Die verbale Keule als Grundnahrungsmittel

Überall Nazis und Hammerbanden

Es gehört inzwischen zur politischen Grundausstattung wie Salz zur Suppe oder Empörung zum Frühstückskaffee: die verbale Keule. Sie liegt griffbereit auf dem Tisch jeder Debatte, geschniegelt, poliert und stets einsatzbereit. Kaum öffnet jemand den Mund, kaum wagt ein Gedanke sich aus der Deckung der Selbstzensur, da saust sie auch schon nieder, begleitet vom moralischen Pfeifen der Luftverdrängung. Argumente werden nicht mehr widerlegt, sie werden erschlagen, und zwar möglichst geräuschvoll, damit auch der letzte Unbeteiligte im Nebenraum weiß: Hier wurde gerade Haltung gezeigt. Unsere politische Diskussionskultur hat sich von einem Austauschraum zu einem Schaukampfplatz entwickelt, auf dem nicht mehr Wahrheit oder Erkenntnis zählen, sondern die Frage, wer wen zuerst als Unmensch, Nazi, Kommunist, Faschist, Volksverräter oder wahlweise als unrettbaren Trottel etikettieren kann. Das Gespräch ist tot, lang lebe das Schlagwort.

Brüderlichkeit unter Vorbehalt

„Willst du nicht mein Bruder sein, so schlage ich dir den Schädel ein“ – dieser Satz wirkt wie eine groteske Übertreibung, und doch beschreibt er mit erschreckender Präzision das emotionale Grundmuster unserer Zeit. Die Einladung zur Gemeinschaft ist bedingt, die Solidarität befristet, die Toleranz widerrufbar. Bruder ist nur, wer nickt. Schwester nur, wer dieselben Parolen murmelt. Wer abweicht, wird nicht als Irrender betrachtet, sondern als Feind. Der Diskurs kennt keine Grautöne mehr, nur noch Lichtgestalten und Dämonen. Und wer fragt, warum, gilt bereits als verdächtig. Das politische Wir hat sich in eine Art Sekte verwandelt, die ihre Zugehörigkeit durch Abgrenzung definiert und deren innere Wärme ausschließlich aus der Kälte gegen andere gespeist wird.

Nazis überall und nirgends

Es ist eine eigentümliche Inflation zu beobachten: Nazis sind plötzlich überall. Sie sitzen im Bus, sie twittern, sie wählen falsch, sie stellen Fragen, sie zweifeln. Der Begriff, einst mit historischer Schwere beladen, wird heute wie Konfetti geworfen – bunt, laut und weitgehend folgenlos. Wer alles zum Nazi erklärt, erklärt am Ende nichts mehr. Die begriffliche Abrissbirne hat die feinen Unterschiede eingeebnet, und übrig bleibt eine moralische Wüste, in der jede Abweichung als Extremismus gilt. Gleichzeitig fühlen sich die tatsächlichen Extremisten bestens aufgehoben in diesem Nebel aus Übertreibung, denn wo alles Nazi ist, ist nichts mehr besonders schlimm. Die Diskursverrohung schützt ausgerechnet jene, die sie angeblich bekämpfen will.

Hammerbanden und die Romantik der gerechten Gewalt

Auf der anderen Seite marschieren sie auf, die selbsternannten Antifaschisten mit Faustrecht und Heiligenschein. Die Hammerbande als urbanes Märchen, halb Robin Hood, halb Straßenkampfseminar. Gewalt wird hier nicht als Problem, sondern als pädagogisches Mittel verstanden. Man schlägt nicht aus Hass, nein, man schlägt aus Liebe zur Demokratie. Die Faust wird zum Argument, der Stein zum moralischen Imperativ. Wer widerspricht, hat offenbar noch nicht genug Schläge gesehen, um die Wahrheit zu erkennen. So entsteht eine bizarre Allianz aus Autoritarismus und Selbstgerechtigkeit, die jede Kritik als Verrat brandmarkt und sich dabei einbildet, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen – ein Ort, der interessanterweise immer dort liegt, wo man selbst gerade steht.

Empörung als Ersatzhandlung

Empörung ist billig, jederzeit verfügbar und benötigt keinerlei intellektuelle Investition. Sie funktioniert wie Fast Food für das Gewissen: kurz sättigend, langfristig schädlich. In sozialen Netzwerken hat sie sich zur Leitwährung entwickelt. Wer nicht empört ist, existiert nicht. Wer differenziert, langweilt. Wer schweigt, macht sich schuldig. Also empört man sich im Akkord, teilt, liked, verurteilt und geht anschließend beruhigt schlafen, in dem festen Glauben, etwas Wichtiges getan zu haben. Die politische Diskussion verkommt zur rituellen Selbstvergewisserung der eigenen moralischen Überlegenheit, während die realen Probleme geduldig warten und sich fragen, warum niemand mehr mit ihnen spricht.

Der Verlust des Zweifels

Am schmerzlichsten ist vielleicht der Verlust des Zweifels. Zweifel galt einst als Tugend, als Zeichen von Denkbeweglichkeit und intellektueller Redlichkeit. Heute wirkt er wie ein Makel, ein Zeichen von Schwäche oder gar von illoyaler Gesinnung. Wer zweifelt, stört die klare Frontlinie, verwässert die Parole, gefährdet den Zusammenhalt der Empörten. Dabei ist es gerade der Zweifel, der Demokratie lebendig hält, der verhindert, dass Überzeugungen zu Dogmen und Meinungen zu Glaubenssätzen erstarren. Ohne Zweifel bleibt nur noch die Gewissheit – und die war historisch selten ein guter Ratgeber.

Ein augenzwinkernder Abgesang

Vielleicht bleibt uns am Ende nur der Humor, dieses kleine, widerspenstige Gegengift gegen die allgegenwärtige Verbissenheit. Ein Lachen, das nicht verhöhnt, sondern entlarvt. Ein Augenzwinkern, das sagt: Wir könnten auch anders. Wir könnten wieder reden, statt schlagen, zuhören, statt etikettieren, widersprechen, ohne zu vernichten. Es wäre ein Anfang, kein großer, kein heroischer, aber ein menschlicher. Bis dahin schwingen wir weiter die Keulen aus Worten, verteilen Nazis wie Rabattmarken und träumen von einer Diskussionskultur, die wir selbst gerade mit Hingabe demolieren – selbstverständlich im Namen des Guten.

Die inflationäre Frage und ihre moralische Zumutung

Leben wir in einer Gierflation? Schon das Wort klingt, als habe es sich heimlich an der Kasse der öffentlichen Debatte vorgedrängelt, zwischen „Zeitenwende“ und „Polykrise“, mit hochgezogenen Schultern und dem unschuldigen Blick eines Begriffs, der behauptet, nur beschreiben zu wollen, was doch alle längst fühlen. Und tatsächlich: Die Preise steigen, die Augenbrauen ebenfalls, und irgendwo dazwischen wächst der Verdacht, dass hier nicht allein anonyme Kräfte, sondern sehr konkrete Begehrlichkeiten am Werk sind. Gierflation – das ist mehr als ein ökonomischer Befund; es ist eine moralische Diagnose, eine Anklage mit Konjunktiv, ein Fingerzeig, der sich nicht entscheiden kann, ob er auf „die Märkte“, „die Konzerne“ oder am Ende doch auf uns selbst gerichtet ist. Die Frage ist also nicht nur, ob wir in einer Gierflation leben, sondern auch, wer hier eigentlich wen der Gier bezichtigt, während er selbst noch den letzten Sonderangebot-Joghurt in den Einkaufswagen hievt.

Die unsichtbare Hand mit sehr sichtbaren Fingern

Offiziell, so lernen wir seit Adam Smith und seinen zahlreichen PR-Abteilungen, reguliert sich der Markt selbst. Die berühmte unsichtbare Hand, die alles zum Guten wendet, sofern man sie nur ungestört arbeiten lässt, hat allerdings in den letzten Jahren auffällig an Muskelmasse zugelegt. Sie greift fester zu, sie hält länger fest, und vor allem lässt sie nur ungern wieder los. Preise steigen nicht mehr nur, weil Energie teurer wird, Lieferketten husten oder ein Krieg irgendwo die Weltordnung neu sortiert, sondern weil man festgestellt hat, dass sie steigen können. Ein kleiner, beinahe rührender Moment der Erkenntnis: Ach, die Kundschaft zahlt ja trotzdem. Und warum sollte man, wenn man schon einmal im Aufzug nach oben sitzt, nicht noch ein paar Etagen extra drücken? Gierflation bezeichnet genau diesen Augenblick, in dem aus Notwendigkeit Opportunismus wird, aus Vorsicht Gewinnmaximierung und aus ökonomischer Rationalität eine Art gesellschaftlich akzeptierter Raubzug mit Excel-Tabelle.

