Routinen. Sie verlangt, dass man anerkennt, dass antisemitischer Hass nicht nur ein Relikt europäischer Geschichte ist, sondern auch in religiös-fundamentalistischen Ideologien eine zentrale Rolle spielt. Wer das ausspricht, riskiert sofort, missverstanden zu werden – oder absichtlich missverstanden zu werden. Der Vorwurf der „Stigmatisierung“ liegt immer griffbereit, wie ein Feuerlöscher, der bei jeder unliebsamen Analyse reflexhaft eingesetzt wird.

Sprachpolitik als Selbstschutz

Die konsequente Verwendung des Begriffs „antisemitischer Anschlag“ ohne Benennung des islamistischen Hintergrunds ist daher weniger ein Akt der Genauigkeit als einer der Selbstverteidigung. Es ist Sprachpolitik als Schonhaltung. Man will den Antisemitismus benennen, ja – aber bitte so, dass er niemanden in Verlegenheit bringt, der nicht ohnehin schon als Bösewicht markiert ist. Man will Haltung zeigen, ohne Konflikte zu riskieren. Und so entsteht eine paradoxe Situation: Ausgerechnet im Namen der Sensibilität wird die Realität unscharf gemacht. Ausgerechnet im Namen des Schutzes wird verschwiegen, was benannt werden müsste, um wirksam zu schützen.

Satirische Fußnote zur Realität

Man könnte darüber lachen, wenn es nicht so ernst wäre. Man könnte sagen: Willkommen in der Welt, in der Begriffe wichtiger sind als Ursachen und Etiketten mehr zählen als Erkenntnis. In der ein Anschlag nicht mehr das ist, was er war, sondern das, was man aus ihm machen kann, ohne jemanden zu verstören. Es ist eine Welt, in der die Sprache nicht mehr erklärt, sondern beruhigt; nicht mehr aufklärt, sondern einschläfert. Und vielleicht ist genau das der bitter-ironische Kern der Sache: Dass man glaubt, durch sprachliche Umwege moralisch aufrechter zu gehen, während man in Wahrheit nur im Kreis läuft.

Ein Augenzwinkern zum Schluss

Vielleicht sollten wir uns daran erinnern, dass Präzision kein Akt der Feindseligkeit ist, sondern der Aufrichtigkeit. Dass es möglich ist, einen islamistischen Anschlag als solchen zu benennen, ohne Muslime pauschal zu verurteilen. Und dass das Verschweigen von Motiven niemandem hilft – am wenigsten denen, die tatsächlich von antisemitischem Hass bedroht sind. Bis dahin bleibt Bondi Beach ein weiteres Beispiel für jene merkwürdige Moderne, in der man lieber das Symptom benennt als die Krankheit, weil man Angst hat, sich beim Diagnostizieren die Hände schmutzig zu machen. Ein tragisches Schauspiel, das man nur noch mit einem schiefen Lächeln ertragen kann – jenem Lächeln, das weiß, dass Satire manchmal die letzte Form von Klartext ist.

Finis Europae

Prolog im Museum der guten Absichten

Europa steht da wie ein Kurator im eigenen Museum, umgeben von Vitrinen voller hehrer Ziele, ethischer Zertifikate und sauber laminierter Verordnungen, und wundert sich, warum draußen niemand mehr Schlange steht. Man hat alles richtig machen wollen, so richtig, dass es schon wieder falsch war, und nun blickt man mit jener milden Bestürzung auf die Welt, die sonst nur Menschen befällt, die beim Schach verlieren, obwohl sie die Regeln auswendig kennen. Der Telegraph ruft Alarm, doch Europa nickt zustimmend, notiert den Hinweis in dreifacher Ausfertigung und vertagt die Rettung auf den nächsten Gipfel. Der Anteil an der Weltwirtschaft schrumpft wie ein Wollpullover bei falscher Wäsche, während USA und China expandieren, nicht elegant, aber effektiv. Europa hingegen liebt den perfekten Schnitt und friert dabei. Die Pointe ist bitter, aber tröstlich zugleich: Der Niedergang ist nicht schicksalhaft, sondern selbstgemacht, also theoretisch reparabel. Praktisch allerdings fehlt es an Schraubenziehern, weil diese inzwischen als sicherheitsrelevant eingestuft sind.

Energie als moralische Disziplinierungsmaßnahme

Die europäische Energiepolitik gleicht einem spirituellen Exerzitium, in dem Industrie und Bürger gleichermaßen zur inneren Einkehr gezwungen werden, vorzugsweise bei Kerzenlicht. Hohe Preise sind kein Fehler, sondern pädagogisches Instrument, eine Art ökonomischer Rosenkranz, der die Sünden der Vergangenheit abtragen soll. Dass energieintensive Industrien dabei kollabieren wie Marathonläufer ohne Wasser, wird als Kollateralschaden verbucht, denn nichts läutert so sehr wie Verzicht. Der Emissionshandel, dieses hochkomplexe Brettspiel für Fortgeschrittene, belohnt das Nichtstun und bestraft jene, die früh investiert haben, als wäre Innovation eine Charakterschwäche. Fabriken schließen, Produktionsketten wandern ab, und der globale CO₂ Ausstoß steigt paradoxerweise, weil anderswo weniger zimperlich produziert wird. Europa klopft sich dennoch auf die Schulter, denn die eigene Statistik ist sauber, und Sauberkeit war schon immer eine europäische Tugend, auch wenn sie gelegentlich das Zimmer verlässt und den Müll in den Hof des Nachbarn kippt.

Regulierung als Ersatzreligion

Wenn Europa etwas wirklich kann, dann ist es Regeln schreiben, nicht als Mittel zum Zweck, sondern als Zweck an sich. Der Regelungsdschungel ist so dicht, dass selbst erfahrene Pfadfinder darin die Orientierung verlieren, doch das beruhigt, denn Ordnung entsteht nicht durch Wirkung, sondern durch Umfang. Start ups stolpern über Formularberge, bevor sie ihren ersten Kaffee getrunken haben, Investoren lesen Gesetzestexte wie Orakel, aus denen sich alles und nichts herauslesen lässt, und Innovation wird zur Mutprobe für Menschen mit juristischem Doppelstudium. Während anderswo ein Scheitern als Lernprozess gilt, gilt es hier als Verwaltungsproblem, das mit weiteren Regeln gelöst werden muss. So verwaltet Brüssel den Abstieg mit stoischer Gelassenheit, als handle es sich um eine kontrollierte Landung, bei der man nur vergessen hat, ein Flugzeug mitzunehmen.

China subventioniert, Europa sinniert

China spielt das Spiel der Macht mit der Unverfrorenheit eines Profis, der weiß, dass Moral auf dem Weltmarkt eine optionale Erweiterung ist. Massive Subventionen drücken Preise, Marktanteile werden erobert, und ganze Industriezweige wechseln den Kontinent wie Zugvögel mit staatlichem Rückenwind. Europa schaut zu und debattiert, ob Subventionen nicht den Wettbewerb verzerren könnten, während der Wettbewerb längst verzerrt davonläuft. In der Solarindustrie und im Automobilbau ist der Befund unerquicklich, aber lehrreich: Wer strategisch denkt, gewinnt Zeit, wer normativ denkt, verliert Märkte. Europa entscheidet sich traditionell für das Gute und wundert sich, warum das Gute keine Rendite abwirft. Satirisch betrachtet ist das immerhin konsequent, tragisch betrachtet aber ruinös.

Zukunftstechnologien und die Angst vor dem Morgen

In Pharma, Internet, Künstlicher Intelligenz und anderen Zauberwörtern der Gegenwart ist Europa vor allem eines: vorsichtig. Forschung wird gefördert, solange sie niemanden stört, Risikokapital fließt tröpfchenweise, als handele es sich um homöopathische Dosen, und jede neue Idee muss erst beweisen, dass sie niemandem schadet, bevor sie jemandem nützt. Die USA investieren, China kopiert und skaliert, Europa evaluiert. Man hat hervorragende Universitäten, kluge Köpfe und brillante Konzepte, doch sie verhungern an der langen Leine der Genehmigungen. Innovation wird hierzulande behandelt wie ein exotisches Haustier, das man bewundert, aber lieber nicht frei laufen lässt.

Die Verwaltung des Untergangs als Meisterdisziplin

Der vielleicht zynischste Befund ist nicht der Niedergang selbst, sondern seine bürokratische Eleganz. Brüssel dokumentiert, moderiert, reguliert und harmonisiert den Abstieg mit einer Professionalität, die fast schon Bewunderung verdient. Man erstellt Berichte über Berichte, während die Realität ungerührt weiterzieht. Der Telegraph spricht von einem Wendepunkt, doch Europa liebt Kreisverkehre, weil sie niemanden zwingen, eine Richtung zu wählen. Reformen sind möglich, heißt es, aber erst nach der nächsten Krise, die dann hoffentlich so schwer ist, dass sie niemand mehr ignorieren kann. Bis dahin bleibt der Kontinent in jenem Zustand melancholischer Selbstzufriedenheit, in dem man weiß, dass etwas schief läuft, aber überzeugt ist, moralisch im Recht zu sein.

Epilog mit ironischem Hoffnungsschimmer

Vielleicht braucht Europa tatsächlich die große Erschütterung, den Moment, in dem die Vitrinen klirren und die wohlgeordneten Exponate der guten Absichten auf dem Boden liegen. Vielleicht erkennt man dann, dass Wohlstand keine Selbstverständlichkeit ist und Moral ohne Macht nur eine Fußnote der Geschichte bleibt. Bis dahin bleibt uns der zynische Trost, dass der Untergang wenigstens stilvoll inszeniert ist, mit langen Gipfeln, langen Papieren und noch längeren Absätzen. finis europae klingt endgültig, ist aber vielleicht nur eine Zwischenüberschrift, h4 gewissermaßen, unter der sich die Hoffnung versteckt, dass Europa eines Tages wieder lernt, nicht nur recht zu haben, sondern auch erfolgreich zu sein.

Unsicher, ob nicht doch ein Antisemit sind?

Machen Sie doch den 3-D-Test nach Scharanski

Es gibt Selbsttests für alles: Burn-out, Laktoseintoleranz, Bindungsangst, Narzissmus, die eigene CO₂-Schuld. Warum also nicht auch einen für das moralische Unbehagen, das sich einstellt, wenn man merkt, dass die eigene Israelkritik mit einer gewissen Regelmäßigkeit dort landet, wo der Kompass nicht nur spinnt, sondern sich genüsslich im Kreis dreht? Der 3-D-Test nach Natan Scharanski ist so etwas wie ein Atemalkoholtest für politische Erregung: Er ist unerquicklich, er riecht streng nach Realität, und er ist besonders unbeliebt bei jenen, die fest davon überzeugt sind, vollkommen nüchtern zu sein. Dämonisierung, Doppelstandards, Delegitimierung – drei Buchstaben, drei Spiegel. Man muss nicht hineinschauen. Aber wer hineinschaut und danach behauptet, es sei nichts zu sehen gewesen, hat entweder die Augen geschlossen oder den Spiegel für einen Angriff gehalten.

