Europa – dieser müde, aber noch immer mit leicht aristokratischer Haltung flanierende alte Kontinent – hat sich in den letzten Jahrzehnten ein merkwürdiges Accessoire umgehängt: eine moralische Einwegstraße, die nur in eine Richtung führt. Man stelle sich das Ganze vor wie eine historische Altstadt, deren Schilder aus dem 19. Jahrhundert stammen, aber deren Verkehrsführung von Aktivisten mit Filzstiften frisch übermalt wurde.
„Du, Europa, hast doch ohnehin alles verbrochen!“, rufen jene, die die Geschichte mit der Eleganz eines Vorschlaghammers interpretieren. „Also hast du gefälligst jeden aufzunehmen, der an deine Tür klopft.“ Und Europa, verwirrt, senkt schuldbewusst den Blick und murmelt ein „Vielleicht habt ihr Recht“, während es gleichzeitig feststellt, dass die Türrahmen langsam ausleiern.
Die moralische Logik dahinter ist bestechend – im Wortsinne. Denn wer an welcher Stelle welche Schuld trägt, spielt kaum noch eine Rolle. Es genügt bereits, dass jemand zufällig im Wohlstand geboren wurde, um nun in der Pflicht zu stehen, jedwede Forderung des globalisierten Publikums zu erfüllen.
Dass niemand dieser Wohlstandsgeborenen je eine Plantage in Kamerun betrieben oder ein Fort an der Goldküste errichtet hat, tut nichts zur Sache. Die historische Kollektivschuld ist wie ein Netflix-Abo: Einmal abgeschlossen, wirst du es nie wieder los, egal wie sehr du dich bemühst.
Der Mythos von Europas Zaubersäckchen voller Kolonialgold
Ein gern gepflegtes Narrativ lautet: Europa sei reich, weil es die Welt ausgeraubt habe; die Welt sei arm, weil Europa reich ist.
Wie im Märchenbuch, nur mit schlechterer Dramaturgie.
Wer sich die Mühe macht, gelegentlich in ökonomische Untersuchungen zu schauen, stellt fest: Die kolonialen Projekte Europas waren oftmals finanziell katastrophale Abenteuer. Frankreich pumpte Unsummen in Infrastruktur, Verwaltung und Schulen – oft nahezu denselben Betrag, den man später herauszog. Deutschland stieg überhaupt erst spät ein, weil man ahnte, dass Kolonien weniger Schatzkisten als prestigeträchtige Geldverbrennungsanlagen waren.
Doch in der Legende vom „kolonialen Superprofit“ lebt der Traum weiter, dass irgendwo in dunklen Kellern französischer Finanzämter geheime Schatzkammern liegen, gefüllt mit Gold, Elfenbein und Tränen der Unterdrückten – und dass man nur lange genug auf diese imaginären Schätze zeige müsse, um aktuelle Verpflichtungen moralisch einzufordern.
Sklaverei: Die historische Universalsünde, die nur einer abschaffte
Ein weiteres Mantra lautet: Sklaverei = europäische Erfindung.
Man stelle sich vor, wie die gesamte Menschheit vor dem 15. Jahrhundert friedlich an Lagerfeuern tanzte, während plötzlich ein Portugiese namens João aufsprang, „Ich hab’s!“ rief und die Sklaverei erfand – gefolgt von tosendem Applaus.
Dass Sklaverei in jeder bedeutenden Zivilisation über Jahrtausende existierte, passt nicht ins pädagogisch wertvolle Narrativ. Dass in Westafrika mächtige Königreiche wie Dahomey nicht etwa unter der Sklaverei litten, sondern von ihr prächtig lebten, ebenso wenig. Und dass die Barbareskenstaaten über Jahrhunderte Europäer einfingen und an arabische Herrscher verkauften, bleibt im postkolonialen Lehrbuch meist als Randnotiz erhalten – gleich neben dem Bindegewebsriss des ägyptischen Pharaos Amenophis III.
Aber nur eine Kultur hat die Sklaverei nicht nur abgeschafft, sondern aktiv weltweit bekämpft – mit Kanonenboote, Kongressdebatten und moralischen Anwandlungen, die ihr viele Feinde einbrachten.
Diesen historischen Fakt zu erwähnen gilt allerdings als schlechte Manieren, vergleichbar dem Fauxpas, im veganen Restaurant nach Butter zu fragen.
Freiheit, Flaggen und die Illusion der Ankunft
Betrachten wir jene Bilder, die Jahr für Jahr über die Nachrichtenticker flimmern: junge Männer aus Schwarzafrika, die verzweifelt versuchen, die Zäune von Ceuta und Melilla zu überwinden.
Sie rufen „Freiheit!“ und hüllen sich triumphierend in die EU-Flagge – jenes Banner, das für sie ungefähr das ist, was Einhörner für Kinder sind: ein Fabelwesen, an das man glauben will, weil die Alternative schmerzt.
Das Tragische – oder Satirische? – ist, dass sie sich in Wirklichkeit keineswegs in die Freiheit hüllen. Denn die spanischen Behörden werden sie ziemlich sicher zurückweisen, weil ihnen kein Asylanspruch zusteht und die Fluchtgründe nicht in europäischen Bombentrichtern liegen, sondern in den Abgründen eigener politischer Systeme.
Doch dass die Herkunftsstaaten – jene Länder, in denen korrupte Regime über Jahrzehnte ganze Volkswirtschaften demontierten – für all das keinerlei Verantwortung zu tragen scheinen, hat sich als erstaunlich stabiler Konsens etabliert.