Das große Achselzucken der Verantwortlichen

Natürlich will es niemand gewesen sein. Die Unternehmen verweisen auf gestiegene Kosten, die Politik auf globale Zwänge, die Ökonomen auf komplexe Modelle, die leider gerade nicht griffbereit sind, und alle gemeinsam aufeinander. Verantwortung diffundiert, je größer die Gewinne werden, und löst sich schließlich vollständig auf, wie ein Stück Zucker im heißen Kaffee der öffentlichen Empörung. Gier, so scheint es, ist immer dort, wo man selbst gerade nicht steht. Sie wohnt in Vorstandsetagen, in anonymen Fonds, in „den Märkten“, niemals aber im eigenen Konsumverhalten, das man selbstredend nur als „notwendig“ und „wohlverdient“ begreift. Die Gierflation ist deshalb auch ein rhetorisches Kunststück: Sie erlaubt es, Empörung zu empfinden, ohne allzu genau hinzusehen, und moralisch aufzutrumpfen, ohne sich selbst aus dem Spiel zu nehmen.

Konsumenten als Opfer mit Kreditkarte

Denn während wir empört über Preisexplosionen klagen, greifen wir weiterhin zu, klicken weiter, bestellen noch schnell vor Mitternacht, um den kostenlosen Versand mitzunehmen, und trösten uns mit dem Gedanken, dass man sich ja auch irgendetwas gönnen müsse in diesen schweren Zeiten. Der moderne Konsument ist ein paradoxes Wesen: Er fühlt sich ausgebeutet und souverän zugleich, manipuliert und entscheidungsfrei, arm und anspruchsvoll. Gierflation funktioniert nur, weil sie auf ein Publikum trifft, das tief in sich selbst einen kleinen, aber hartnäckigen Wunsch nach immer mehr, immer schneller, immer bequemer hegt – und diesen Wunsch nur ungern als das bezeichnet, was er ist. Die Preisschilder mögen frech geworden sein, aber sie sprechen auch eine Sprache, die wir allzu gut verstehen.

Moralische Empörung als gesellschaftliches Schmiermittel

Die Debatte um die Gierflation erfüllt dabei eine wichtige soziale Funktion: Sie kanalisiert Frust. Sie erlaubt es, komplexe Zusammenhänge auf ein handliches Feindbild zu reduzieren, das sich gut empören lässt und noch besser teilen. Wer von Gierflation spricht, positioniert sich automatisch auf der Seite der Anständigen, der Vernünftigen, derer, die „das Spiel durchschauen“. Dass man selbst Teil dieses Spiels ist, wird dabei elegant ausgeblendet, wie der eigene Schatten an einem sehr sonnigen Tag. Die Empörung wird zur Währung, mit der man sich moralische Überlegenheit erkauft, während im Hintergrund die Preise weiter steigen – vielleicht sogar ein wenig beschleunigt durch die kostenlose Aufmerksamkeit, die jede Skandalisierung mit sich bringt.

Leben wir also in einer Gierflation?

Vielleicht ist die ehrlichste Antwort eine unbefriedigende: Ja. Aber nicht nur. Wir leben in einer Zeit, in der reale Knappheiten, geopolitische Verwerfungen und strukturelle Probleme auf eine Kultur treffen, die gelernt hat, jede Gelegenheit zur Gewinnsteigerung auszureizen – und auf Konsumenten, die gelernt haben, sich darüber zu beklagen, ohne ihr Verhalten ernsthaft zu ändern. Die Gierflation ist weniger ein klar umrissener Zustand als ein Spiegel, in dem wir eine verzerrte, aber durchaus erkennbare Version unserer selbst betrachten. Man kann diesen Spiegel zerschlagen, man kann ihn anklagen, man kann ihn satirisch kommentieren – doch das Bild dahinter verschwindet nicht. Es grinst uns weiter an, augenzwinkernd, ein wenig zynisch, und fragt leise zurück: Und du?

Wie viel davon bist eigentlich du?

Prof. Jeffrey D. Sachs an BK Merz

Offener Brief an Bundeskanzler Friedrich Merz
Sicherheit ist unteilbar – und Geschichte zählt


Kernaussagen des offenen Briefes

1. Sicherheit ist unteilbar

Europäische Sicherheit beruht auf dem Prinzip, dass kein Staat seine Sicherheit auf Kosten eines anderen erhöhen kann. Dieses Grundprinzip ist in der Schlussakte von Helsinki, der OSZE und der europäischen Nachkriegsordnung verankert. Sicherheitsgarantien gelten wechselseitig, nicht einseitig.

2. Vorwurf historischer Unehrlichkeit Deutschlands

Deutschland wird vorgeworfen, seine eigene Rolle seit 1990 zu beschönigen oder zu verdrängen. Die aktuelle sicherheitspolitische Rhetorik ignoriere historische Zusammenhänge und trage zur Eskalation bei, statt zu Deeskalation und Frieden.

3. NATO-Osterweiterung und gebrochene Zusicherungen

Im Kontext der deutschen Wiedervereinigung habe Deutschland der sowjetischen bzw. russischen Führung zugesichert, dass es keine NATO-Osterweiterung geben werde. Diese Zusicherungen seien politisch entscheidend gewesen und später missachtet worden – ein Akt des Geschichtsrevisionismus.

4. NATO-Interventionen als Destabilisierungsfaktoren

  • 1999 Serbien: Deutsches Mitwirken an einem NATO-Krieg ohne UN-Mandat habe die europäische Sicherheitsordnung grundlegend verändert.
  • 2002 ABM-Vertrag: Der US-Ausstieg aus dem ABM-Vertrag und Deutschlands Schweigen hätten die Rüstungskontrolle untergraben.
  • 2008 Kosovo: Die Anerkennung des Kosovo habe das Prinzip territorialer Integrität beschädigt und gefährliche Präzedenzfälle geschaffen.

5. Ignorierte russische Sicherheitsinteressen

Russische Sicherheitsbedenken – insbesondere hinsichtlich Ukraine und Georgien – seien über Jahrzehnte hinweg ignoriert worden. Das sei keine Diplomatie, sondern bewusste Eskalation.

6. Deutschlands Rolle in der Ukraine seit 2014

  • Das von Deutschland garantierte Abkommen vom 21. Februar 2014 sei nach dem Umsturz folgenlos geblieben.
  • Minsk II (2015): Deutschland habe als Garantiemacht versagt, da die Ukraine zentrale Vereinbarungen nicht umsetzte. Spätere Eingeständnisse, Minsk sei vor allem Zeitgewinn gewesen, untergraben Vertrauen.

7. Kritik an Waffenlieferungen und Kriegsrhetorik

Forderungen nach immer mehr Waffen und „Entschlossenheit“ werden als Ersatz für ernsthafte Diplomatie kritisiert. Die Öffentlichkeit werde moralisch vereinfacht und politisch infantilisiert.

8. Rückbesinnung auf Ostpolitik und Diplomatie

Die frühere Ostpolitik wird als Beispiel strategischer Reife dargestellt. Frieden erfordere Dialog, Rüstungskontrolle, wirtschaftliche Kooperation und die Anerkennung legitimer Sicherheitsinteressen Russlands.

9. Forderungen für eine neue europäische Sicherheitsordnung

  • Ende der NATO-Osterweiterung, insbesondere Richtung Ukraine und Georgien
  • Neutralität der Ukraine mit internationalen Garantien
  • Gegenseitige Entmilitarisierung entlang der Grenzen
  • Aufhebung von Sanktionen im Rahmen einer Verhandlungslösung
  • Ablehnung der Beschlagnahmung russischer Vermögen
  • Stärkung der OSZE statt NATO-Zentralität
  • Rückkehr zur Rüstungskontrolle (INF, nukleare Abrüstungsgespräche)

10. Appell an historische Ehrlichkeit

Ohne ehrliche Aufarbeitung der Vergangenheit gebe es kein Vertrauen, ohne Vertrauen keine Sicherheit. Europa riskiere, alte Katastrophen zu wiederholen, wenn es Geschichte verdrängt.