Dämonisierung

Beginnen wir mit der Dämonisierung, diesem alten Klassiker, der so zuverlässig wiederkehrt wie der Weihnachtsschmuck im September. Früher war es der Gottesmord, später der Brunnen, dann das Geld, immer wieder das Hinterhältige, das Unheimliche, das angeblich Überlegene und zugleich Verderbte. Shylock war keine literarische Figur, sondern ein gesellschaftlicher Seismograf: Er zeigte an, wo es bebte. Heute trägt der Dämon ein modernes Kostüm, er spricht NGO-Englisch und twittert in Echtzeit. Israel ist dann nicht einfach ein Staat unter vielen, der Fehler macht, Kriege führt, schmutzige Kompromisse schließt und in tragische Verstrickungen gerät, sondern das metaphysische Böse selbst, der Endgegner der Moralgeschichte. Auschwitz wird zur Metapher für alles, was man verurteilen möchte, das Warschauer Ghetto zur Requisite für jede Grenzkontrolle, und Gaza – komplex, elend, politisch missbraucht, real leidend – zur universellen Chiffre für die eigene Empörung. Wer Israelis mit Nationalsozialisten vergleicht, verrät dabei weniger über Israel als über das eigene Geschichtsverständnis, das offenbar glaubt, das singuläre Verbrechen des industrialisierten Massenmords eigne sich hervorragend als rhetorischer Schraubenzieher für jede beliebige moralische Reparatur. Die Pointe ist zynisch und unerquicklich: Ausgerechnet im Namen der Erinnerung wird die Erinnerung entleert. Wenn dann noch Sätze fallen wie „Israel ist ein Terrorregime“ oder man das Land gleich ganz zum „Satan“ erklärt, ist der Schritt von der politischen Kritik zur metaphysischen Verdammung vollzogen. Der Jude als Teufel, diesmal mit Start-up-Kultur und Luftabwehrsystem – die Folklore ändert sich, das Motiv bleibt.

Doppelstandards

Der zweite D ist der bequemste, weil er sich so elegant tarnen lässt: Doppelstandards. Man kann sie tragen wie ein unscheinbares Sakko, das nur bei genauem Hinsehen verrät, dass die Innentaschen ausschließlich für einen einzigen Staat genäht wurden. Natürlich darf man Israel kritisieren. Man darf es laut, scharf, detailliert, ja sogar ungerecht tun. Aber wenn ausgerechnet Israel zur einzigen Bühne wird, auf der die Welt ihre moralische Oper aufführt, während anderswo das Orchester schweigt, dann lohnt ein zweiter Blick. UNO-Resolutionen, die sich mit der Präzision eines Laserstrahls auf Jerusalem richten, während Peking, Teheran, Damaskus oder Havanna im diplomatischen Halbschatten verschwinden, sind keine Naturgesetze, sondern politische Entscheidungen. Wer israelische Militärschläge mit moralischer Inbrunst verdammt, aber den Raketenbeschuss auf israelische Städte nur als Fußnote behandelt, betreibt keine ausgewogene Kritik, sondern selektive Empörung. Und wer den Umgang Israels mit Palästinensern seziert, während er die systematische Unterdrückung von Juden, Dissidenten oder Homosexuellen in der Region achselzuckend hinnimmt, hat den Universalismus der Menschenrechte in einen regional begrenzten Sondertarif umgewandelt. Das Argument, Israel müsse sich als Demokratie höheren Maßstäben stellen, klingt edel, wirkt aber schief, wenn diese Maßstäbe ausschließlich dazu dienen, einen einzigen Akteur zu züchtigen, während die übrigen mit moralischem Rabatt durchgewunken werden. Der alte Reflex kehrt zurück: Gleichheit vor dem Gesetz – aber bitte nicht für die Juden.

Delegitimierung

Am schwersten wiegt das dritte D, weil es den Boden selbst unter den Füßen wegzieht: die Delegitimierung. Hier geht es nicht mehr um dieses oder jenes Gesetz, diese oder jene Regierung, diesen oder jenen Krieg, sondern um die Frage, ob Israel überhaupt sein darf. Der Staat wird zum historischen Irrtum erklärt, zum kolonialen Überbleibsel, zur Anomalie, die man rückabwickeln müsse, selbstverständlich im Namen der Gerechtigkeit. Dass andere Staaten mit ähnlich blutigen, künstlichen oder kolonialen Entstehungsgeschichten unbehelligt weiterexistieren, stört dabei wenig; Konsequenz ist etwas für Buchhalter. Juden, so die implizite Botschaft, sind das einzige Volk, dem man das Recht auf kollektive Selbstverteidigung, auf politische Souveränität und auf einen Schutzraum verweigern kann, ohne rot zu werden. Antizionismus nennt man das dann, als wäre es eine harmlose Geschmacksfrage wie die Abneigung gegen Koriander. Dass sich in dieser Haltung die alte Entwertung des Judentums fortsetzt – nun nicht mehr als Religion, sondern als Volk – wird mit semantischem Feingefühl überdeckt. Geschichtsklitterung hilft dabei ebenso wie Verschwörungstheorien über die Staatsgründung, die den Juden wahlweise als allmächtige Strippenzieher oder als illegitime Eindringlinge erscheinen lassen. Wer Israel das Recht auf Selbstverteidigung abspricht, während er es jedem anderen Staat zugesteht, fordert implizit, dass Juden schutzlos zu sein haben – eine Forderung, die historisch betrachtet eine bemerkenswerte Kontinuität besitzt.

Schlussbemerkung mit Augenzwinkern

Der 3-D-Test ist kein Gesinnungs-TÜV, er ersetzt weder Denken noch Empathie. Er ist ein Warnsignal, kein Urteilsspruch. Wer bei einem der Ds zusammenzuckt, ist nicht automatisch Antisemit, aber vielleicht auf dem besten Weg, alte Muster in neuer Verpackung zu reproduzieren. Satire hilft, den Ernst zu ertragen, aber sie entbindet nicht von Verantwortung. Am Ende ist der Test weniger eine Prüfung Israels als eine der eigenen intellektuellen Redlichkeit. Wer ihn besteht, darf Israel weiterhin kritisieren – vielleicht sogar besser. Wer ihn nicht besteht, kann sich trösten: Einsicht ist der erste Schritt. Und Spiegel, so viel Zynismus sei erlaubt, sind geduldige Gegenstände. Sie laufen nicht weg.

Liebe Schüler

Man beginnt ein Essay mit einer Anrede, wenn man den pädagogischen Ton gleich zu Beginn ein wenig überziehen möchte, so wie man früher die Butter dicker aufs Brot strich, wenn der Besuch aus der Stadt kam. Liebe Schüler also, ihr zukünftigen Träger der demokratischen Fackel, ihr noch ungeimpften Gehirne, ihr Rohdiamanten der Urteilskraft. Setzt euch bequem hin, klappt die Laptops auf, schaltet die Neugier bitte auf Standby und lauscht der frohen Botschaft aus der pädagogisch-administrativen Mittelzone Europas: Kritik ist gefährlich, Zweifel verdächtig, Ironie toxisch, und wer lacht, lacht womöglich schon falsch. Es ist die neue Form der politischen Bildung, serviert nicht mehr als trockene Staatsbürgerkunde, sondern als bunt illustrierte Warnhinweissammlung, mit Emojis, Checklisten und der tröstlichen Gewissheit, dass Denken endlich wieder delegierbar ist.

Die didaktische Erfindung des Verdachts

Die von der EU geförderte Initiative „Klicksafe“ – ein Name wie ein Versprechen aus der Welt der Kindersicherungen und Kantenschutzpolster – tritt an, euch vor den Gefahren des Netzes zu bewahren, was in etwa so klingt, als wolle man Jugendliche vor der Existenz von Straßen schützen, indem man ihnen das Gehen verbietet. 7,6 Millionen Euro wurden investiert, damit ausgerechnet Schulen zu Trainingslagern der semantischen Gefahrenabwehr werden. Der Feind ist nicht mehr das Argument, sondern der Tonfall; nicht mehr die Lüge, sondern das Misstrauen; nicht mehr der Extremismus, sondern die Frage. Die große pädagogische Innovation besteht darin, eine politische Haltung nicht mehr an Taten, Programmen oder Gewaltbereitschaft zu messen, sondern an der Unart, die Regierung „infrage zu stellen“. Ein Ausdruck, der klingt wie ein schlecht gelaunter Oberkellner: „Das steht hier nicht zur Debatte.“

Wenn Zweifel zum Delikt wird

Was früher der Kern demokratischer Tugend war – Skepsis gegenüber Macht, Misstrauen gegenüber offizieller Verlautbarung, die Lust am Widerspruch –, wird nun im Klassenzimmer zum Frühwarnsignal. Wer Journalistinnen und Journalisten nicht glaubt, gilt nicht mehr als kritisch, sondern als kontaminiert. Wer eine Außenministerin verspottet, nicht als Satiriker, sondern als Codeknacker des Rechtsextremismus. Dass Spott traditionell eine der ältesten Formen politischer Auseinandersetzung ist, wird dabei so diskret übergangen wie der Umstand, dass Demokratie ohne die Möglichkeit der Lächerlichmachung rasch zur sakralen Veranstaltung verkommt. Die Regierung infrage zu stellen – welch ungeheuerlicher Akt! Man möchte fast meinen, es handle sich um Majestätsbeleidigung in Jogginghosen.

Die Checkliste als Weltanschauung

Besonders reizvoll ist die Idee, politische Gesinnung anhand von Checklisten zu erkennen, als sei Extremismus eine Pilzart, die man an Lamellen und Geruch identifiziert. Hat jemand „Blau trendet!!!“ geschrieben? Achtung. Hat jemand Umfragewerte gepostet? Alarm. Hat jemand der Tagesschau eine Täter-Opfer-Umkehr vorgeworfen? Sofortige Quarantäne. Die subtile Botschaft lautet: Es gibt erlaubte Kritik und verbotene Kritik, aber die Grenze verläuft nicht entlang der Argumente, sondern entlang der institutionellen Befindlichkeit. Kritik an der Presse ist nur dann legitim, wenn sie folgenlos bleibt, am besten in einem Seminarraum, der schlecht gelüftet ist und keine Außenwirkung entfaltet. Öffentlich geäußert wird sie zur „Delegitimierung“, ein Wort, das klingt, als habe es ein Jurist mit Angststörung erfunden.

Emojis, die neuen Gesinnungsabzeichen

Dass nun auch Emojis in den Verdachtsraum einbezogen werden, ist die logische Vollendung dieser Pädagogik. Das Schaf, jahrhundertelang ein Symbol für Sanftmut oder Opferbereitschaft, wird zur Chiffre des Rechtsextremen, weil es an das böse Wort „Schlafschaf“ erinnert. Der Clown, einst Figur des Narren, der dem König die Wahrheit sagen durfte, steht plötzlich für unzulässige Regierungskritik. Man muss sich das auf der Zunge zergehen lassen: Der Clown ist gefährlich, weil er lacht. Humor wird zum Risiko, Ironie zum Einstieg in den Abgrund. Vielleicht ist das konsequent in einer Zeit, in der Ernsthaftigkeit mit Moral verwechselt wird und Humor nur noch als genehmigtes Kabarett im Spätprogramm vorkommen darf.

Die heilige Dreifaltigkeit der Institutionen

„Delegitimierung demokratischer Institutionen“ – das klingt gewaltig, fast sakral. Regierung, Presse, Ordnung: ein moderner Katechismus. Wer Begriffe wie „Lügenpresse“ oder „Staatsfunk“ verwendet, so heißt es, untergräbt das Vertrauen in die Medien. Das mag stimmen, doch was unterschlagen wird, ist die banale Erkenntnis, dass Vertrauen kein pädagogisches Lernziel ist, sondern das Resultat von Erfahrung. Man kann Vertrauen nicht befehlen, man kann es nur verlieren oder verdienen. Der Versuch, Schülern beizubringen, dass Zweifel per se verdächtig sei, erzeugt keine mündigen Bürger, sondern gut dressierte Konsumenten offizieller Wirklichkeit. Die „alternative Medien“, vor denen gewarnt wird, sind dabei weniger das Problem als das Symptom einer Öffentlichkeit, die den Unterschied zwischen Kritik und Feindschaft nicht mehr aushält.

Satire als letzte Bastion

Und so bleibt am Ende nur die Satire, dieses augenzwinkernde Rettungsboot im Ozean der moralischen Gewissheiten. Sie erlaubt es, die Absurdität zu benennen, ohne gleich eine Checkliste auszufüllen. Sie zeigt, dass eine Demokratie, die Angst vor Clown-Emojis hat, vielleicht weniger unter Rechtsextremismus leidet als unter Humorlosigkeit. Liebe Schüler, wenn ihr eines mitnehmen wollt aus dieser digitalen Schulstunde des Lebens, dann vielleicht dies: Extremismus beginnt nicht dort, wo jemand lacht, zweifelt oder fragt, sondern dort, wo diese Tätigkeiten verboten oder verdächtig werden. Und wenn euch das jemand als gefährlich verkauft, dann setzt ruhig ein Clown-Emoji darunter – ganz unschuldig, versteht sich.

