I. Vom göttlichen Odem des Geldes
Es beginnt, wie so vieles, mit einer Offenbarung: Irgendwo in einem klimatisierten Sitzungsraum mit Teppichboden, auf dem man den Gang der Ungnade nicht hört, entscheidet ein erlauchter Kreis von Zentralbankern, dass die Welt ein bisschen mehr Geld braucht. Nicht, dass sie tatsächlich etwas braucht – nein, sie verlangt danach, wie ein Junkie nach dem nächsten Schuss Liquidität. Und weil wir moderne Menschen sind, drucken wir natürlich kein Geld mehr, das wäre ja so 20. Jahrhundert. Nein, wir „schaffen“ es – digital, elegant, steril.
Ein Tastendruck, und schon fließen Milliarden durch die Blutbahnen des Finanzsystems, als hätten Götter entschieden, den Regen auf die Gerechten und Ungerechten niedergehen zu lassen – nur dass die Regenschirme, rein zufällig, immer in den Händen der Gerechten landen.
Und da, lieber Leser, sind wir mitten im Cantillon-Effekt, diesem altklugen Scherz der Wirtschaftsgeschichte: Das Geld ist nicht gleich Geld. Es hat einen Ort der Geburt, und dort – in den ersten Augenblicken seiner Existenz – ist es mächtiger, frischer, unbefleckt. Wie der Tau auf der Wiese am Morgen. Nur dass die Wiese meist einem Hedgefonds gehört.
II. Wer zuerst kommt, konsumiert zuerst
Der Ire Richard Cantillon, dessen Name heute klingt, als wäre er eine Whisky-Marke für geldpolitische Feinschmecker, bemerkte bereits im 18. Jahrhundert: Wenn neues Geld ins System gepumpt wird, verändert es nicht alle Preise gleichzeitig. Nein, es sickert wie ein Parfum durch die Gesellschaft – zuerst in die Hände jener, die am Quell der Geldschöpfung sitzen: Banken, Investoren, Staat und andere, sagen wir mal, „systemrelevante“ Größen.
Diese Glücklichen erleben eine wundersame Blüte: Immobilienpreise steigen, Aktienkurse explodieren, Kunstwerke von zweifelhafter Ästhetik erzielen Rekordsummen, und der neue Porsche Taycan wird so selbstverständlich geleast wie der Toaster beim Discounter gekauft.
Doch wie das Wasser, das sich seinen Weg ins Tal bahnt, kommt das Geld irgendwann auch unten an – allerdings inzwischen verdünnt, entwertet, schal. Was bleibt, ist Inflation, jene elegante Form der Enteignung, die mit dem Charme der Unsichtbarkeit operiert. Die Preise steigen, aber das Gehalt bleibt, wie es ist – vielleicht gibt’s eine „angepasste“ Lohnerhöhung, die gerade so ausreicht, um die Illusion von Gerechtigkeit zu wahren.
Der Cantillon-Effekt ist somit das ökonomische Äquivalent zur Champagne-Pyramide auf einer Milliardärsparty: Man füllt oben ein, und unten bekommt man – wenn überhaupt – ein paar Tropfen, die den Boden klebrig machen.
III. Die Ästhetik des Geldschöpfungsakts
Man muss den modernen Geldschöpfungsprozess eigentlich als Performancekunst begreifen. Kein Maler könnte mit so viel Abstraktion arbeiten. Kein Philosoph könnte die Realität so elegant aushebeln. Die Zentralbank druckt kein Geld, sie „kauft Anleihen“. Die Regierung verschuldet sich nicht, sie „investiert“. Und der Markt fällt nicht, er „korrigiert“.
Wir leben in einer Ära der semantischen Aufblähung, wo jede fiskalische Obszönität in ein Wattekissen aus Euphemismen verpackt wird. Wenn Billionen auf Knopfdruck erschaffen werden, nennt man das nicht „Alchemie“, sondern „quantitative Lockerung“.