Zentrale Botschaft

Der Brief fordert Deutschland auf, Diplomatie, historische Ehrlichkeit und eine inklusive europäische Sicherheitsarchitektur über militärische Eskalation, moralische Rhetorik und Bündnisautomatismen zu stellen. Sicherheit könne nur gemeinsam – nicht gegen Russland – erreicht werden.

Die verblüffend einfache Lösung …

… für ein notorisch kompliziertes Problem

Es gibt Ideen, die sind so bestechend einfach, dass man sich fragt, warum sie nie den Weg in die sonntäglichen Talkshows gefunden haben, warum kein Thinktank sie mit einem englischen Akronym geadelt und warum kein Strategiepapier sie in Diagramme gegossen hat. Meist liegt es daran, dass sie zwar logisch zwingend, moralisch provokant und gedanklich sauber sind, aber eben das eine große Tabu berühren: die Trennung zwischen denen, die über Krieg sprechen, entscheiden, schreiben und profitieren – und denen, die ihn führen, erleiden und überleben müssen. Der Krieg, dieses altehrwürdige Menschheitsritual, wird seit Jahrhunderten mit einer bemerkenswerten Arbeitsteilung betrieben. Die einen sitzen an langen Tischen, unter Kronleuchtern oder LED-Panels, formulieren Ziele, Narrative und rote Linien, während die anderen im Schlamm liegen, frieren, bluten und sterben. Und genau an dieser Stelle setzt die ebenso ketzerische wie charmant naive Frage an: Was wäre eigentlich, wenn man diese Arbeitsteilung einfach einmal aufheben würde? Nicht mit Revolution, nicht mit moralischer Empörung, sondern mit einer organisatorischen Maßnahme von entwaffnender Banalität.

Rekrutierung einmal anders gedacht

Stellen wir uns also – rein gedanklich, versteht sich, denn Satire darf alles, was Realität sich nicht traut – eine Mobilmachung vor, die nicht wie üblich am unteren Ende der sozialen Nahrungskette beginnt, sondern ganz oben. Keine anonymen Jahrgänge, keine statistischen Kollateralschicksale, sondern namentlich bekannte, gut ausgeleuchtete Biografien. Söhne und Töchter von Politikern aller Couleur, sorgfältig kuratiert ergänzt durch Journalisten, die sonst mit sicherer Stimme Frontverläufe erklären, Parteiführer, die gerne von historischer Verantwortung sprechen, Industriekapitäne, deren Gewinne in Rüstungsberichten aufblühen, Angehörige der oberen Zehntausend, die Krieg bislang nur aus Kunstauktionen und Benefizgalas kennen, sowie NGO-Funktionäre, die mit ernster Miene Leid verwalten, ohne es je riechen zu müssen. Man würde sie ausstatten, selbstverständlich regelkonform, mit dem gleichen Gerät, den gleichen Rationen, den gleichen Risiken wie all jene, die sonst stillschweigend als „verfügbares Personal“ gelten. Keine Sonderverpflegung, keine gepanzerten Pressebusse, keine humanitären Ausnahmen. Nur das, was Krieg eben ist, wenn man ihn nicht abstrahiert.

Die pädagogische Kraft der Realität

Die Wirkung dieser Maßnahme wäre vermutlich pädagogisch überwältigend. Denn Krieg ist vor allem eines: ein radikaler Lehrer. Er unterrichtet nicht in Seminarräumen, sondern mit Kälte, Angst und Zufall. Innerhalb weniger Stunden würde sich eine bemerkenswerte Transformation vollziehen. Begriffe wie „strategische Geduld“, „robuste Mandate“ oder „notwendige Eskalationsschritte“ verlören ihre geschmeidige Rhetorik und würden zu dem, was sie immer schon waren: Euphemismen für persönliches Risiko. Der zynische Charme dieser Vorstellung liegt darin, dass sie niemanden überzeugt, sondern alle betrifft. Es bräuchte keine Proteste, keine Petitionen, keine moralischen Appelle. Die Realität selbst würde argumentieren, mit einer Überzeugungskraft, gegen die kein Leitartikel, keine Pressekonferenz und kein Parteitagsbeschluss ankommt. Plötzlich würde jede militärische Option nicht mehr als abstrakte Möglichkeit, sondern als potenzielle SMS an das eigene Kind gedacht. Und erstaunlicherweise, so darf man vermuten, schrumpft in solchen Momenten der Spielraum für heroische Großworte dramatisch.

Medienlogik unter Beschuss

Besonders reizvoll ist der Gedanke, was dies mit der medialen Begleitmusik des Krieges machen würde. Journalisten an der Front, nicht als Beobachter, sondern als Beteiligte – was für ein Genrebruch! Die vertraute Distanz, aus der man sonst Verluste in Zahlenkolonnen verwandelt, wäre dahin. Jeder Bericht wäre zugleich Selbstporträt, jede Analyse ein Bericht aus der eigenen Verletzlichkeit. Die Schlagzeilen würden sich verändern, nicht aus Zensur, sondern aus Selbsterhaltung. Pathos hat bekanntlich eine geringe Halbwertszeit, wenn es im Schützengraben rezitiert werden muss. Und der Zynismus, dieses beliebte Stilmittel der feuilletonistischen Kriegserklärung, verdunstet erstaunlich schnell, wenn der Einschlag nicht metaphorisch ist. Man könnte fast von einer Demokratisierung der Angst sprechen, einer Gleichverteilung dessen, was sonst sorgfältig sozial selektiert wird.

Wirtschaft, Verantwortung und der Preis der Metapher

Auch die Wirtschaft würde eine neue Beziehung zur Realität entwickeln. Industriekapitäne, die bislang in Quartalszahlen denken, müssten lernen, dass Lieferketten im Krieg nicht nur unterbrochen, sondern zerrissen werden – und dass das eigene Erbe nicht in Aktienpaketen, sondern in Feldpostbriefen verhandelt wird. Die berühmte „Verantwortung der Wirtschaft“ bekäme eine ganz neue, schmerzlich konkrete Bedeutung. Investitionen in Sicherheit würden nicht mehr als abstrakte Marktchancen erscheinen, sondern als Fragen nach Helmqualität und Funkreichweite. Und vielleicht, nur vielleicht, würde man erkennen, dass Frieden nicht die Abwesenheit von Geschäft ist, sondern dessen nachhaltigste Form.

NGO Idealismus trifft Matsch

Selbst die Welt der Nichtregierungsorganisationen, sonst moralisch unangreifbar und rhetorisch stets auf der richtigen Seite der Geschichte, würde von dieser Erfahrung nicht unberührt bleiben. Idealismus ist ein kostbares Gut, aber er neigt zur Veredelung des Leidens, wenn er es nur verwaltet. Im Feld, fernab von Konferenzen und Förderanträgen, würde sich zeigen, wie belastbar die eigenen Narrative sind. Humanitäre Prinzipien unter Beschuss – im wörtlichen wie im übertragenen Sinn – sind eine harte Prüfung. Doch genau darin läge ihr Wert: Moral, die nicht nur verkündet, sondern durchlitten wird, gewinnt eine Glaubwürdigkeit, die kein Bericht je ersetzen kann.

Achtundvierzig Stunden später

Und dann, so die kühne Wette, wäre nach achtundvierzig Stunden Schluss. Nicht, weil plötzlich alle Menschen besser, klüger oder friedfertiger geworden wären, sondern weil der Preis des Krieges endlich dort angekommen wäre, wo er entschieden wird. Waffenstillstände würden sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit materialisieren, diplomatische Kanäle, die zuvor als „ausgereizt“ galten, erwiesen sich als überraschend aufnahmefähig. Unüberbrückbare Gegensätze schrumpften auf verhandelbare Interessen zusammen, sobald sie nicht mehr mit fremdem Blut bezahlt werden können. Der Krieg, dieses vermeintlich unvermeidliche Schicksal, entpuppte sich als das, was er immer war: eine Frage der Verteilung von Risiko und Leid.