Crime Ländle oder Die Kunst, im Kreis zu laufen

Es gibt Regionen, die sich mit kulinarischen Spezialitäten schmücken, andere mit landschaftlicher Erhabenheit, wieder andere mit wirtschaftlicher Dynamik. Vorarlberg, so scheint es, arbeitet leise, aber konsequent an einem ganz eigenen Alleinstellungsmerkmal: der statistisch belegten Wiederkehr des Immergleichen. 1.823 Schuldsprüche im vergangenen Jahr – elf Prozent mehr als zuvor – sind zunächst bloß eine Zahl, ein trockenes Artefakt aus der Welt der Justizverwaltung. Doch Zahlen sind tückisch. Sie liegen da wie scheinbar harmlose Kieselsteine, über die man stolpert, wenn man sie ignoriert. Während Österreich insgesamt brav dem längerfristigen Trend sinkender Verurteilungen folgt, stemmt sich das Ländle dagegen wie ein trotziges Kind gegen den Mittagsschlaf. Weniger interessiert an der Frage, ob man überhaupt straffällig wird, sondern eher daran, wie oft und wie schnell man es wieder tut.

Der Rekord, den niemand wollte

Denn was Vorarlberg wirklich auszeichnet, ist nicht die bloße Menge an Schuldsprüchen, sondern ihre erstaunliche Zirkularität. Rund 37 Prozent Rückfallquote – österreichweiter Spitzenwert. Ein Rekord, der weder mit Pokal noch mit Applaus gefeiert wird, sondern mit Stirnrunzeln und der vagen Hoffnung, dass es sich bloß um ein statistisches Missverständnis handelt. Doch Zahlen sind gnadenlos ehrlich, selbst wenn sie schamlos sind. Fast vier von zehn Verurteilten kehren zurück vor den Richter, als hätten sie einen Stempel im Pass: „Bis bald.“ Besonders beeindruckend ist dabei die Geschwindigkeit dieser Rückkehr. Kaum hat sich die erste Verurteilung im Strafregister gesetzt, ist man schon wieder da. Ein, zwei Jahre – das ist weniger Resozialisierung als juristisches Intermezzo. Es wirkt, als sei das Strafsystem weniger eine Zäsur als eine kurze Werbepause im Programmablauf eines Lebens, das ansonsten unbeirrt seinen alten Mustern folgt.

Resozialisierung als regionales Missverständnis

Natürlich könnte man nun wohlmeinend fragen, ob es an mangelnden Angeboten zur Resozialisierung liegt, an sozialen Umständen, an ökonomischen Zwängen oder an einer Justiz, die zwar urteilt, aber danach höflich wegschaut. Doch das wäre zu einfach, zu rational, zu wenig satirisch. Vielleicht liegt das Problem tiefer, kultureller. Vielleicht ist die Rückkehr zur Kriminalität im Ländle weniger Scheitern als Gewohnheit, weniger Ausrutscher als Ritual. Man kennt einander ja. Das Landesgericht Feldkirch wird zur Bühne eines tragikomischen Repertoires, in dem dieselben Darsteller immer wieder auftreten, nur mit leicht variierten Rollen. Resozialisierung erscheint dabei wie ein Fremdwort aus einem anderen Dialekt, höflich zur Kenntnis genommen, aber emotional nicht wirklich verstanden.

Wenn die Fäuste wieder sprechen

Besonders aufschlussreich ist der Blick auf die Deliktarten. Körperverletzungen nehmen wieder zu, als hätten sie bloß eine kurze Pause eingelegt, um Luft zu holen. Die Fäuste feiern ein Comeback, als wären sie nie wirklich aus der Mode gekommen. Nach Jahren des Rückgangs meldet sich das archaische Bedürfnis nach physischer Konfliktlösung zurück – bodenständig, direkt, ehrlich. Sexualdelikte hingegen verharren auf konstantem Niveau, was in der nüchternen Sprache der Statistik beinahe wie Stabilität klingt, in der Realität aber alles andere als beruhigend ist. Sieben Verurteilungen wegen Vergewaltigung, neun wegen Missbrauchs Unmündiger – Zahlen, die sich jeder Ironie entziehen und dennoch Teil derselben nüchternen Aufzählung werden. Auch das ist eine Eigenart moderner Statistik: Sie nivelliert moralische Abgründe zu vergleichbaren Datensätzen.

Der nationale Kontext oder Warum der Bund leise seufzt

Österreich insgesamt gibt sich vergleichsweise gelassen. 27.717 rechtskräftige Verurteilungen im Jahr 2024 – leicht mehr als im Vorjahr, aber deutlich weniger als vor der Pandemie. Langfristig betrachtet sogar ein Erfolg: Seit 2001 ist die Zahl der Verurteilten um fast ein Drittel gesunken, während die Bevölkerung munter gewachsen ist. Man könnte das als Beweis für zivilisatorischen Fortschritt lesen, als Triumph von Prävention, Bildung und sozialem Ausgleich. Und dann ist da Vorarlberg, das diese Erzählung mit stoischer Konsequenz unterläuft. Nicht aus Bosheit, sondern aus Beharrlichkeit. Als wolle man sagen: Ihr da draußen mögt euch entwickeln, wir bleiben uns treu.

Eigentum, Körper, Gewohnheit

Die Deliktstruktur fügt sich nahtlos in dieses Bild. Straftaten gegen fremdes Vermögen dominieren, angeführt vom guten alten Diebstahl – jenem Delikt, das so banal ist, dass es fast schon nostalgisch wirkt. Dahinter folgen Straftaten gegen Leib und Leben, wobei Körperverletzungen den Löwenanteil ausmachen. Es ist eine Kriminalität ohne große Raffinesse, ohne spektakuläre Innovation. Keine ausgeklügelten Cyberverbrechen, keine internationalen Finanzkonstrukte, sondern Handfestes, Greifbares, Überschaubares. Auch hier zeigt sich eine gewisse Bodenständigkeit, die man fast sympathisch finden könnte, wäre sie nicht so unerquicklich.

Schlussbemerkung mit schiefem Lächeln

Am Ende bleibt der Eindruck eines Landes, das weniger an der Entstehung von Kriminalität interessiert ist als an ihrer erstaunlichen Persistenz. Vorarlberg erscheint wie ein sozialer Kreislaufbetrieb, in dem Straftaten recycelt werden, effizient und nachhaltig. Das ist polemisch, gewiss, und ungerecht obendrein – aber Satire lebt von der Überzeichnung. Vielleicht liegt die Wahrheit irgendwo zwischen Statistik und Stammtisch, zwischen Strukturproblem und individueller Verantwortung. Sicher ist nur: Das Crime Ländle hat sich seinen Platz in der österreichischen Justizlandschaft redlich erarbeitet. Und während der Bund stolz auf sinkende Zahlen blickt, dreht sich im Westen das Karussell weiter – mit einem Augenzwinkern, einem Achselzucken und dem leisen Verdacht, dass man sich hier längst an den Kreis gewöhnt hat.

Der ungeliebte Spiegel aus Übersee

Donald Trump ist für Europa so etwas wie ein schlecht gelaunter Onkel auf der Familienfeier: Man weiß, er wird irgendwann etwas Unangenehmes sagen, man hofft trotzdem, er möge dieses Mal bitte einfach nur schweigend Kartoffelsalat essen, und wenn er dann doch lospoltert, ist das Entsetzen groß, die Empörung noch größer und die nachträgliche Selbstvergewisserung, dass man selbst moralisch, intellektuell und zivilisatorisch selbstverständlich auf der richtigen Seite der Geschichte steht, rettet den Abend. Die europäischen Medien haben diese Rolle längst perfektioniert. Trump ist dort wahlweise Möchtegerndiktator, geistiger Tiefflieger oder gieriger Geschäftemacher mit schlecht sitzender Krawatte. Dass er für Europa mehr Teil des Problems als der Lösung sei, gilt als ausgemachte Sache, fast schon als Naturgesetz, etwa so unumstößlich wie die Tatsache, dass man in Brüssel grundsätzlich mehr Verordnungen liebt als klare Sätze. Und doch ist da dieses leise Unbehagen: Was, wenn der Mann mit der groben Wortwahl und dem diplomatischen Feinsinn eines Presslufthammers nicht nur Unsinn redet, sondern Dinge ausspricht, die man hierzulande lieber unter dicken Teppichen aus Betroffenheitsrhetorik und Selbstbetrug verschwinden lässt?

Stilfragen und Substanzfragen

Natürlich gibt es an Trump reichlich zu kritisieren. Sein Politikstil ist brachial, seine Sprache oft infantil, seine Lust an der Provokation pathologisch. Er sagt Dinge, die man so nicht sagen sollte, und er sagt sie genau deshalb. Diplomatie ist für ihn kein Instrument, sondern ein Hindernis. Aber Europas Lieblingsfehler besteht darin, Stilfragen mit Substanzfragen zu verwechseln. Weil der Ton nicht gefällt, erklärt man den Inhalt für irrelevant. Weil der Absender unsympathisch ist, verweigert man die Annahme der Nachricht. Das ist bequem, emotional befriedigend und politisch folgenlos – jedenfalls für die, die sich an diese Verweigerungshaltung gewöhnt haben. Denn Trump hält Europa einen Spiegel vor, und dieser Spiegel zeigt kein heroisches Gemälde eines aufgeklärten, dynamischen, zukunftssicheren Kontinents, sondern eher ein etwas verblasstes Passfoto eines Gemeinwesens, das sich in Bürokratie, Selbstzweifel und moralischer Selbstüberschätzung verheddert hat.

Nein, der Bote ist nicht schuld

Es gehört zu den ältesten menschlichen Reflexen, den Überbringer schlechter Nachrichten zu hassen. Schon in der Antike war das keine besonders gute Idee, und es ist heute nicht klüger geworden. Als Trump in einer neuen sicherheitspolitischen Standortbestimmung der USA auch Europa ins Visier nahm, war das Geschrei groß. Man empörte sich über den Ton, über die Arroganz, über die angebliche Einmischung in innere Angelegenheiten. Was man auffällig selten tat: die vorgebrachten Punkte sachlich zu widerlegen. Dass der wirtschaftliche Anteil Europas an der Welt schrumpft, ist keine bösartige Erfindung eines amerikanischen Präsidenten, sondern eine nüchterne statistische Tatsache. Dass Überregulierung, ein hypertropher Verwaltungsapparat und ein tief sitzendes Misstrauen gegenüber unternehmerischem Risiko ihren Anteil daran haben, wird hinter vorgehaltener Hand sogar in Brüssel eingeräumt – solange bitte kein Mikrofon eingeschaltet ist. Und dass Europas sicherheitspolitische Abhängigkeit von den USA seit Jahrzehnten größer wird, während man sich gleichzeitig moralisch überlegen fühlt, ist ein Widerspruch, der nur deshalb so selten thematisiert wird, weil er so unerquicklich ist.

Ein Kontinent ist falsch abgebogen

Europa liebt es, seine Probleme als schicksalhafte Entwicklungen zu beschreiben: Globalisierung, Demografie, technologische Umbrüche – alles Dinge, die „passieren“, gegen die man kaum etwas tun könne. Diese Haltung ist nicht nur falsch, sie ist gefährlich. Wenn die Wirtschaftsleistung der USA heute deutlich stärker wächst als jene der Europäischen Union, dann liegt das nicht an einem göttlichen Plan, sondern an politischen Entscheidungen. An einer Regulierungswut, die Innovation nicht lenkt, sondern erstickt. An einem Green Deal, der mehr moralische Selbstvergewisserung als industriepolitische Strategie ist. An einem Steuer- und Abgabensystem, das Leistung misstrauisch beäugt und Mittelmäßigkeit mit Förderanträgen belohnt. In den Zukunftstechnologien, die über Wohlstand und Souveränität entscheiden werden, spielt Europa bestenfalls zweite Geige – oft nicht einmal das. Raumfahrt, künstliche Intelligenz, digitale Plattformen: Hier dominieren andere. Europas unangefochtener Exportschlager ist derzeit vor allem eines: der erhobene Zeigefinger.