Und wie in jeder guten Religion braucht es auch hier Glauben – den Glauben an Stabilität, Wachstum und an die Fähigkeit der Herren (und Damen) im Anzug, den Geldhahn exakt so weit offen zu halten, dass niemand zu laut schreit. Denn wehe, das Vertrauen bricht: Dann wird aus der göttlichen Geldschöpfung ein bloßer Taschenspielertrick, und der Kaiser steht in der Bilanz nackt da.
IV. Die große Illusion der Chancengleichheit
Der Cantillon-Effekt ist der Beweis, dass Kapitalismus kein Wettrennen, sondern ein Staffellauf ist – nur dass manche schon mit dem Stab loslaufen, während andere noch auf den Startschuss warten.
Jene, die zuerst das neue Geld erhalten, investieren es in Vermögenswerte, deren Preise sie selbst nach oben treiben. Das ist eine selbstverstärkende Magie: Wer hat, dem wird gegeben. Wer nicht hat, der darf zusehen, wie der Traum vom Eigenheim zur Netflix-Dokumentation wird.
Und das Lustigste – oder Zynischste – an der Sache: Diejenigen, die das System am lautesten verteidigen, sind oft jene, die es am wenigsten verstehen. Sie glauben, ihr Wohlstand sei das Ergebnis harter Arbeit, Disziplin und Unternehmergeist – nicht das Produkt einer asymmetrischen Geldverteilung.
So schafft der Cantillon-Effekt nicht nur ökonomische, sondern auch moralische Inflation: Die Tugend des Erfolgs verliert an Wert, wenn sie beliebig repliziert werden kann, wie das Geld, das sie ermöglicht.
V. Inflation als Klassenkampf mit höflichen Mitteln
Inflation ist der höflichste Klassenkampf der Geschichte. Niemand ruft zur Guillotine, niemand zündet Barrikaden an. Stattdessen steigen einfach die Preise – leise, unscheinbar, statistisch moderat. Die Armen merken es an der Butter, die Mittelschicht an der Miete, die Reichen am Kunstmarkt.
Das System bleibt stabil, weil es elegant ungerecht ist. Die Ausbeutung geschieht nicht durch Peitsche oder Zinswucher, sondern durch die schleichende Entwertung dessen, was unten noch übrig bleibt.
Wenn Marx den Cantillon-Effekt gekannt hätte, er hätte vermutlich das „Kapital“ in einer Fußnote relativiert: „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte ungleicher Geldverteilung, getarnt als Konjunkturpolitik.“
Doch während Marx Revolution predigte, predigen wir heute Zinssenkungen. Der Fortschritt besteht darin, dass man das Elend quantifizieren kann – auf zwei Dezimalstellen genau.
VI. Der zynische Trost der Erkenntnis
Und so bleibt uns am Ende nur das Wissen – jenes süß-bittere Bewusstsein, dass das Spiel rigged ist, dass die Geldmaschine nicht für uns läuft, sondern durch uns hindurch. Wir sind das Substrat, auf dem der Wohlstand anderer gedeiht.
Aber vielleicht ist das ja der Trost: Wer den Cantillon-Effekt versteht, kann wenigstens lachen – über die Ironie, dass das „unsichtbare“ Geldsystem nur deshalb funktioniert, weil alle so tun, als sähen sie nichts.
Und was könnte menschlicher sein als das?
Epilog: Die göttliche Komödie der Liquidität
Am Ende des Tages ist der Cantillon-Effekt kein ökonomisches Phänomen, sondern ein literarisches. Ein Stück, das Dante hätte schreiben können: „Inferno Liquido“.
Die Zentralbanker spielen Gott, die Märkte sind Engel und Dämonen zugleich, und wir alle – wir sind die Pilger, die durch die Kreise der Geldschöpfung wandern, hoffend auf ein kleines Stück Himmel in einem Meer aus Schulden.
Vielleicht sollten wir weniger darüber reden, wie viel Geld geschaffen wird – und mehr darüber, wer zuerst damit einkaufen darf. Denn in dieser Reihenfolge liegt die Wahrheit – und der Witz, wenn man ihn zu sehen vermag.