Wetten dass

Natürlich weiß jeder halbwegs nüchterne Mensch, dass all dies niemals geschehen wird. Satire lebt von der Überzeichnung, vom gedanklichen Kurzschluss, der die Absurdität der Realität sichtbar macht. Doch gerade deshalb trifft diese Idee einen wunden Punkt. Sie legt offen, dass Kriege nicht an mangelnden Lösungen scheitern, sondern an mangelnder Betroffenheit. Solange die Entscheidenden sicher sind, bleibt der Krieg eine Option. Würde man diese Sicherheit aufheben, nicht rhetorisch, sondern real, dann wäre Frieden keine utopische Vision mehr, sondern eine pragmatische Notwendigkeit. Und genau darin liegt der augenzwinkernde, bitter-süße Humor dieses Gedankens: Er ist so offensichtlich richtig, dass er nur als Witz überleben kann. Wetten, dass?

Die Einheitsseite und das Rascheln der Gleichschaltung

Wer heute die Zeitungsseiten aufschlägt, dieses morgendliche Rascheln des Papiers – sofern man noch zu den Exzentrikern gehört, die Zeitung nicht mit dem Daumen wegwischt, sondern mit beiden Händen hält –, der könnte versucht sein, den alten, staubigen Begriff der Verstaatlichung hervorzukramen. Nicht, weil irgendwo ein Minister mit rotem Stempel in der Druckerei stünde, sondern weil die Tonlage, die Metaphern, die moralischen Markierungen eine solche Einförmigkeit erreicht haben, dass man sich fragt, ob Pluralismus nicht heimlich als Tippfehler gilt. Europa, so lesen wir, sei geschlossen. Einig. Unerschütterlich. Wer anderes behauptet, ist mindestens naiv, meist verdächtig und gelegentlich gleich ganz draußen. Die Wirklichkeit hingegen, dieses widerspenstige, mehrschichtige Gebilde, wird auf die angenehme Eindimensionalität einer regierungsfreundlichen Erzählung zurechtgehobelt. Die Kanten schleifen wir weg, die Widersprüche auch, und wenn doch einer hervorsteht, nennen wir ihn „Desinformation“ und gehen weiter zur Wetterkarte.

Dabei beginnt jede Konfliktlösung – das weiß jeder Paartherapeut, jeder Mediator, jeder halbwegs reflektierte Mensch – mit dem schmerzhaften, oft peinlichen Aufarbeiten der Ursachen. Politisch jedoch gilt diese Einsicht offenbar als Zumutung. Ursachen stören die klare Frontlinie. Sie relativieren. Sie werfen Fragen auf, wo man Antworten verkünden möchte. Also unterblieb auch diesmal die Aufarbeitung. Wieder einmal. Stattdessen hantieren wir mit moralischen Schablonen, die so vertraut sind, dass sie kaum noch auffallen. John F. Kennedy handelte 1962 selbstverständlich legitim, als er die Stationierung sowjetischer Nuklearwaffen auf Kuba mit einer Kriegsdrohung beantwortete. Dass es dabei um verkürzte Vorwarnzeiten, um existenzielle Sicherheitsängste ging, wird als kluger Realismus gefeiert. Wenn jedoch Wladimir Putin im Dezember 2021 unter Verweis auf eben solche Vorwarnzeiten die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine als inakzeptabel bezeichnet, dann ist das – welch Überraschung – illegitim, paranoid, imperial. Die Regel lautet: Was wir tun, ist Verteidigung. Was die anderen tun, ist Aggression. Das ist keine Analyse, das ist Liturgie.

Die Gnade der Selbstvergebung

Westliches Europa möchte über die NATO-Osterweiterung im Vorfeld des Ukraine-Krieges nicht sprechen. Nicht, weil es nichts dazu zu sagen gäbe, sondern weil es zu viel zu sagen gäbe. Wir sind gnädig – vor allem zu uns selbst. Der Westen unterstellt, mit einer beneidenswerten Selbstverständlichkeit, dass es nur eine Wahrheit gibt: seine eigene. Wer darauf hinweist, dass Geschichte auch nach 1990 nicht aufgehört hat, Geschichte zu sein, dass Versprechen gegenüber Gorbatschow gemacht wurden – ob juristisch bindend oder nicht –, wird mit einem Achselzucken abgespeist. Papier ist geduldig, heißt es dann. Erinnerung offenbar nicht. Fest steht: Ohne eine ehrliche Aufarbeitung der westlich-russischen Beziehungen nach dem Ende des Kalten Krieges, ohne die nüchterne Betrachtung dessen, was gesagt, gemeint, verstanden und missverstanden wurde, wird sich keine neue Balance finden lassen. Das Unausgesprochene jedoch, das Verdrängte, verdichtet sich. Es gerinnt zu Ängsten, und Ängste haben ein unangenehmes Aggressionspotenzial. Aus dem Gefühl, nicht ernst genommen zu werden, wächst der Minderwertigkeitskomplex, und dieser steigert sich, wie so oft in der Geschichte, zur Großmannssucht. Das ist keine Entschuldigung, aber eine Erklärung – und Erklärungen sind das Letzte, was man im moralischen Furor noch gelten lässt.

Das Ende des Triumphalismus und der lange Schatten der Neunziger

Der große Triumphalismus der Neunziger, dieser Kinderglaube, nach der Implosion der Sowjetunion ließe sich eine westlich geprägte Weltordnung wie ein Betriebssystem global installieren, hat sich verflüchtigt. Die aus Amerika importierte Agenda, die mit der NATO-„open door policy“ begann und mit den EU-Beitrittsverhandlungen der Ukraine ihren vorläufigen Höhepunkt fand, war getragen von der Annahme, Geschichte habe sich entschieden, und zwar endgültig. Wer widersprach, war ein Anachronismus. Russland jedoch erwies sich als ausgesprochen schlecht erzogenes Kind der Geschichte. Die Wiedererwachen einer Hegemonialmacht, die mit der Annexion der Krim einen blutigen Schlussstrich unter das westliche Umgestaltungsansinnen zog, wurde im Westen mit moralischer Empörung beantwortet, nicht mit selbstkritischer Analyse. Die Idee, sich die früheren Staaten des Warschauer Paktes und des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe einzuverleiben – politisch, militärisch, kulturell –, wurde von Putin für ungültig erklärt. Nicht elegant, nicht friedlich, aber wirkungsvoll. Dass man diese Ungültigerklärung vielleicht hätte antizipieren können, passt nicht ins Drehbuch.

Kleine Nationen und das große Grinsen

Als Kaja Kallas im Mai 2024 auf einer Podiumsdiskussion plaudernd davon sprach, man müsse Russland in Einzelteile zerlegen, „more like small nations“, und dabei dieses entwaffnend fröhliche Grinsen aufsetzte, war das ein jener Momente, in denen sich politische Hybris ungewollt selbst entlarvt. Der Satz fiel leicht, zu leicht. Er fiel aus dem Mund einer Politikerin, die sich offenbar sicher war, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen – jener Seite, auf der man solche Dinge sagen darf, ohne sie zu Ende denken zu müssen. Es hat nicht geklappt. Russland zerfiel nicht in handliche Portionen. Stattdessen beginnt nun etwas anderes zu bröckeln: die Europäische Union selbst, diese mühsam zusammengehaltene Konstruktion, droht sich in „small nations“ zu zerlegen, nicht durch äußeren Zwang, sondern durch innere Erschöpfung, wirtschaftliche Überforderung und politische Ratlosigkeit. Ironie ist bekanntlich die Höflichkeit der Geschichte.