Migration, Identität und die große Verdrängung

Besonders hysterisch reagiert Europa, wenn Trump die Migrationspolitik anspricht. Das liegt weniger an der Unsachlichkeit der Kritik als an der Tiefe der Wunde. Jahrzehntelang hat man Migration moralisiert, romantisiert und entpolitisiert, bis jede nüchterne Debatte als unmenschlich galt. Die Folgen sind sichtbar, gerade in der Weihnachtszeit, die einst als Inbegriff europäischer Kultur galt und heute vielerorts von Betonpollern, bewaffneter Polizei und einem latenten Gefühl der Bedrohung geprägt ist. Antisemitische Demonstrationen, israelfeindliche Parolen, Anschlagspläne – all das ist nicht „bunt“, nicht „vielfältig“ und schon gar nicht Ausdruck einer selbstbewussten europäischen Zivilisation. Wenn Trump hier von zivilisatorischer Erosion spricht, mag das zugespitzt sein. Aber Zuspitzung ist kein Synonym für Unwahrheit. Sie ist oft nur eine Form, Dinge zu benennen, die andere nicht mehr auszusprechen wagen.

Der Kontinent der Heulsusen

Besonders unerquicklich wird es, wenn Europa auf Kritik reagiert. Dann verwandelt sich der Kontinent gern in ein trotziges Kind, das empört ruft, man möge sich gefälligst nicht einmischen. Souveränität wird dann beschworen wie ein Zauberspruch, der allerdings nur noch in Sonntagsreden wirkt. Gleichzeitig erwartet man von den USA Sicherheitsgarantien, militärische Präsenz und politische Rückendeckung. Diese Mischung aus Anspruchsdenken und Empfindlichkeit ist unerquicklich, aber symptomatisch. Umso wohltuender ist es, wenn gelegentlich jemand den Mut hat, das Kind beim Namen zu nennen. Die Bezeichnung „Kontinent der Heulsusen“ mag hart sein, sie trifft aber einen Nerv. Jammern über amerikanische Zumutungen ist einfacher, als die eigenen Versäumnisse zu korrigieren. Empörung kostet nichts, Reformen schon.

Ein Spiegel, den man nicht zerschlagen sollte

Was also tun mit Donald Trump? Ihn weiter karikieren, verdammen und moralisch abkanzeln, das ginge natürlich. Es hat nur den kleinen Nachteil, dass es nichts ändert. Oder man könnte, bei aller berechtigten Kritik an Stil und Person, den unbequemen Kern seiner Botschaften ernst nehmen. Dass Europa wieder europäisch werden soll, sein zivilisatorisches Selbstvertrauen zurückgewinnen und sich von der Illusion verabschieden müsse, man könne sich zu Tode regulieren und dabei gedeihen – was ist daran eigentlich falsch? Vielleicht ist der größte Skandal nicht, dass Trump diese Dinge ausspricht, sondern dass sie in Europa selbst so selten mit Konsequenz diskutiert werden. Ein guter Vorsatz für die kommenden Jahre wäre daher nicht, den Spiegel zu zerschlagen, sondern einen zweiten Blick hineinzuwerfen. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt – aber sie stirbt schneller, wenn man sie mit Empörung und Selbstzufriedenheit erstickt.

Die moralische Einkaufstüte

Plastikverbote haben etwas Beruhigendes. Sie sind wie diese schlichten Holzperlenketten aus dem Weltladen: Man legt sie sich um, fühlt sich sofort besser und muss nichts weiter erklären. Auf dem Papier – diesem heroisch unterschätzten Rohstoff aus gefällten Bäumen – klingen sie nach Erlösung. Endlich etwas Konkretes, Endlich etwas Verbotenes, Endlich ein klares Gut und ein ebenso klares Böse. Plastik ist das neue Rauchen: unästhetisch, ungesund, gesellschaftlich geächtet. Wer noch eine Plastiktüte benutzt, steht moralisch irgendwo zwischen Dieselfahrer und Kohlekraftwerksbetreiber. Dass diese Plastiktüte in vielen Fällen ökologisch sinnvoller ist als ihre papierenen, hölzernen oder baumwollenen Ersatzreligionen, stört die Dramaturgie. Und Dramaturgie ist im Umweltdebattenbetrieb wichtiger als Physik, Chemie oder Mathematik.

Denn Verbote funktionieren kommunikativ hervorragend. Sie sind einfach, fotogen und laden zu moralischer Selbstüberhöhung ein. Wer etwas verbietet, muss nichts erklären, sondern nur Haltung zeigen. Wer etwas benutzt, muss sich rechtfertigen. Plastik ist dabei der perfekte Sündenbock: sichtbar, greifbar, emotional aufgeladen. Dass der eigentliche ökologische Schaden oft weniger vom Material als von Menge, Nutzung und Entsorgung abhängt, ist eine Fußnote – und Fußnoten haben noch nie einen Applaus auf einer Klimakonferenz ausgelöst.

COP30 und das große Wiederholungsritual

Auf der COP30 – wie schon auf der COP29, COP28 und allen COPs davor – wird man wieder hören, was man immer hört. Plastik verbieten. Unternehmen stärker regulieren. Kosten erhöhen. Am besten alles gleichzeitig, möglichst schnell und unter Applaus. Die Rhetorik ist ritualisiert, fast liturgisch. Plastik wird beschworen wie ein Dämon, den man nur laut genug exorzieren muss, damit er verschwindet. Differenzierung gilt als Schwäche, Skepsis als Verrat, Zahlen als neoliberale Ablenkung. Wer fragt, ob ein Verbot wirklich zu weniger Umweltbelastung führt oder nur zu teureren, schwereren und ressourcenintensiveren Alternativen, hat den Geist der Konferenz offenbar nicht verstanden.

Unternehmen werden dabei gerne als gierige Materialisten dargestellt, die nur aus Bosheit Plastik einsetzen. Die banale Wahrheit – dass Plastik oft genutzt wird, weil es leicht, langlebig, hygienisch und energieeffizient herzustellen ist – passt nicht ins Narrativ. Es ist einfach unerquicklich, wenn das Böse plötzlich praktische Vorteile hat. Also tut man so, als ließe sich die Welt retten, indem man Materialien austauscht wie Requisiten in einem Theaterstück. Plastik raus, Papier rein, Applaus, nächste Agenda-Punkt.

Papier, Holz und Baumwolle: Die heiligen Kühe aus Zellulose

Papier klingt natürlich. Holz klingt warm. Baumwolle klingt weich und unschuldig. Alles daran suggeriert Reinheit, Waldluft und moralische Überlegenheit. Leider sind diese Materialien ökologisch so harmlos wie ein SUV mit Bambusverkleidung. Papier benötigt enorme Mengen Wasser, Energie und Chemikalien, wird schwer transportiert und reißt gern genau dann, wenn man es nicht gebrauchen kann. Holz wächst langsam, beansprucht Fläche und wird – Überraschung – ebenfalls gefällt. Baumwolle ist ein ökologischer Albtraum mit PR-Agentur: wasserintensiv, pestizidlastig und in vielen Regionen mit massiven sozialen Problemen verbunden.

Trotzdem gelten diese Materialien als „gut“, weil sie vertraut sind und sich gut anfühlen. Niemand empört sich über abgeholzte Wälder für Einwegverpackungen, solange diese sich „plastikfrei“ nennen dürfen. Niemand rechnet nach, wie oft eine Baumwolltasche benutzt werden müsste, um ihre ökologische Schuld abzutragen – Spoiler: sehr oft. Aber rechnen ist unerquicklich. Rechnen zerstört die Illusion, dass man durch Materialfetischismus die Welt rettet.

Der Preis der guten Absicht

Natürlich kostet das alles Geld. Papier-, Holz- und Baumwollalternativen sind nicht nur ökologisch oft schlechter, sondern auch teurer – zwei-, drei-, manchmal siebenmal so teuer. Diese Kosten verschwinden nicht im moralischen Nirwana, sondern landen dort, wo sie immer landen: beim Verbraucher. Der zahlt mehr für Produkte, die schneller kaputtgehen, schwerer sind und öfter ersetzt werden müssen. Fortschritt fühlt sich dann an wie Rückschritt mit Aufpreis. Aber immerhin kann man sich beim Bezahlen innerlich auf die Schulter klopfen: Man hat ja etwas Gutes getan.

Diese Verteuerung trifft natürlich alle, aber besonders jene, die sich ökologische Symbolpolitik am wenigsten leisten können. Nachhaltigkeit wird so zur Lifestyle-Option für Gutverdiener, während der Rest lernt, dass Moral offenbar eine Frage des Kontostands ist. Doch auch das wird selten thematisiert, denn soziale Gerechtigkeit endet oft dort, wo sie unbequem wird – oder wo sie die Erzählung stört, dass Verbote automatisch Fortschritt bedeuten.

Die satirische Pointe der Nachhaltigkeit

Am Ende ist das Plastikverbot ein wunderbar ironisches Projekt. Man ersetzt ein effizientes, leichtes und vielseitiges Material durch schwerere, ressourcenintensivere Alternativen, erklärt dies zum Sieg über die Umweltzerstörung und wundert sich später, warum Emissionen, Kosten und Frustration steigen. Man verbietet, reguliert und verteuert – und nennt das Verantwortung. Die Realität antwortet mit höheren Preisen, schlechterer Qualität und dem leisen, aber hartnäckigen Gefühl, dass hier etwas nicht ganz aufgeht.

Vielleicht ist das die eigentliche Tragikomödie unserer Zeit: Wir führen erbitterte Kulturkämpfe gegen Materialien, statt gegen Verschwendung, schlechte Entsorgung und gedankenlosen Konsum. Wir lieben Verbote mehr als Lösungen und Symbole mehr als Systeme. Plastik ist dabei nur das Opferlamm, das wir regelmäßig schlachten, um unser ökologisches Gewissen zu beruhigen. Und während wir uns über plastikfreie Verpackungen freuen, zahlen wir brav mehr – für Alternativen, die uns das gute Gefühl geben, auf der richtigen Seite zu stehen, selbst wenn diese Seite ökologisch betrachtet erstaunlich wackelig ist.

Segen sei mit ihm

Der Anspruch der Ewigkeit und die Tyrannei des Augenblicks

Der Anspruch allgemeiner Gültigkeit ist die große rhetorische Währung heiliger Texte: Was hier gesagt wird, so die implizite Drohung, gilt immer, überall und für alle. Wer den Koran jedoch konsequent entlang der Biographie des Propheten liest und zusätzlich die Logik der Abrogation ernst nimmt, dem zerbröselt dieser Anspruch zwischen den Fingern wie zu trockenes Fladenbrot. Denn was bleibt von der Ewigkeit, wenn sich Gebote, Verbote und moralische Imperative auffällig synchron zu den Lebensumständen eines einzelnen Mannes verändern? Die mekkanischen Suren predigen Geduld, Gewaltlosigkeit und die Schönheit des Erduldens, nicht weil diese Tugenden zeitlos überlegen wären, sondern weil sie für eine machtlose Minderheit funktional sind. In Medina hingegen, wo Macht, Waffen und politische Verantwortung ins Spiel kommen, wird aus Geduld plötzlich Kampfbereitschaft, aus Toleranz Abgrenzung, aus moralischem Universalismus eine fein säuberlich regulierte Gemeinschaft mit klaren Innen und Außenlinien. Wer hier noch von allgemeiner Gültigkeit spricht, muss erklären, warum das Allgemeine so verdächtig oft deckungsgleich ist mit dem jeweils biografisch Nützlichen.