Kolonialreiche vom Typ „Hätte besser laufen können“
Wer behauptet, die Migrationsbewegungen seien überwiegend eine Folge westlicher Intervention, reduziert die Realität auf eine bequeme Fernsehserienform.
Vielmehr verlassen junge Afrikaner heute Länder, die seit über fünfzig Jahren unabhängig sind – unabhängig von kolonialer Herrschaft, aber leider nicht unabhängig von Korruption, Ineffizienz und der politischen Genialität ihrer eigenen Herrscher.
Nigeria, etwa, das mit seinen Ölreserven eines der reichsten Länder des Kontinents hätte werden können, schaffte es mit bemerkenswerter Konsequenz, dieses Potenzial in eine Art Plutokratie-Lotterie zu verwandeln, bei der die Eliten gewannen und der Rest verlor. Man könnte fast meinen, das Land habe die Ölrente in einem Casino verspielt, doch das wäre unfair – im Casino herrscht wenigstens Transparenz.
Der Mo-Ibrahim-Preis und das Theater der Ohnmacht
Wenn ein Preis für außergewöhnliche politische Führung in Afrika sieben Mal innerhalb eines Jahrzehnts nicht vergeben werden kann, weil niemand unter den angetretenen Staatenlenkern auch nur annähernd die Kriterien erfüllt – dann ist das kein amüsantes Kuriosum.
Es ist ein Kapitulationsbericht.
Ein diplomatisch hübsch verpacktes „Wir würden gern jemanden loben, aber uns fehlt der Rohstoff.“
Die Schamlosigkeit des Schweigens
Während europäische Medien händeringend nach Metaphern für die „europäische Migrationskrise“ suchen, beobachtet man in vielen Herkunftsländern ein bemerkenswertes Schweigen.
Weder werden die ertrunkenen Bürger zurückgeholt noch wird öffentlich Verantwortung übernommen.
Man könnte fast meinen, viele Regierungen seien insgeheim dankbar, dass ihre jungen, frustrierten Männer die gefährliche Reise antreten – denn jeder Migrierende ist ein potenzieller Oppositioneller weniger.
Die Rückkehr der Bürde des Weißen Mannes – aber diesmal als Dienstleistung
Rudyard Kipling hätte sich vor Lachen verschluckt, könnte er sehen, wie sich seine „Bürde des Weißen Mannes“ verkehrt hat.
Früher sollten Europäer hinaus in die Welt ziehen, um zu zivilisieren.
Heute sollen sie zu Hause bleiben – und die Welt kommt stattdessen zu ihnen, um zivilisiert zu werden.
Der weiße Mann (und die weiße Frau, und überhaupt jeder Europäer, denn Hautfarbe ist inzwischen ohnehin nur noch psychologische Projektion) wird angefleht, die Versorgungslücken der Herkunftsstaaten zu füllen: Nahrung, Gesundheit, Arbeit, Wohnen, Bildung.
Kurz: ein funktionierender Staat.
Jener funktionierende Staat also, den die eigenen Führer trotz jahrzehntelanger Unabhängigkeit nicht zustande brachten.
Der Populismus klopft – und diesmal macht einer auf
Es ist nicht verwunderlich, dass viele Europäer sich weigern, diese „neue Bürde“ stillschweigend zu schultern.
Denn während von ihnen verlangt wird, Verständnis zu zeigen, Verständnis zu entwickeln und Verständnis zu leben, zeigen die Herkunftsstaaten nicht einmal ansatzweise Interesse daran, ihre eigenen Push-Faktoren zu beseitigen.
Die politische Reaktion in Europa ist daher vorprogrammiert: Parteien, die härtere Grenzpolitik fordern, gewinnen an Zustimmung. Nicht, weil die Menschen plötzlich böse geworden wären, sondern weil sie nicht mehr akzeptieren wollen, dass moralische Forderungen stets Einbahnstraßen sind.
Von Marshall-Plänen und Phrasendreschmaschinen
Natürlich gibt es Versuche, die Lage zu verbessern – etwa den Vorschlag eines neuen „Marshall-Plans“ für Afrika.
Doch schon das Wort selbst wirkt wie ein historisches Relikt, eine Hommage an Zeiten, in denen man noch glaubte, man müsse nur genügend Geld in ein defektes System kippen, dann laufe es irgendwann.
Die EU zeigt wenig Enthusiasmus, viele afrikanische Regierungen noch weniger.
Man kann schlecht jemanden retten, der nicht bereit ist, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen – und stattdessen nach einer Nothilfeversicherung ruft, die bitteschön stets auszuzahlen sei.
Ein Ausblick in vorsichtigem Optimismus
Was bleibt also?
Vielleicht die Erkenntnis, dass weder Schuldzuweisungen noch moralische Selbstkasteiung politische Lösungen hervorbringen.
Europa kann nicht die Lebensprobleme ganzer Kontinente absorbieren.
Afrika und der Nahe Osten werden nicht stabil, indem sie ihre arbeitswilligen Generationen in Schlauchboote setzen.
Was es braucht, ist nüchterne, unideologische Zusammenarbeit: Korruption bekämpfen, Verwaltung professionalisieren, Bevölkerungspolitik an die Realität anpassen.
Erst dann wird die gefährliche Migration sinken – und die „Bürde des Weißen Mannes“, dieses absurde Konzept aus missverstandener Moral und historischer Selbstverzerrung, endgültig vom Staub der Geschichte bedeckt werden.
Bis dahin aber wird Europa weiter an seiner Tür stehen, mal schuldbewusst, mal genervt, mal hilfsbereit – und hoffen, dass irgendwann auch auf der anderen Seite jemand beginnt, Verantwortung ernst zu nehmen.