Regimewechsel, Wunschdenken und der Bumerang

Ein Regime Change war das erklärte oder zumindest hoffnungsvolle Ziel. Russland sollte eine andere Regierung bekommen, so wie schon so viele andere Staaten zuvor. Man setzte auf Figuren, die im eigenen Land kaum Rückhalt hatten, bezahlte einen rechtsradikalen Schlägertypen mit zwei Prozent Anhängerschaft, stilisierte ihn zum Hoffnungsträger – und entsorgte ihn diskret, als er nicht mehr zu gebrauchen war. Auch das hat nicht geklappt. Stattdessen dämmert eine unangenehme Erkenntnis: Möglicherweise werden wir selbst „eine andere Regierung“ bekommen. Nicht als Ergebnis eines genialen Masterplans, sondern als Reaktion auf ökonomischen Druck, soziale Verwerfungen und eine Politik, die den eigenen Bürgern jahrelang erklärte, es gebe keine Alternativen. Das wird bitter. Denn Regimewechsel sind immer leichter zu fordern als zu ertragen, wenn sie vor der eigenen Haustür stattfinden.

Die Bilanz des Gegenteils

Die Liste der verfehlten Ziele liest sich wie eine Satire, wäre sie nicht so unerquicklich real. Wir wollten, dass Russland sich kaputtrüstet – nun rüsten wir uns selbst kaputt. Wir wollten Russland wirtschaftlich ruinieren – und stolpern über Energiepreise, Deindustrialisierung und Standortdebatten. Wir wollten Russland international isolieren – und stellen fest, dass große Teile der Welt höflich nicken, aber andere Geschäfte machen, während Europa zunehmend allein mit seinem moralischen Furor steht. Nichts hat geklappt. Eigentlich ist von allem das Gegenteil eingetreten. Man könnte lachen, wenn einem nicht das Lachen im Hals stecken bliebe.

Dabei sei, bei aller Polemik, auf eine Differenz hingewiesen, die im pauschalen Europa-Diskurs gern untergeht: Nicht alle Länder des Kontinents bergen die gleichen Risiken und tragen die gleichen Hypotheken. Osteuropa etwa, jahrzehntelang von der Sowjetunion besetzt, blieb paradoxerweise von den frühen Phasen jenes westlichen Prozesses der Entwurzelung und des kulturellen Abbaus verschont, dessen Folgen heute in Westeuropa so unübersehbar sind. Dort, wo Traditionen nicht freiwillig aufgegeben, sondern gewaltsam unterdrückt wurden, erwiesen sie sich als erstaunlich widerständig. Vielleicht liegt darin eine Lehre, die man lesen könnte – wenn man denn bereit wäre, zwischen den Zeilen zu lesen und nicht nur die Einheitsseite aufzuschlagen.

Der leise Zerfall

David Betz, Professor für Kriegsforschung am King’s College London, vertritt die These, dass in mehreren westlichen Ländern künftig gewaltsame innere Konflikte bis hin zu Bürgerkriegen wahrscheinlich, teils unvermeidlich sind. Ausgangspunkt seiner Analyse ist weniger ein einzelnes Ereignis als ein langfristiger Erosionsprozess westlicher Gesellschaften. Zentral sind für ihn drei miteinander verflochtene Entwicklungen: der Verlust politischer Legitimität, die Fragmentierung kollektiver Identität und der Zerfall sozialen Zusammenhalts.

Betz argumentiert, dass Legitimität nicht allein aus formaler Legalität entsteht, sondern aus der wahrgenommenen Übereinstimmung zwischen politischem Handeln und dem Willen der Wähler. Wenn breite Teile der Bevölkerung glauben, dass Wahlen folgenlos sind und politische Entscheidungen jenseits demokratischer Kontrolle getroffen werden, steigt die Bereitschaft, sich dem System zu entziehen oder es aktiv herauszufordern. Der Brexit-Prozess markiert für ihn einen Wendepunkt, weil hier sichtbar wurde, wie politische Eliten ein demokratisches Mandat relativierten und damit ihre eigene Legitimität untergruben.

Zukünftige Konflikte beschreibt Betz weniger als klassische Bürgerkriege mit klaren Fronten, sondern als langwierige, fragmentierte Aufstandsprozesse: paramilitärische Gruppen, ethnisch oder kulturell definierte Enklaven, ein Staat, der nur noch punktuell Kontrolle ausübt. Zwei Hauptvektoren treiben diese Entwicklung an: erstens eine Revolte gegen kosmopolitische Eliten („Anywheres“) durch sesshafte Bevölkerungsgruppen („Somewheres“), zweitens identitäre Polarisierung, verstärkt durch Masseneinwanderung und Multikulturalismus.

Betz stützt sich unter anderem auf die Forschung zum Sozialkapital (Robert Putnam) und auf Bürgerkriegsforschung (Barbara Walter). Er sieht keinen realistischen politischen Ausweg innerhalb der bestehenden institutionellen Rahmenbedingungen, da systemkritische Parteien juristisch, administrativ oder politisch blockiert würden. Besonders gefährdet hält er Länder wie Frankreich, Großbritannien und Irland.


Die Provokation der Nüchternheit

Die eigentliche Zumutung von David Betz’ Diagnose liegt nicht in ihrer Drastik, sondern in ihrer Tonlage. Er ruft nicht zum Umsturz auf, er warnt nicht mit erhobenem Zeigefinger, er schreit nicht. Er erklärt. Und gerade diese ruhige, fast bürokratische Sprache verleiht seiner These Sprengkraft. Wenn ein Aufstandsforscher feststellt, ein Bürgerkrieg könne unvermeidlich werden, klingt das weniger nach Ideologie als nach Befund. Betz präsentiert den westlichen Gesellschaften keinen Untergangsmythos, sondern eine Art Schadensbericht über ein politisches System, das seine eigenen Grundlagen aufgezehrt hat.

Legitimität als unsichtbare Infrastruktur

Im Zentrum von Betz’ Analyse steht der Begriff der Legitimität. Sie ist für ihn keine juristische Formalie, sondern eine fragile psychopolitische Ressource. Staaten funktionieren nicht primär durch Zwang, sondern durch Zustimmung. Diese Zustimmung speist sich aus der Überzeugung, dass politische Institutionen den geäußerten Präferenzen der Bürger zumindest prinzipiell Rechnung tragen. Geht dieser Glaube verloren, steigen die Kosten des Regierens exponentiell.

Der Westen, so Betz, leidet unter einer tiefen Legitimitätskrise. Wahlen werden als symbolische Rituale wahrgenommen, reale Entscheidungen scheinen vorab in elitären, transnationalen oder technokratischen Räumen getroffen zu werden. Die Politik erscheint als Theater ohne Konsequenzen. In der Aufstandsforschung gilt genau diese Wahrnehmung als klassischer Nährboden für systemfeindliche Mobilisierung.

Brexit als Symptom, nicht als Ursache

Der Brexit fungiert in Betz’ Denken als Brennglas. Nicht das Referendum selbst, sondern der anschließende Umgang der politischen Klasse mit dessen Ergebnis erschütterte für ihn das Vertrauen in die demokratische Ordnung. Der Versuch, das Votum zu verzögern, umzudeuten oder faktisch zu neutralisieren, wurde von vielen Bürgern als Missachtung ihres politischen Willens empfunden.

Hier zeigt sich ein zentrales Motiv: Eliten, die sich als rationaler, moralischer oder aufgeklärter begreifen als die Wähler, sägen an dem Ast, auf dem sie sitzen. Die Absicht mag stabilisierend gewesen sein, die Wirkung war delegitimierend. Für Betz ist dies kein britischer Sonderfall, sondern ein Muster westlicher Demokratien.

Der Bürgerkrieg des 21. Jahrhunderts

Betz’ Verständnis von Bürgerkrieg unterscheidet sich deutlich von historischen Bildern. Er erwartet keine klaren Fronten, sondern einen langwierigen Prozess niedriger bis mittlerer Intensität. Gewalt äußert sich in Anschlägen, lokalen Machtkämpfen, territorialen Fragmentierungen. Der Staat verliert schrittweise die Fähigkeit, Ordnung flächendeckend durchzusetzen, und beschränkt sich auf strategisch wichtige Zonen.

Diese Konflikte sind nicht punktuell, sondern progressiv. Sie entwickeln sich aus tieferliegenden sozialen Dynamiken, die lange unter der Oberfläche wirken. Wenn Gewalt offen ausbricht, ist der entscheidende Kipppunkt meist bereits überschritten.