Abrogation als theologische Schadensbegrenzung

Die Lehre von der Abrogation wirkt bei näherem Hinsehen weniger wie ein tiefes metaphysisches Prinzip als wie eine hastig errichtete Stützkonstruktion, um den Einsturz des Universalitätsanspruchs zu verhindern. Wenn ein späterer Vers einen früheren aufhebt, dann wird damit nicht nur ein theologisches Problem gelöst, sondern ein historisches offengelegt: Offenbarung ist offenbar nicht unabhängig von Zeit, Ort und politischer Lage. Polemisch zugespitzt könnte man sagen, dass die Abrogation genau das Gegenteil dessen beweist, was sie retten soll. Sie zeigt, dass Normen nicht deshalb gelten, weil sie wahr sind, sondern weil sie in einer bestimmten Situation durchsetzbar erscheinen. Der Gedanke, dass Gott seine eigenen Aussagen relativiert, um den wechselnden Bedürfnissen seines Propheten zu entsprechen, ist für die Idee ewiger Moral verheerend. Satirisch betrachtet ähnelt das weniger einer himmlischen Weisheit als einem Vertragswerk mit ständig nachgereichten Fußnoten, in denen steht, dass Absatz drei nur gilt, solange Absatz sieben noch nicht offenbart ist.

Der Prophet als Maß aller Dinge und aller Zeiten

Stellt man die Biographie des Propheten radikal ins Zentrum der Textauslegung, wird der Koran weniger zu einem Buch für die Menschheit als zu einem Begleitprotokoll eines außergewöhnlichen Lebens. Jeder biografische Einschnitt erzeugt seine eigene Theologie: Verfolgung erzeugt Trostverse, politische Konsolidierung erzeugt Gesetzestexte, militärischer Erfolg erzeugt Triumphrhetorik. Selbst intime Aspekte des Privatlebens finden ihren Weg in die Offenbarung und werden damit normativ aufgeladen. Der satirische Kern dieser Beobachtung liegt in der grotesken Asymmetrie: Aus sehr konkreten, sehr persönlichen Situationen werden Regeln abgeleitet, die Jahrhunderte später noch als allgemeingültig gelten sollen. Dass eine Offenbarung die ehelichen Arrangements eines Siebtjahrhundertmannes regelt und damit implizit vorgibt, etwas über universelle Moral zu sagen, ist literarisch betrachtet kühn und philosophisch betrachtet fragwürdig. Kritisch formuliert: Je genauer man hinschaut, desto weniger spricht der Text zur Menschheit und desto mehr spricht er zu und über Muhammad.

Universalität als nachträgliche Illusion

Die Vorstellung, der Koran sei unabhängig von seiner Entstehungszeit verständlich und gültig, erweist sich bei biografischer Lektüre als fromme Illusion. Ohne Kenntnis der Lebensumstände des Propheten bleiben viele Verse rätselhaft, widersprüchlich oder schlicht unverständlich. Mit dieser Kenntnis werden sie verständlich, verlieren aber genau dadurch ihren universellen Anspruch. Denn was nur im Kontext funktioniert, ist per Definition nicht allgemein. Der Text wird so zu einer Art historischer Dramaturgie, in der Gott die Rolle des allwissenden Erzählers übernimmt, der jedoch erstaunlich gut über die tagespolitischen Sorgen seines Protagonisten informiert ist. Der Zynismus liegt darin, dass diese Kontextabhängigkeit später in einen Absolutheitsanspruch umgedeutet wird: Aus situativen Antworten werden zeitlose Wahrheiten, aus biografischer Notwendigkeit ewige Norm. Die Allgemeingültigkeit erscheint damit weniger als Eigenschaft des Textes denn als Projekt seiner späteren Leser.

Schlussbemerkung über Heiligkeit und Maßstab

Ein Koran, der konsequent nach Abrogation und Prophetenbiographie gelesen wird, ist kein Buch der Ewigkeit, sondern eines der Anpassung. Das muss man nicht moralisch verurteilen, aber man sollte es intellektuell ernst nehmen. Die satirische Pointe besteht darin, dass ausgerechnet ein Text, der den Anspruch erhebt, überzeitlich zu sein, sich als besonders zeitgebunden erweist. Seine Normen wachsen, verändern sich und widersprechen einander in genau dem Maß, wie sich das Leben seines Verkünders verändert. Wer daraus dennoch allgemeingültige Regeln ableiten will, betreibt weniger Exegese als Mythologie. Vielleicht ist das die ehrlichste Lehre dieser Lektüre: Nicht dass der Text nichts zu sagen hätte, sondern dass er vor allem etwas über seine Entstehungsbedingungen sagt. Und dass der Anspruch auf universelle Gültigkeit weniger eine Eigenschaft des Koran ist als der Wunsch seiner Ausleger, die eigene Geschichte zur Geschichte aller zu erklären.

Ganz mein Humor

Polizeischutz als Normalzustand

Es gehört inzwischen zur bundesrepublikanischen Folklore wie der Tatort am Sonntag oder das betretene Schweigen bei Familienfeiern: Jüdisches Leben findet unter Polizeischutz statt. Nicht punktuell, nicht an hohen Feiertagen, sondern routinemäßig, dauerhaft, wie eine zweite, unfreiwillige Architektur jüdischer Existenz. Synagogen sind befestigte Zonen, Gemeindehäuser sicherheitsüberprüfte Areale, Kindergärten Objekte mit Zufahrtssperren. Wer hier von „Normalität“ spricht, meint eine Normalität mit Maschinenpistole. Der Zentralrat der Juden rät davon ab, in bestimmten Vierteln offen jüdische Identität zu zeigen – nicht aus modischer Zurückhaltung, sondern aus Sicherheitsgründen. Die Kippa, einst religiöses Symbol, ist zur Risikokennzeichnung geworden. Und wer bei einer Veranstaltung eine israelische Fahne schwenkt, sollte sich weniger um den Wind als um Fluchtwege sorgen. Das alles sind keine polemischen Zuspitzungen, sondern nüchterne Hinweise aus der Praxis. Die Pointe daran ist nur: Man hat sich daran gewöhnt. Die Sirene im Hintergrund ist zum Grundrauschen der Republik geworden.

Die unsichtbare Selbstverständlichkeit der Gefahr

Es ist eine eigentümliche Leistung der politischen und kulturellen Elite, diese Lage gleichzeitig zu benennen und zu neutralisieren. Man weiß, dass es gefährlich ist, Jude zu sein, aber man weiß es auf eine so sanfte, abgefederte Weise, dass daraus keine Zumutung für das eigene Weltbild entsteht. Antisemitismus wird verurteilt, selbstverständlich, aber möglichst abstrakt, möglichst historisch, möglichst entkoppelt von aktuellen Milieus. Dass bestimmte Formen des Judenhasses heute vor allem aus bestimmten sozialen und kulturellen Kontexten kommen, gilt als unschickliche Präzisierung, als Störung der wohltemperierten Empörung. Lieber spricht man vom „gesellschaftlichen Klima“, von „Spannungen“, von „Herausforderungen“. Das ist der Moment, in dem Sprache nicht mehr aufklärt, sondern polstert. Die reale Gefahr wird in Watte gepackt, damit sie niemanden piekst, der sich ideologisch ungern piksen lässt. Der Preis dafür ist eine merkwürdige Verkehrung: Diejenigen, die bedroht sind, sollen vorsichtig sein, während diejenigen, aus deren Umfeld die Bedrohung häufig kommt, vor allem sensibel behandelt werden.

Zusammenhalt als semantischer Weichzeichner

Und dann tritt der Staat auf die Bühne, genauer: der Berliner Senat, diese institutionalisierte Mischung aus Ernstfallverwaltung und performativer Moral. „Den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken“ lautet das erklärte Ziel, ein Satz so weich und rund wie ein gut gekneteter Pizzateig. Wer wollte dagegen sein? Zusammenhalt ist das politische Äquivalent zu Vitaminen: immer gut, nie falsch dosierbar, nie konkret. Folgerichtig erklärt man den 15. März offiziell zum Tag gegen Islamophobie. Ein Akt symbolischer Fürsorge, der vor allem eines beweist: Symbolpolitik ist dann am schönsten, wenn sie sich nicht mit der widerspenstigen Wirklichkeit anlegen muss. Während jüdische Einrichtungen geschützt werden müssen wie gefährdete Arten, richtet man den staatlichen Fokus auf die gefühlte Verletzlichkeit einer anderen Gruppe – nicht, weil diese keine Probleme hätte, sondern weil dieses Thema bequemer ist. Es verlangt keine Auseinandersetzung mit importierten Ressentiments, keine konfliktreiche Debatte über Werte, Normen und Grenzen. Es erlaubt moralische Erhabenheit ohne Risiko. Kannste nicht erfinden, möchte man sagen, aber genau das ist es: eine erfundene Prioritätensetzung.

Die Ironie der wohlmeinenden Schieflage

Die eigentliche Satire schreibt sich hier selbst, ganz ohne literarische Anstrengung. In einer Stadt, in der jüdische Eltern ihre Kinder nicht ohne Sicherheitskonzept in die Schule schicken, erklärt die Politik einen Aktionstag gegen Islamophobie zum Beitrag des Zusammenhalts. Das ist, als würde man bei Hochwasser einen Workshop über die Gefühle der Deiche veranstalten. Natürlich gibt es Islamfeindlichkeit, natürlich sind pauschale Verdächtigungen falsch und gefährlich. Aber der politische Witz liegt in der Asymmetrie: Die reale, statistisch belegbare Bedrohung jüdischen Lebens wird verwaltet, während die symbolische Kränkung anderer Gruppen zelebriert wird. Der Staat agiert wie ein Gastgeber, der den brennenden Vorhang ignoriert, um sich ausführlich um die Befindlichkeiten der Gäste zu kümmern. Das ist keine Böswilligkeit, sondern eine Mischung aus Angst vor Konflikten und der Lust an moralischer Selbstvergewisserung. Man möchte auf der richtigen Seite stehen, koste es, was es wolle – zur Not auch die intellektuelle Redlichkeit.

Satire als letzter Realismus

Vielleicht bleibt am Ende nur der zynische Humor als Überlebensstrategie. Ein Augenzwinkern, das weniger aus Heiterkeit als aus Ermüdung geboren ist. Wenn der Staat „Zusammenhalt“ beschwört, während er faktisch Parallelrealitäten absichert, dann ist das kein Skandal mehr, sondern Routine. Die Polizei vor der Synagoge, der gut gemeinte Aktionstag im Kalender, die wohlfeilen Erklärungen – alles greift ineinander wie Zahnräder einer Maschine, die erstaunlich reibungslos läuft, solange niemand fragt, wohin sie eigentlich fährt. Satire hat hier die undankbare Aufgabe, das Offensichtliche auszusprechen, ohne dabei in platte Anklage zu verfallen. Sie zeigt auf die Absurdität einer Lage, in der Schutz zur Normalität geworden ist und Symbolpolitik zur Ersatzhandlung. Lachen kann man darüber nur noch mit einem leichten Ziehen im Magen. Aber vielleicht ist genau dieses Lachen, halb bitter, halb trotzig, der letzte Rest von Zusammenhalt, der nicht verordnet werden kann.

Das große westliche Gelöbnis der Nichtverteidigung

Man könnte die Geschichte der Menschheit auch als eine endlose Abfolge missverstandener Einladungen lesen: Jemand besitzt etwas, ein anderer begehrt es, und irgendwann wird aus Begehren Bewegung. Raum wird betreten, Arbeitskraft verplant, Körper verfügbar gemacht, Güter umverteilt, Infrastruktur übernommen. Die alten Gesellschaften, so unerquicklich sie waren, hatten dafür eine unromantische, aber robuste Antwort parat: Verteidigung. Nicht aus Bosheit, sondern aus Selbsterhaltung. Der Westen jedoch hat sich zu etwas Höherem entschlossen – zumindest hält er sich dafür. Er hat aus der Verteidigung eine moralische Todsünde gemacht und stattdessen ein feierliches Gelöbnis formuliert, das unausgesprochen über Schulhöfen, Universitäten und Leitartikeln schwebt wie Weihrauch in einer säkularen Kathedrale. Ein Gelöbnis, das mit erstaunlicher Konsequenz wiederholt wird, bis es nicht mehr wie Kapitulation klingt, sondern wie Charakterstärke.

Wir werden unsere Kultur nicht verteidigen

Wir werden unsere Kultur nicht verteidigen, denn Kultur gilt als etwas Unangenehmes, sobald sie mehr ist als bunte Küche, harmlose Musik und museal entschärfte Rituale. Kultur, die Normen setzt, Erwartungen formuliert oder gar Loyalität einfordert, riecht sofort nach Ausgrenzung. Also erklären wir sie für unverbindlich, verhandelbar und letztlich verzichtbar. Wer dennoch auf ihr besteht, gilt als rückwärtsgewandt, mindestens aber als peinlich. Dass andere Kulturen ihre eigenen Selbstverständlichkeiten sehr wohl ernst nehmen und verteidigen, wird als folkloristische Eigenheit verbucht. Die eigene Kultur hingegen soll sich wie ein Gas verhalten: überall präsent, aber nirgends greifbar, schon gar nicht widerständig.

Wir werden unser Erbe nicht verteidigen

Wir werden unser Erbe nicht verteidigen, weil Erbe Besitz impliziert und Besitz moralisch suspekt ist. Geschichte ist nur dann akzeptabel, wenn sie als endlose Schuldgeschichte erzählt wird, aus der sich vor allem Verpflichtungen ableiten lassen – aber keine Ansprüche. Bauwerke, Institutionen, Rechtsordnungen, soziale Errungenschaften gelten weniger als Leistung früherer Generationen denn als problematisches Kapital, das man möglichst rasch umwidmen sollte. Verteidigung des Erbes käme einer Anerkennung gleich, dass nicht alles zufällig entstanden ist und nicht alles beliebig ersetzt werden kann. Also wird das Erbe entkernt, relativiert und zur offenen Baustelle erklärt, auf der jeder mitreden darf – außer jenen, die sich tatsächlich dafür verantwortlich fühlen.

Wir werden unseren Glauben nicht verteidigen

Wir werden unseren Glauben nicht verteidigen, selbst dann nicht, wenn wir ihn offiziell längst aufgegeben haben. Denn auch die Abwesenheit von Glauben ist ein Glaubenssystem, nur eines, das sich selbst für neutral hält. Überzeugungen sind verdächtig, insbesondere dann, wenn sie tief sitzen und nicht bei der ersten moralischen Ermahnung einknicken. Also ersetzt man sie durch Werte, die so allgemein formuliert sind, dass sie niemanden verpflichten. Der eigene geistige Kern soll weich sein, flexibel, konfliktvermeidend. Dass andere Überzeugungen durchaus verteidigt, eingefordert und notfalls durchgesetzt werden, gilt als kulturelle Eigenlogik, die man respektieren müsse – während man die eigene Überzeugungslosigkeit als Fortschritt feiert.

Wir werden unsere Frauen nicht verteidigen

Wir werden unsere Frauen nicht verteidigen, zumindest nicht im Sinne von Schutz vor realen Bedrohungen. Wir verteidigen abstrakte Frauenbilder, Diskurse, Sprachregelungen, Kampagnen. Der konkrete Schutz, der unangenehme Fragen nach Tätern, Ursachen und Grenzen aufwirft, ist hingegen heikel. Denn er könnte implizieren, dass nicht alle Menschen gleich harmlos sind und dass manche Verhaltensweisen nicht nur missverstanden, sondern inakzeptabel sind. Also wird umgedeutet, relativiert, beschwichtigt. Die Frau wird zum Symbol, aber nicht zum Schutzgut. Wer darauf hinweist, riskiert, als unsensibel zu gelten – ein schwereres Vergehen als reale Gefährdung.

Wir werden unsere Kinder nicht verteidigen

Wir werden unsere Kinder nicht verteidigen, weil Kinder heute vor allem Projektionsflächen sind. Man verteidigt ihre Gefühle, ihre Identitäten, ihre vermeintliche Freiheit von Zumutungen – aber nicht ihre Sicherheit im umfassenden Sinn. Kinder sollen früh lernen, dass Grenzen schlecht, Autorität verdächtig und Selbstbehauptung problematisch ist. Sie werden erzogen zu weltoffenen Bewohnern einer Welt, die angeblich keine Konflikte kennt, während man ihnen gleichzeitig jede robuste Strategie zur Bewältigung realer Konflikte aberzieht. Verteidigung würde bedeuten, dass es Dinge gibt, die schützenswert sind, und andere, die man klar zurückweisen muss. Das passt schlecht zur Erzählung von der grenzenlosen Offenheit.

Offen, tolerant, wehrlos

Denn am Ende steht der zentrale Glaubenssatz dieses Gelöbnisses: Würden wir irgendetwas davon verteidigen, wären wir nicht mehr offen und tolerant. Offenheit wird dabei mit Schutzlosigkeit verwechselt, Toleranz mit Selbstverzicht. Es ist eine Moral, die sich vor allem dadurch auszeichnet, dass sie sich selbst für überlegen hält, während sie systematisch die Voraussetzungen ihrer eigenen Existenz untergräbt. Satirisch betrachtet ist das eine erstaunlich konsequente Haltung: Man verzichtet freiwillig auf alles, was einen zusammenhält, und ist dann überrascht, wenn nichts mehr hält. Vielleicht ist das die letzte Ironie des Westens – dass er aus Angst, hart zu wirken, lieber zerbricht und sich dabei einredet, es handle sich um moralischen Fortschritt.

Der langsame Abstieg,

von der Hyde Park Corner zur digitalen Fußfessel

Es gibt Nationen, die ihre Freiheit mit Pathos feiern, andere, die sie mit Blut verteidigen, und wieder andere, die sie so lange verwalten, bis niemand mehr genau weiß, wo sie eigentlich abgeblieben ist. Großbritannien gehört traditionell zur ersten Kategorie: Magna Carta, Habeas Corpus, Speaker’s Corner – die britische Selbstbeschreibung als Wiege der bürgerlichen Freiheit ist so tief eingeprägt wie der Geruch von feuchtem Tweed. Und doch hat sich, fast unbemerkt und mit der Höflichkeit eines gut erzogenen Butlers, etwas verschoben. Die Meinungsfreiheit ist nicht abgeschafft worden, nein, das wäre unbritisch. Sie ist vielmehr in eine Art Dauerbewährung versetzt worden: Man darf alles sagen – solange es niemanden stört, niemand es missversteht, niemand es meldet und solange ein Polizist im Zweifel nicht der Meinung ist, man hätte es besser lassen sollen. Dass die Polizei mittlerweile mit bemerkenswertem Eifer selbst gegen weitestgehend harmlose, oft explizit nicht strafbare Äußerungen vorgeht, ist dabei weniger der Skandal als das Symptom. Die eigentliche Frage lautet: Wie konnte eine Gesellschaft, die einst das Recht auf Unbequemlichkeit als zivilisatorische Tugend verstand, so weit kommen, dass sie Beleidigtsein zur ordnungspolitischen Kategorie erhebt?

Die Ausdehnung des Guten bis zur Erstickung

Der britische Staat hat ein Problem, das viele spätmoderne Demokratien kennen: Er will gut sein. Nicht nur rechtsstaatlich korrekt, sondern moralisch einwandfrei, empathisch, sensibel, inklusiv – ein Staat mit Soft Skills. Diese moralische Aufrüstung hat einen paradoxen Effekt: Je mehr man schützen will, desto größer wird der Kreis dessen, was potenziell schützenswert verletzt werden könnte. Worte werden zu Mikroaggressionen, Meinungen zu potenziellen Gefährdungslagen, Ironie zu einer Form semantischer Umweltverschmutzung. Die Polizei, traditionell Hüterin von Ordnung und Gesetz, wird so unmerklich zur Hüterin des guten Tons umfunktioniert. Sie registriert Vorfälle, führt sogenannte „Non-Crime Hate Incidents“, also Ereignisse ohne Straftatbestand, aber mit schlechtem Gefühl. Dass eine solche Kategorie existiert, ist bereits ein literarischer Akt von kafkaesker Eleganz: ein Protokoll über etwas, das offiziell nichts ist, aber trotzdem Folgen haben kann. Der Staat lernt hier nicht, weniger einzugreifen, sondern subtiler. Er verhaftet nicht – er notiert. Er verbietet nicht – er ermahnt. Und weil all das im Namen des Guten geschieht, wirkt jeder Widerspruch wie moralische Fahrlässigkeit.

Polizei als Pädagoge und Therapeut

Was früher der Dorfpfarrer oder der gestrenge Onkel beim Sonntagsessen übernahm, erledigt heute der Streifenwagen: moralische Nachhilfe. Polizisten klingeln nicht mehr nur, wenn ein Einbruch gemeldet wurde, sondern auch, wenn jemand im Internet etwas gesagt hat, das jemand anderem missfallen könnte. Oft endet das Gespräch ohne Anzeige, ohne Verfahren, ohne Urteil – aber nicht ohne Wirkung. Denn die Botschaft ist klar: Wir haben dich gesehen. Wir wissen, was du denkst. Und wir möchten, dass du in Zukunft besser darüber nachdenkst, ob du es auch sagst. Diese Praxis ist juristisch oft einwandfrei, politisch bequem und psychologisch verheerend. Sie erzeugt genau das, was man früher „chilling effect“ nannte: eine Kälte, die sich über den öffentlichen Diskurs legt und spontane Meinungsäußerung in vorsorgliches Schweigen verwandelt. Die Polizei wird dabei nicht zum Tyrannen, sondern zum Sozialarbeiter mit Bodycam – und gerade das macht sie so effektiv. Wer will schon der Mensch sein, der nach einem „freundlichen Hinweis“ der Polizei trotzig auf Meinungsfreiheit pocht? Das wirkt schnell so unsympathisch wie jemand, der laut hustend behauptet, sein Gegenüber überreagiere.

Die Angst vor dem Chaos und die Sehnsucht nach Ruhe

Hinter all dem steht eine tiefe gesellschaftliche Erschöpfung. Großbritannien ist müde: von Klassenkonflikten, von Identitätsdebatten, von kulturellen Brüchen, von der eigenen Geschichte. In dieser Müdigkeit erscheint Meinungsfreiheit nicht mehr als belebender Streit, sondern als Lärm. Und Lärm möchte man regulieren. Die Polizei wird so zum Instrument einer kollektiven Sehnsucht nach Ruhe, nach Harmonie, nach einem öffentlichen Raum ohne Reibung. Dass Reibung der Motor jeder lebendigen Demokratie ist, gerät dabei aus dem Blick. Stattdessen wird Dissens als Risiko begriffen, als etwas, das eskalieren könnte, wenn man es nicht frühzeitig einfängt. Also fängt man nicht Taten ein, sondern Stimmungen. Man kontrolliert nicht Gewalt, sondern mögliche Kränkungen. Der Schritt von dort zur präventiven Erziehung der Bevölkerung ist klein – und wird kaum bemerkt, weil er nicht mit Stiefeln, sondern mit Formularen kommt.