Zwei Vektoren der Destabilisierung

Betz identifiziert zwei Hauptkräfte, die diesen Prozess antreiben. Der erste ist die Revolte gegen Eliten. Der Gegensatz zwischen „Somewheres“ und „Anywheres“ beschreibt eine kulturelle und soziale Spaltung: hier die lokal verwurzelten Mehrheiten, dort eine mobile, kosmopolitische Elite, die Institutionen dominiert und postnationale Ideale vertritt. Viele Bürger empfinden, dass diese Eliten den Gesellschaftsvertrag einseitig aufgekündigt haben.

Der zweite Vektor ist identitärer Natur. In Zeiten wachsender Unsicherheit suchen Menschen Schutz in kollektiven Zugehörigkeiten. Ethnische, religiöse und kulturelle Identitäten gewinnen an Bedeutung, während nationale Identität an Integrationskraft verliert. Die Folge sind Segregation, Parallelgesellschaften und eine Erosion des gemeinsamen sozialen Raums.

Multikulturalismus und der Verlust des sozialen Kapitals

Besonders kontrovers ist Betz’ Einschätzung des Multikulturalismus. Unter Rückgriff auf Robert Putnam argumentiert er, dass steigende ethnische Diversität kurzfristig das soziale Vertrauen schwächt. Weniger Vertrauen bedeutet weniger freiwilliges Engagement, mehr Angst, mehr Rückzug – klassische Vorbedingungen innerer Konflikte.

Die Hoffnung, dass sich langfristig neue Formen des Zusammenhalts entwickeln, habe sich bislang nicht erfüllt. Stattdessen beobachtet Betz einen beschleunigten Zerfall sozialer Kohäsion, insbesondere in urbanen Räumen. Was lange als Randkritik galt, sei inzwischen selbst im politischen Mainstream angekommen – oft jedoch ohne praktische Konsequenzen.

Narrative statt Führung

Ein weiterer zentraler Punkt ist Betz’ Analyse moderner Mobilisierung. Aufstände benötigen keine hierarchische Führung, sondern ein überzeugendes Narrativ. Ein gemeinsamer Deutungsrahmen reicht aus, um individuelles Handeln zu synchronisieren. Wird eine kollektive Kränkung als existenziell und absichtlich wahrgenommen, entsteht eine Eigendynamik, die sich staatlicher Kontrolle entzieht.

Der Glaube, dass ein Teil der Bevölkerung systematisch verdrängt oder ersetzt werde, wirkt dabei als mächtiger Mobilisator – unabhängig davon, ob man diese Wahrnehmung teilt oder nicht. Politisch relevant ist nicht ihre objektive Wahrheit, sondern ihre subjektive Verankerung.

Der fehlende politische Ausweg

Am düstersten ist Betz’ Ausblick. Er sieht kaum Möglichkeiten, den eingeschlagenen Kurs innerhalb der bestehenden politischen Regeln zu korrigieren. Systemkritische Parteien würden juristisch bekämpft, administrativ blockiert oder moralisch delegitimiert. Selbst ein Wahlsieg garantiere keine reale Gestaltungsmacht.

Damit entsteht ein Teufelskreis: Je stärker Veränderungen blockiert werden, desto plausibler erscheint außerinstitutioneller Widerstand. Der Staat verliert nicht nur Legitimität, sondern auch die Fähigkeit zur Selbstkorrektur.

Schluss: Warnung oder Beschreibung?

David Betz liefert keine Prophezeiung im mystischen Sinn, sondern eine analytische Verdichtung zahlreicher sozialwissenschaftlicher Befunde. Sein Interview ist weniger ein Aufruf als ein Spiegel. Es konfrontiert westliche Gesellschaften mit der Möglichkeit, dass ihre größte Gefahr nicht von außen kommt, sondern aus der schleichenden Aushöhlung ihrer eigenen Grundlagen.

Ob man seine Schlussfolgerungen teilt oder nicht: Die Fragen, die er stellt, lassen sich nicht länger als extremistisch oder randständig abtun. Sie betreffen den Kern moderner Demokratien – und die unbequeme Einsicht, dass Stabilität kein Naturzustand ist, sondern eine politische Leistung, die auch wieder verlernt werden kann.

Formularbeginn

Das Aufgelöste Volk

Das Volk hat das Vertrauen der Regierung verscherzt. Wäre es da nicht doch einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes?“ — Bertolt Brecht

Prolog im Maschinenraum der Demokratie

Es gibt Sätze, die sind keine Zitate, sondern Sprengsätze. Brechts Diktum detoniert nicht laut, sondern kontinuierlich, ein langsames Beben unter den Fundamenten der Selbstgewissheit. Der Maschinenraum der Demokratie, so gern er in Sonntagsreden als lichtdurchflutete Agora beschrieben wird, ist in Wahrheit ein fensterloser Keller, erfüllt vom Brummen der Apparate und dem Geruch von Schmieröl und Angstschweiß. Hier unten arbeitet kein Volk, hier unten wird es verarbeitet. Der Souverän ist Rohstoff, keine Instanz mehr, ein Gemisch aus Stimmungen, Klickzahlen und Erregungskurven. Oben auf der Brücke steht die Regierung, den Blick fest auf die Instrumente gerichtet, und erklärt mit ernster Miene, dass man leider nicht auf die Passagiere hören könne, weil diese von Navigation nichts verstünden. Demokratie, so lernt man, ist zu wichtig, um sie dem Volk zu überlassen.

Medien als Betreuungsanstalt

Die Medien, einst vierte Gewalt, haben sich in eine Mischung aus Animateur und Aufseher verwandelt. Sie halten das Volk bei Laune, erklären ihm die Welt in verdaulichen Häppchen und sorgen dafür, dass es sich weder überfordert noch ernst genommen fühlt. Komplexität wird nicht erklärt, sondern vermieden; Widerspruch nicht ausgehalten, sondern moralisch aussortiert. Wer die falschen Fragen stellt, bekommt nicht Antworten, sondern Etiketten. Das Volk darf zuschauen, kommentieren, liken – ein riesiges Planschbecken der Meinungsäußerung, beaufsichtigt von Bademeistern der richtigen Haltung. Und während man sich gegenseitig bespritzt, wird im Hintergrund die Wasserhöhe reguliert. Information ist reichlich vorhanden, Erkenntnis streng rationiert.

Bürokratie als Ersatzreligion

Wo Sinn schwindet, triumphiert das Formular. Die Bürokratie ist die wahre Staatskirche der Gegenwart, mit eigenen Riten, Sakramenten und einer Sprache, die jeder spricht, ohne sie zu verstehen. Anträge ersetzen Argumente, Zuständigkeiten ersetzen Verantwortung. Das Volk pilgert von Schalter zu Schalter, opfert Zeit und Nerven und hofft auf Gnade in Form eines Bescheids. Jede Entscheidung wird entpersonalisiert, jede Zumutung standardisiert. So entsteht die perfekte Illusion von Objektivität: Niemand ist schuld, es war das Verfahren. Die Regierung versteckt sich hinter Aktenordnern wie hinter Ikonen, und das Volk kniet bereitwillig davor, froh darüber, dass wenigstens irgendjemand den Überblick zu haben scheint.

Technokratie oder die Herrschaft der Unfehlbaren

Die technokratische Herrschaft hat den großen Vorteil, dass sie sich selbst für alternativlos hält. Sie spricht in Zahlen, Modellen und Prognosen, die so beeindruckend sind, dass niemand mehr fragt, wessen Interessen sie eigentlich abbilden. Entscheidungen erscheinen nicht mehr als politische Akte, sondern als naturwissenschaftliche Notwendigkeiten. Das Volk wird zum Störfaktor im System, ein unberechenbares Element, das man beruhigen, simulieren oder notfalls ignorieren muss. Demokratie schrumpft zur Akzeptanzbeschaffung, Kritik zur Fehlermeldung. Wer widerspricht, gilt nicht als politischer Gegner, sondern als jemand, der die Daten nicht verstanden hat.

Populismus als Spiegelkabinett

Der Populismus ist das Symptom, nicht die Krankheit. Er ist der verzerrte Spiegel, in dem das Volk sich selbst erschreckt anschaut. Dort, wo technokratische Kälte herrscht, wächst die Sehnsucht nach einfachen Sätzen und klaren Feindbildern. Populisten versprechen Rückgabe der Stimme, liefern aber nur Echo. Sie rufen dem Volk zu, dass es recht habe, und machen es damit umso abhängiger. Die Regierung wiederum nutzt den Populismus als Abschreckungsfolie: Seht her, sagt sie, so endet es, wenn man euch ernst nimmt. Zwischen technokratischer Belehrung und populistischer Verführung bleibt kaum Raum für mündige Politik.