Satirisches Nachwort aus dem Land der leisen Sirenen

Vielleicht ist das britische Modell der eingeschränkten Meinungsfreiheit gar kein Ausrutscher, sondern ein Exportartikel der Zukunft: autoritär ohne Autoritarismus, repressiv ohne Repression, freiheitlich im Prospekt und betreut in der Praxis. Ein System, in dem man alles sagen darf, aber nicht alles sollte, und in dem die Polizei freundlich daran erinnert, was man besser nicht denkt, wenn man seine Ruhe haben will. Die Ironie ist bitter und zugleich typisch britisch: Ausgerechnet das Land, das der Welt den Begriff der „liberty“ geschenkt hat, verwaltet sie nun wie eine empfindliche Antiquität – schön anzusehen, aber bitte nicht anfassen. Und so sinkt die Meinungsfreiheit nicht mit einem Knall, sondern mit einem höflichen Räuspern. Man entschuldigt sich sogar dabei. Was bleibt, ist die leise Frage, ob Freiheit, die man nur noch flüsternd genießen darf, ihren Namen überhaupt noch verdient.

Der nackte Bürger im Nebel der Normen

Es gibt Orte, an denen der Mensch sich freiwillig entkleidet, um – paradox genug – zu sich selbst zu kommen. Die Sauna gehört dazu, jener feuchte Zwischenraum aus Holz, Dampf und sozialdemokratischer Gleichheit, in dem Professorinnen neben Paketboten schwitzen, der Körper seine Titel verliert und die Brille beschlägt. Man glaubt dort, für einen kurzen Moment, dem allgegenwärtigen Blick der Welt entkommen zu sein. Und dann steht da einer mit dem Handy. Heimlich. Diskret. Unsichtbar sichtbar. Willkommen im deutschen Strafrecht, wo Nacktheit offenbar erst dann schützenswert ist, wenn sie unter einem Rock stattfindet oder hinter einer verschlossenen Toilettentür.

Die Entscheidung der Staatsanwaltschaft Leipzig, ein Verfahren wegen heimlichen Filmens nackter Frauen in einer öffentlichen Sauna einzustellen, ist mehr als eine juristische Fußnote. Sie ist ein literarisch anmutendes Gleichnis über den Zustand eines Rechts, das mit bewundernswerter Präzision regelt, wann ein Rock zu kurz und ein Raum zu privat ist, dabei aber ausgerechnet dort ins Stottern gerät, wo der Mensch am verletzlichsten ist: nackt, arglos, im Dampf. Dass die Sauna kein „besonders geschützter Raum“ sein soll, klingt wie eine Pointe aus einem Kafkaesken Wellness-Ratgeber: Schwitzen ja, Schutz nein.

Der Gesetzgeber als Textilarbeiter

Das Strafgesetzbuch, so lernt man, denkt in Stoffen. § 184k StGB schützt vor dem Blick unter Röcke und in Ausschnitte, also vor Körperteilen, die „gegen Anblick geschützt“ sind. Der nackte Körper hingegen – vollständig, ehrlich, textilfrei – fällt aus diesem Raster. Er ist offenbar zu konsequent nackt, um strafrechtlich interessant zu sein. Der Gesetzgeber, dieser große Schneider der Moral, hat den Menschen immer noch lieber halb bekleidet. Wer alles zeigt, zeigt zu viel – und zugleich zu wenig, um geschützt zu werden.

So entsteht die groteske Situation, dass das heimliche Fotografieren eines bedeckten Intimbereichs strafbar ist, das heimliche Filmen eines vollständig nackten Körpers aber nicht zwingend. Der Rocksaum wird zur juristischen Frontlinie, die Sauna zur rechtsfreien Dampfzone. Man möchte lachen, wäre es nicht so unerquicklich. Denn hinter der juristischen Spitzfindigkeit verbirgt sich eine alltägliche Erfahrung: das Gefühl, beobachtet, fixiert, verewigt zu werden – ohne Einwilligung, ohne Kontrolle, ohne Möglichkeit, den eigenen Körper zurückzufordern.

Der besonders geschützte Raum und seine metaphysischen Probleme

Der Begriff des „besonders geschützten Raums“ ist ein schönes Beispiel für die metaphysischen Neigungen des Strafrechts. Er klingt nach sakraler Architektur, nach dicken Mauern und klaren Zuständigkeiten. Wohnung: geschützt. Toilette: geschützt. Umkleide: geschützt. Sauna? Nun ja. Offenbar nicht genug. Sie ist öffentlich, sagen die einen. Zugänglich für zahlende Gäste, sagen die anderen. Als ob der Eintrittspreis die Intimsphäre verdampfen ließe wie Schweiß auf heißen Steinen.

Dass Gerichte und Staatsanwaltschaften sich dabei auf ältere Rechtsprechung stützen, etwa auf einen Beschluss des OLG Koblenz aus dem Jahr 2008, wirkt wie ein Gruß aus einer vorsmartphonigen Epoche. Damals war das Handy noch kein permanenter Körperanhang, sondern ein Gerät, das man zum Telefonieren benutzte. Heute hingegen ist es Kamera, Archiv, Verbreitungsmaschine. Die Sauna von 2008 ist nicht die Sauna von 2025. Der Dampf ist derselbe, die technischen Augen sind es nicht.

Moral ist keine Straftat, aber manchmal ein Warnsignal

Mit einer gewissen juristischen Nüchternheit wird darauf hingewiesen, dass moralisch verwerfliches Verhalten nicht per se strafbar sein dürfe. Das ist richtig, wichtig und gefährlich zugleich. Denn es setzt voraus, dass Moral und Strafwürdigkeit stets sauber zu trennen sind. In der Realität aber sind moralische Intuitionen oft Frühwarnsysteme des Rechts. Wenn ein Verhalten kollektiv als übergriffig, erniedrigend, verletzend empfunden wird, lohnt es sich zumindest zu fragen, ob das Recht noch richtig kalibriert ist.

Das heimliche Filmen nackter Menschen ist kein Kavaliersdelikt, kein schlechter Witz im Wellnessbereich. Es ist ein Akt der Aneignung: Der Körper des anderen wird zum Objekt, zum Datensatz, zur potenziell ewigen Datei. In einer Zeit, in der Bilder nicht mehr verschwinden, sondern zirkulieren, kopiert, kontextlos wiederauftauchen, ist das Anfertigen der Aufnahme selbst bereits der entscheidende Übergriff. Wer hier nur auf das „Zugänglichmachen“ abstellt, verkennt die Gewalt des Moments, in dem die Kamera klickt – oder lautlos aufnimmt.

Die Experten, der Chor und die Kakophonie

Die strafrechtliche Debatte gleicht inzwischen einem gelehrten Chor, in dem sich Sopran und Bass widersprechen. Die einen sehen eine eklatante Schutzlücke, die anderen verweisen auf systematische Zurückhaltung, Ressourcenknappheit und die Gefahr der Überkriminalisierung. Wieder andere versuchen, § 201a StGB durch bauliche Kriterien zu retten: Ist der Raum geschlossen genug? Gibt es Fenster? Könnte theoretisch jemand hineinsehen? Als ließe sich Intimsphäre mit dem Zollstock messen.

Besonders überzeugend ist dabei der Gedanke, den nackten Körper unabhängig vom Ort stärker in den Fokus zu rücken. Nicht der Raum ist das eigentliche Schutzgut, sondern die Person in ihrer körperlichen Privatheit. Der Strand, die Sauna, der Umkleidebereich – sie alle unterscheiden sich, aber sie haben eines gemeinsam: Menschen gehen dort davon aus, nicht heimlich gefilmt zu werden. Dieses Vertrauen ist kein Luxus, sondern eine Voraussetzung sozialer Freiheit.

Der Staat im Dampf der Zukunft

Dass das Bundesjustizministerium nun prüft, ist die wohl deutscheste aller Reaktionen. Prüfen heißt hoffen, hoffen heißt vertagen. Währenddessen sammeln sich Petitionen, Empörung und reale Erfahrungen von Betroffenen. Das Versprechen, Strafbarkeitslücken bei bildbasierter sexualisierter Gewalt zu schließen, steht im Koalitionsvertrag wie ein gut gemeinter Vorsatz nach Neujahr. Die Frage ist nur, wann er eingelöst wird – und ob er den Mut aufbringt, das Problem an der Wurzel zu packen.

Denn es geht um mehr als Sauna und Smartphone. Es geht um ein Strafrecht, das noch immer räumlich denkt, während Übergriffe längst digital, mobil und ortsunabhängig geworden sind. Der Voyeur von heute braucht keine Schlüssellöcher mehr. Er braucht nur eine Kamera und eine Gesetzeslücke.

Schlussaufguss

Vielleicht wird man eines Tages auf diese Debatte zurückblicken und sich wundern, dass es ernsthaft strittig war, ob heimliches Filmen nackter Menschen strafwürdig ist. Bis dahin bleibt die Sauna ein Ort paradoxaler Freiheit: nackt, aber nicht geschützt; öffentlich, aber intim; warm, aber rechtlich kühl. Der Dampf lichtet sich langsam. Die Frage ist, ob das Recht mit ihm Schritt hält – oder weiterhin beschlägt.

Die Liebe zum moralisch handlichen Leichnam

»People Love Dead Jews« – dieser Satz ist so unerquicklich wie treffend, so unhöflich wie präzise. Er kratzt an einem Selbstbild, das sich gern als aufgeklärt, empathisch und geschichtsbewusst inszeniert, dabei aber eine ganz besondere Form der Bequemlichkeit kultiviert: die Zuneigung zu Juden, die nichts mehr sagen können. Tote Juden widersprechen nicht. Sie verlangen keine Solidarität im Jetzt, keine Positionierung im Streit, keine Zumutung im Alltag. Sie stellen keine unbequemen Fragen zur Gegenwart, zu Israel, zu Antisemitismus in linker, rechter oder migrantischer Gestalt. Sie liegen still, würdevoll, ästhetisch verfügbar. Und genau deshalb eignen sie sich so hervorragend als moralisches Rohmaterial. Man kann sie auf Denkmäler stellen, in Schulbücher drucken, in Sonntagsreden beschwören – und neuerdings eben auch mit modischen Accessoires ausstatten, die sie in den Dienst aktueller politischer Erzählungen stellen. Der tote Jude ist die vielleicht flexibelste Projektionsfläche der westlichen Moralindustrie.

Anne Frank als Leinwand der guten Absichten

Dass es wieder einmal Anne Frank trifft, ist kein Zufall, sondern beinahe zwangsläufig. Anne Frank ist die Heilige der säkularen Erinnerungskultur, das jüdische Kind, das niemand hassen darf, weil es tot ist, jung war und Tagebuch schrieb. Sie ist unschuldig genug, um universell zu sein, und konkret genug, um emotional zu wirken. Genau darin liegt ihre Gefährdung. Denn wer Anne Frank instrumentalisiert, kann sich fast sicher sein, nicht sofort als Zyniker erkannt zu werden. Man meint es ja gut. Man will doch nur mahnen, erinnern, verurteilen – Gewalt, Unterdrückung, Unfreiheit, das ganz große Böse in all seinen Erscheinungsformen. Dass man dabei aus einem konkreten jüdischen Schoa-Opfer eine abstrakte Weltgewissensfigur macht, fällt unter Kollateralschaden. Oder unter Kunstfreiheit. Oder unter engagierte Zeitdiagnose.

Wenn Anne Frank im Potsdamer Museum eine Kufiya trägt, dann ist das kein harmloser ästhetischer Einfall, sondern ein symbolischer Gewaltakt. Es ist die Enteignung einer historischen Person zugunsten einer politischen Botschaft. Die Kufiya ist kein neutrales Tuch, kein universelles Zeichen des Leids, sondern ein hoch aufgeladenes Symbol eines spezifischen nationalen Konflikts. Wer sie Anne Frank umlegt, erklärt ihr Leben, ihr Sterben und ihre Ermordung zur bloßen Folie für eine gegenwärtige Anklage – und diese Anklage richtet sich, man muss es nicht einmal zwischen den Zeilen lesen, gegen Israel. Aus dem jüdischen Opfer der Deutschen wird eine moralische Zeugin gegen den jüdischen Staat. Dialektik nennt man das wohl nur, wenn man sehr großzügig ist.

Der Universalismus als moralischer Fleischwolf

Natürlich spricht der Künstler vom Universellen. Das tun sie immer. Universell ist das Zauberwort, mit dem jede historische Spezifität weichgekocht wird, bis sie in jede beliebige politische Suppe passt. Anne Frank soll nicht mehr für die Schoa stehen, heißt es dann, sondern für die Verurteilung von Gewalt an sich. Gewalt an sich – diese merkwürdige metaphysische Entität, die immer schlimm ist, aber nie einen klaren Täter kennt, außer in der Vergangenheit. Der Universalismus funktioniert hier wie ein moralischer Fleischwolf: Er nimmt das Konkrete, das Unbequeme, das historisch Einmalige und macht daraus eine formbare Masse aus guten Absichten. Übrig bleibt ein Symbol, das überall passt und niemandem wirklich weh tut – außer vielleicht denen, deren Geschichte gerade entsorgt wurde.

Dass ausgerechnet jüdische Stimmen protestieren und dann als Spielverderber erscheinen, ist Teil des bekannten Drehbuchs. Der Antisemitismusbeauftragte, die Deutsch-Israelische Gesellschaft – das sind in dieser Erzählung die humorlosen Bürokraten der Erinnerung, die der Kunst ihre Flügel stutzen wollen. Dabei tun sie nichts anderes, als auf eine Grenze hinzuweisen: auf die Grenze zwischen Erinnerung und Missbrauch. Doch Grenzen sind in einer Zeit des moralischen Exhibitionismus unerquicklich. Sie stören das wohlige Gefühl, auf der richtigen Seite zu stehen.

Die bequeme Radikalität der Nachgeborenen

Es ist bemerkenswert, mit welcher Selbstverständlichkeit Nachgeborene sich heute der moralischen Autorität der Schoa bedienen, um aktuelle politische Positionen zu legitimieren. Man leiht sich das absolute Böse der Vergangenheit, um das relative Böse der Gegenwart maximal zu verurteilen. Das hat etwas zutiefst Anmaßendes. Denn es verschiebt die Perspektive: Nicht mehr die Juden sind die Subjekte der Erinnerung, sondern das erinnernde Kollektiv selbst. Man erinnert nicht um der Opfer willen, sondern um sich selbst als moralisch wach zu erleben. Die Erinnerung wird zur Bühne, auf der man seine Haltung performt.

Anne Frank mit Kufiya ist dafür ein perfektes Bild. Es sagt: Seht her, wir haben gelernt. Wir erkennen Unterdrückung überall. Wir sind so sensibilisiert, dass wir sogar das bekannteste jüdische Opfer des Nationalsozialismus gegen den jüdischen Staat in Stellung bringen können. Das ist keine Empathie, das ist moralischer Narzissmus. Und er funktioniert nur, solange die dargestellte Person tot ist. Eine lebende Anne Frank hätte womöglich widersprochen. Sie hätte Fragen gestellt. Vielleicht hätte sie sogar etwas gesagt, das nicht ins Konzept passt. Das wäre unerquicklich gewesen.

Der Antisemitismus der guten Absicht

Nichts ist so schwer zu kritisieren wie der Antisemitismus der guten Absicht. Er kommt ohne Hassparolen aus, ohne Karikaturen, ohne offenen Vernichtungswunsch. Er tritt im Gewand der Menschlichkeit auf, der Kunst, der universellen Moral. Und gerade deshalb ist er so wirksam. Denn wer ihm widerspricht, muss sich erst einmal aus der Ecke der Unmoral herausarbeiten. Man ist ja gegen Gewalt, oder nicht? Gegen Unterdrückung? Für Menschenrechte? Dass diese Begriffe selektiv angewendet werden, dass sie vor allem dann laut werden, wenn es um Israel geht, soll bitte niemand thematisieren. Das würde die schöne Erzählung ruinieren.

Anne Frank wird in diesem Kontext nicht geliebt, sondern benutzt. Geliebt wird die eigene Haltung, die eigene Betroffenheit, die eigene vermeintliche Radikalität. Die tote Jüdin ist Mittel zum Zweck. Und so schließt sich der Kreis zu Dara Horns bitterem Befund: Man liebt tote Juden, weil sie nichts kosten. Sie fordern keine Konsequenzen. Sie verlangen nicht, dass man Antisemitismus im eigenen politischen Lager erkennt. Sie stören nicht die Solidarität mit denen, die sich selbst gern als die neuen Opfer der Geschichte inszenieren.

Schluss ohne Erlösung

Am Ende bleibt ein schaler Geschmack. Nicht wegen eines einzelnen Bildes in einem Potsdamer Museum, sondern wegen des Musters, das es offenlegt. Die Erinnerung an die Schoa wird nicht mehr geleugnet, sie wird recycelt. Sie wird in neue Kontexte eingespeist, bis sie ihre ursprüngliche Bedeutung verliert. Anne Frank wird dabei nicht geehrt, sondern entkernt. Aus einem jüdischen Mädchen, das von Deutschen ermordet wurde, wird eine universelle Mahnfigur, die vor allem eines leisten soll: die moralische Anklage Israels. Das ist keine Aufarbeitung, das ist Umdeutung. Und sie sagt am Ende mehr über diejenigen aus, die sie betreiben, als über Anne Frank selbst.

Das Diskursproblem als Komfortzone

Es gibt Momente, in denen das Wort „Diskursproblem“ wie ein Sofa wirkt: weich, breit, einladend, ideal zum Hineinsinken, wenn die Wirklichkeit stachelig wird. Luisa Neubauer hat dieses Möbelstück jüngst im Funke-Podcast neu bezogen, und zwar mit dem Stoff der eigenen Befindlichkeit. Nicht der 7. Oktober 2023, nicht die Massaker, nicht der eruptive Judenhass, der seitdem wieder aus Kellern und Kommentarspalten quillt, stehen im Zentrum ihrer Erzählung, sondern das Gefühl, missverstanden, unter Druck gesetzt, ja fast: bedrängt worden zu sein. Man könnte sagen, das ist die hohe Kunst der Perspektivverschiebung, eine Art rhetorisches Feng-Shui: Man rückt die schweren Dinge an den Rand und stellt die Zimmerpflanze der eigenen Panikattacke ins Licht. Dass das Ganze als „kritische Selbstreflexion“ verkauft wird, gehört zum Handwerk; dass es dabei unerquicklich riecht, ist der Preis des Handwerks.

Empathie nach Bedarf, Moral im Baukastensystem

Neubauers Bedauern darüber, Fridays for Future habe „nicht nachdrücklich genug“ Repressionen gegen Palästina-Aktivisten verurteilt, ist ein bemerkenswerter Satz. Er ist bemerkenswert, weil er ohne Subjekt auskommt – wer repressiert hier eigentlich wen? – und ohne Objekt – was genau ist geschehen? –, aber mit einer klaren Stoßrichtung: Die Opfer sind jene, die sich „für Menschenrechte in Palästina und Gaza“ eingesetzt haben. Das ist ein schöner, warmer Satz, wie ein Wollschal, der allerdings die Tatsache verdeckt, dass in diesem Land Demonstrationen stattfanden, auf denen „From the river to the sea“ skandiert wurde, als handle es sich um einen Wellness-Slogan. Empathie, so scheint es, ist bei Neubauer keine Kategorie der Zumutung, sondern der Auswahl. Man verteilt sie wie Solarpaneele: bevorzugt dort, wo sie gut ins eigene Energiekonzept passt.

Die internationale Familie und der deutsche Sonderweg

Der Hinweis auf die internationale Mutterorganisation von Fridays for Future, die sich früh auf die Seite der Palästinenser schlug und dabei antisemitische Entgleisungen billigend in Kauf nahm, wirkt wie eine Entlastungsstrategie mit eingebauter Notausgangstür. Der deutsche Ableger habe sich ja distanziert, sagt man, und Luisa Neubauer sagt es mit der Ernsthaftigkeit einer Schülerin, die darauf hinweist, dass sie zwar im falschen Bus saß, aber rechtzeitig ausgestiegen sei. Das Problem an dieser Erzählung ist nicht ihre faktische Fragwürdigkeit, sondern ihre moralische Bequemlichkeit. Wer eine globale Bewegung repräsentiert, kann sich nicht in nationale Unschuld flüchten, wenn es international brennt. Global denken, lokal entschuldigen – das war einmal ein Werbeslogan, kein ethisches Prinzip.

Greta, die Reflektierte, und der Umgang, der nicht zu rechtfertigen ist

Die Verteidigung Greta Thunbergs gehört zum Ritual. Greta sei „sehr reflektiert“, sagt Neubauer, und man nickt höflich, denn Reflexion ist in diesen Kreisen eine Tugend wie früher die Keuschheit. Dass Thunberg sich nicht nachdrücklich zum 7. Oktober geäußert habe, wird eingeräumt, aber sofort relativiert: Der Umgang mit ihr sei „unter keinen Gesichtspunkten zu rechtfertigen“. Unter keinen. Das ist ein großer Satz, ein Satz mit der Wucht einer Bannbulle, der allerdings erneut die Blickrichtung verschiebt: vom Inhalt zur Form, vom Gesagten zum Umgang damit. Wer so argumentiert, verteidigt nicht die Sache, sondern den Status. Die Ikone darf nicht fallen, also muss der Kontext weichen.

Das historische Ding, oder: Wie man den Holocaust in Klammern setzt

Am unerquicklichsten wird es dort, wo Neubauer Verständnis für internationale Aktivisten äußert, die Deutschland mit einem „Heult leise“ bedenken, weil hierzulande von einem „Diskursproblem“ die Rede sei – Staatsräson, „noch das historische Ding“. Dieses „historische Ding“ ist kein Ding. Es ist der industrielle Massenmord an sechs Millionen Juden. Es ist der Grund, warum dieses Land eine besondere Verantwortung trägt, nicht als folkloristische Bürde, sondern als ethische Verpflichtung. Wer den Holocaust in der Umgangssprache zum „Ding“ verkleinert, macht ihn handhabbar, abheftbar, relativierbar. Das ist kein Ausrutscher, sondern eine Haltung: Geschichte als lästiges Möbelstück, über das man im Eifer der Gegenwart stolpert.

Panikattacken als politisches Argument

Natürlich ist es ernst zu nehmen, wenn jemand von einer Panikattacke berichtet. Psychische Belastungen sind real, und öffentlicher Druck kann krank machen. Aber wenn die eigene Panik zum narrativen Höhepunkt einer Erzählung wird, die von einem beispiellosen antisemitischen Terrorakt handelt, dann stimmt die Gewichtung nicht mehr. Dann wird das Private zum Maßstab des Politischen, und das Politische zur Kulisse des Privaten. Bundespolitiker hätten in ihr Telefon „reingebrüllt“, sagt Neubauer, ohne Namen zu nennen. Das Bild ist stark, fast filmisch, aber auch bequem: Es immunisiert gegen Nachfragen. Wer brüllt, hat Unrecht; wer leidet, hat Recht.

Satirisches Fazit: Die Klimaerwärmung der Moral

Luisa Neubauer steht exemplarisch für eine Generation politischer Akteure, die moralische Dringlichkeit mit moralischer Eindeutigkeit verwechselt. Das „Diskursproblem“ ist dabei kein analytischer Begriff, sondern ein Rettungsring. Man wirft ihn sich selbst zu, wenn die Wellen der Wirklichkeit zu hoch schlagen. Satirisch betrachtet könnte man sagen: Die Moral hat sich erwärmt, sie ist flüssig geworden, sie passt sich jeder Form an. Ernst betrachtet bleibt die Frage, ob eine Bewegung, die die Welt retten will, es sich leisten kann, beim Thema Antisemitismus so erstaunlich selektiv zu sein. Denn während man über Diskurse spricht, zählen andere noch immer die Toten. Und das ist kein „historisches Ding“, sondern eine Gegenwart, die mehr verlangt als augenzwinkernden Zynismus.