Die freiwillige Selbstentmündigung

Am unerquicklichsten ist die Rolle, die das Volk selbst spielt. Es hat gelernt, Verantwortung als Belastung zu empfinden und Entscheidung als Risiko. Man delegiert nicht nur Macht, man entsorgt sie. Hauptsache, jemand anders haftet. Man schimpft über die Regierung wie über das Wetter: unerquicklich, aber unvermeidlich. Die eigene Bequemlichkeit tarnt sich als Pragmatismus, die eigene Passivität als Realismus. So entsteht ein stilles Einverständnis: Die Regierung regiert, das Volk klagt, und beide wissen, dass sich an diesem Arrangement möglichst wenig ändern soll.

Polemik als Notwehr

Die Polemik ist in diesem Zustand kein Stilmittel mehr, sondern Selbstverteidigung. Sie übertreibt, um sichtbar zu machen, was im Normalzustand unsichtbar bleibt. Sie ist ungerecht, weil die Verhältnisse es längst sind. Wer heute polemisch schreibt, gilt schnell als unsachlich – ein Vorwurf, der meist von jenen kommt, die das Unsachliche perfekt verwaltet haben. Polemik kratzt an der Fassade der Vernunft, hinter der sich Macht eingerichtet hat wie in einer möblierten Mietwohnung.

Epilog im offenen Vollzug

Vielleicht müsste man das Volk tatsächlich neu wählen – nicht als Austausch, sondern als Zumutung. Als Rückgabe von Verantwortung, als Ende der Betreuung. Das wäre unbequem, laut, widersprüchlich. Genau deshalb wird es vermieden. Brechts Frage bleibt im Raum stehen wie ein schief aufgehängtes Bild: Man kann sich daran gewöhnen oder man kann es gerade rücken. Sicher ist nur: Eine Demokratie, die ihr Volk fürchtet oder verachtet, hat bereits damit begonnen, sich selbst aufzulösen. Und ein Volk, das sich dauerhaft vertreten lassen will, wird am Ende nur noch verwaltet.

Die falsche Frage als bequeme Ausrede

Die Frage, ob „der Islam“ zu Österreich, Deutschland oder zu Europa gehört, ist die falsche – schon deshalb, weil sie eine metaphysische Entität an den Zollschranken der Geschichte kontrollieren möchte, als käme da ein Weltanschauungscontainer mit Übergepäck an und der Beamte müsse nur entscheiden, ob er durchgewinkt wird oder zurück nach Abstraktistan muss. „Der Islam“ gehört so wenig oder so sehr zu Europa wie „das Christentum“ oder „die Aufklärung“ oder „der Barock“: als vielstimmige, widersprüchliche, historisch gewachsene Chiffre, die sich nie in eine einzige Antwort sperren lässt. Die falsche Frage ist bequem, weil sie Verantwortung externalisiert. Sie erlaubt es, mit dem Zeigefinger auf ein Ding zu zeigen und nicht auf Menschen, nicht auf Institutionen, nicht auf die mühseligen Regeln des Zusammenlebens. Wer sie stellt, hofft insgeheim auf ein Ja oder Nein, auf ein Ordnungsamt der Identitäten, das endlich sagt: gehört oder gehört nicht. Doch das Leben ist kein Vereinsregister, und Kultur kein Meldezettel.

Zugehörigkeit als Einbahnstraße

Die bessere, ungemütlichere Frage lautet: Will der Islam – will wollen können – zu Österreich, Deutschland oder Europa gehören? Und noch präziser: Wollen es seine Institutionen, seine Prediger, seine Verbände, seine informellen Autoritäten, seine Elternabende und Freitagspredigten, seine WhatsApp-Gruppen und Gemeindefeste? Zugehörigkeit ist keine naturrechtliche Eigenschaft, sondern eine Praxis. Sie besteht aus dem alltäglichen Einüben von Regeln, die gerade dann gelten, wenn sie wehtun. Europa, dieses stets unfertige Projekt zwischen Kant und Kantine, hat eine besonders unhöfliche Regel: Es erlaubt, ja schützt die Beleidigung von Ideen. Es schützt sie nicht aus Sadismus, sondern aus Erfahrung. Die Erfahrung lautet, dass Ideen, die nicht beleidigt werden dürfen, früher oder später Menschen beleidigen, disziplinieren, unterwerfen. Die Meinungsfreiheit ist kein Kuscheltier, sie ist ein Stachelschwein: Wer sie umarmt, muss mit Pieks rechnen. Die Frage ist also nicht, ob jemand verletzt wird – das wird er. Die Frage ist, ob er die Verletzung aushält, ohne zum Messer zu greifen, zum Gesetz zu rufen oder zum Boykott der Moderne.

Satire als Stresstest der Zivilisation

Satire ist der Lackmustest einer offenen Gesellschaft, weil sie dort kratzt, wo es juckt. Sie macht sich lustig über das Heilige, nicht weil sie es hasst, sondern weil sie es ernst nimmt – ernst genug, um es der Ironie auszusetzen. Europa hat gelernt, dass Götter, die nicht ausgelacht werden dürfen, sehr schnell anfangen, zurückzulachen, und zwar mit Feuer. Das Lachen ist also kein Luxus, sondern eine Brandschutzmaßnahme. Wer nun fragt, ob alle Gläubigen bereit sind, friedlich hinzunehmen, dass im Namen von Meinungsfreiheit, Kunst oder Satire auch ihr Glaube beleidigt werden darf, stellt keine Provokation, sondern eine Eintrittsfrage. Sie gilt nicht nur Muslimen, sie gilt Christen, Juden, Atheisten, Veganerinnen, Nationalromantikern und Fußballfans. Die Antwort darf nicht lauten: „Ja, aber…“ Denn dieses Aber ist der Spalt, durch den die Zensur hereinkriecht, geschniegelt, geschniegelt von guten Absichten.

Die Kränkung als Bürgerpflicht

Kränkung ist in Europa eine Bürgerpflicht. Sie gehört zum Erwachsenenprogramm der Demokratie wie das Warten an der roten Ampel, auch wenn niemand kommt. Wer glaubt, sein Glaube sei ein Sonderfall, verwechselt Respekt mit Unantastbarkeit. Respekt heißt, den Menschen ernst zu nehmen; Unantastbarkeit heißt, die Idee in Watte zu packen. Das eine ist Voraussetzung des Zusammenlebens, das andere dessen Ende. In einer Gesellschaft, die Kunstfreiheit ernst meint, wird es Bilder geben, die beleidigen; Texte, die schmerzen; Witze, die nicht lustig sind. Das Recht, sich zu empören, ist unantastbar. Das Recht, andere zum Schweigen zu bringen, ist es nicht. Wer Zugehörigkeit will, muss diese Asymmetrie akzeptieren: Die Freiheit der anderen endet nicht an der eigenen Empfindlichkeit.

Der Mythos der homogenen Gläubigen

„Sind alle seine Gläubigen bereit?“ – schon diese Formulierung stolpert über die Realität. Es gibt nicht „alle“. Es gibt eine bunte Landschaft von Haltungen, von liberal bis dogmatisch, von gelassen bis glühend. Die Pointe ist: Europa verlangt keine Gesinnungsprüfung, sondern Verhaltensregeln. Niemand muss Satire mögen, niemand muss Karikaturen feiern, niemand muss die Avantgarde verstehen. Man muss sie ertragen. Das ist der Deal. Wer ihn unterschreibt, gehört dazu, unabhängig davon, wie oft er betet oder was er isst. Wer ihn aufkündigt, stellt sich selbst an den Rand – nicht, weil er ausgeschlossen wird, sondern weil er sich exkludiert. Zugehörigkeit ist kein Geschenkpaket, es ist ein Vertrag mit Kleingedrucktem.

Das europäische Versprechen und seine Zumutung

Europa verspricht Freiheit und zumutet Gelassenheit. Es verspricht Gleichheit vor dem Gesetz und zumutet Ungleichheit der Gefühle. Es verspricht Würde und zumutet Spott. Das ist kein Widerspruch, sondern der Preis der Freiheit. Wer ihn nicht zahlen will, wird nicht verfolgt, aber er wird sich fremd fühlen. Und Fremdheit ist kein Verbrechen, sondern ein Gefühl, das man bearbeiten kann – mit Bildung, mit Dialog, mit Humor. Humor vor allem. Denn Humor ist die eleganteste Form der Selbstrelativierung. Er sagt: Ich bin mir wichtig, aber nicht so wichtig, dass ich dich zum Schweigen bringen muss.

Schluss ohne Trost, aber mit Zwinkern

Die falsche Frage nach der Zugehörigkeit des Islam ist eine Einladung zur Bequemlichkeit. Die richtige Frage nach der Bereitschaft zur Freiheit ist eine Einladung zur Reife. Sie richtet sich an alle, die hier leben wollen, gleich welcher Überzeugung: Könnt ihr es aushalten, wenn man euch widerspricht, euch parodiert, euch verletzt – und trotzdem gemeinsam den Müll trennt, Steuern zahlt und die Ampel respektiert? Wenn die Antwort Ja lautet, dann gehört ihr dazu, ohne Anführungszeichen. Wenn sie Nein lautet, dann gehört ihr vielleicht zu etwas anderem, das weniger lacht, aber strenger liebt. Europa aber liebt unordentlich, laut und manchmal verletzend. Wer das aushält, darf bleiben. Wer es nicht aushält, darf bleiben – und lernen. Denn auch das ist Europa: ein pädagogisches Projekt mit offenem Ausgang und der festen Überzeugung, dass ein Witz mehr bewirken kann als ein Verbot.

Die endgültige Verflüssigung des Grauens

Wenn der Holocaust zur rhetorischen Knetmasse wird

Was das Landgericht Berlin hier abliefert, ist keine bloße Fehlentscheidung, kein bedauerlicher Ausrutscher im juristischen Betrieb, sondern ein Akt geistiger Selbstentkernung, der seinesgleichen sucht. Der Holocaust, einst der moralische Nullpunkt deutscher Geschichte, wird in diesem Urteil nicht relativiert – nein, er wird verdünnt, vernebelt, semantisch aufgekocht, bis er als geschmacklose Brühe übrig bleibt, in der jede politische Erregung nach Belieben ihre Zutaten versenken darf. Dass eine Richterbank ernsthaft erklären kann, die Formel „Holocaust in Gaza“ sei keine Verharmlosung des Holocausts, ist nicht nur juristisch gewagt, sondern historisch obszön. Es ist, als würde man erklären, der Begriff „Sklaverei“ verliere nichts von seiner Bedeutung, wenn man ihn auf schlechte Arbeitsbedingungen im Homeoffice anwendet – ein Vergleich, der so grotesk ist, dass er eigentlich nur als Satire durchgehen dürfte. Doch hier ist er Teil der Rechtswirklichkeit.

Artikel 5 Grundgesetz als intellektuelle Nebelmaschine

Die Meinungsfreiheit wird in diesem Urteil behandelt wie eine sakrale Monstranz, hinter der man alles verstecken kann, was man nicht mehr begründen möchte. Artikel 5 GG, einst Bollwerk gegen autoritäre Zumutungen, wird hier zur Nebelmaschine, die jede begriffliche Unsauberkeit in verfassungsrechtlichen Dampf hüllt. Dass Meinungsfreiheit nicht schrankenlos ist, dass sie gerade dort endet, wo die Würde von Opfern historischer Verbrechen zur Verhandlungsmasse wird, scheint im Berliner Gerichtssaal als altmodische Petitesse gegolten zu haben. Stattdessen triumphiert eine Auslegung, nach der die subjektive Empörungsabsicht der Sprecherin schwerer wiegt als der objektive Bedeutungsgehalt ihrer Worte. Wer sich moralisch im Recht fühlt, darf offenbar sprachlich alles – ein Freibrief, der weniger an liberale Rechtsstaatlichkeit erinnert als an die Logik politischer Erregungskollektive.

Die semantische Gleichsetzung als moralisches Verbrechen zweiter Ordnung

Denn machen wir uns nichts vor: Der Holocaust ist nicht einfach „ein Völkermord unter anderen“, nicht bloß ein historischer Referenzpunkt im Werkzeugkasten politischer Metaphorik. Er war ein staatlich organisierter, industriell betriebener Vernichtungsprozess, getragen von einer eliminatorischen Ideologie, die keinen Ausweg, keine Kapitulation, kein Überleben vorsah. Wer diesen Begriff auf einen asymmetrischen Krieg überträgt, mag subjektiv Empörung artikulieren – objektiv aber begeht er eine Gleichsetzung, die das historische Verbrechen entkernt. Dass ein deutsches Gericht dies nicht erkennt oder nicht erkennen will, ist kein Ausdruck von Sensibilität, sondern von moralischer Abstumpfung. Die Relativierung liegt nicht darin, den Holocaust kleinzureden, sondern darin, ihn überall hineinzuschreiben, bis er nichts Besonderes mehr ist.

Die politische Schlagseite des juristischen Feingefühls

Besonders unerquicklich wird das Ganze dort, wo man die politische Asymmetrie nicht mehr übersehen kann. Dieselben juristischen Instanzen, die hier mit spitzen Fingern jede mögliche Einschränkung der Meinungsfreiheit vermeiden, reagieren erfahrungsgemäß allergisch, wenn NS-Analogien aus dem rechten Spektrum kommen. Dann ist die historische Verantwortung plötzlich glasklar, die Grenze des Sagbaren scharf gezogen, der Strafrahmen schnell zur Hand. Man denke an Verfahren wegen vergleichsweise banaler Schmähungen, Stichwort „Schwachkopf“, bei denen der Staat seine Autorität mit bemerkenswerter Entschlossenheit verteidigt hat. Dass ausgerechnet beim Holocaust-Vergleich eine derartige Großzügigkeit herrscht, legt den Verdacht nahe, dass hier weniger rechtsstaatliche Prinzipien wirken als politisch-moralische Sympathien.

Die infantile Logik der guten Absicht

Das Urteil folgt einer Logik, die man aus sozialen Netzwerken kennt, nicht aus Gerichtssälen: Wenn die Absicht gut ist, kann die Wirkung nicht schlecht sein. Die Aktivistin wollte auf ziviles Leid aufmerksam machen, also kann ihre Wortwahl nicht problematisch sein – so etwa die implizite Argumentation. Doch Rechtsprechung, die sich an Absichten statt an Bedeutungen orientiert, verabschiedet sich von jeder objektiven Norm. Dann zählt nicht mehr, was gesagt wird, sondern wer es sagt und wofür. Das ist keine liberale Offenheit, das ist Gesinnungsjurisprudenz mit humanitärem Anstrich.

Die Satire, die keine mehr ist

Man könnte über all das lachen, wenn es nicht so unerquicklich ernst wäre. Ein Gericht, das erklärt, „Holocaust in Gaza“ sei keine Holocaust-Verharmlosung, liefert Stoff für bitterste Satire, für eine Groteske über den postmodernen Umgang mit Geschichte. Doch der Witz verpufft angesichts der Konsequenzen: Der Holocaust wird zum rhetorischen Universaljoker, Meinungsfreiheit zum moralischen Freifahrtschein, und die historische Verantwortung Deutschlands zu einer optionalen Fußnote. Wer das kritisiert, gilt als humorlos, als autoritär, als Diskursverhinderer – ein bequemes Etikett für alle, die Präzision und Maß einfordern.

Schlussakkord in Moll: Der Rechtsstaat als Zauberlehrling

Dieses Urteil ist kein Triumph der Freiheit, sondern ein Dokument der Hilflosigkeit. Ein Rechtsstaat, der den Holocaust nicht mehr als begriffliche rote Linie verteidigt, sondern ihn in den freien Verkehr politischer Polemik entlässt, verhält sich wie der Zauberlehrling, der die Geister rief und nun nicht mehr loswird. Meinungsfreiheit ohne historisches Bewusstsein ist keine Tugend, sondern Fahrlässigkeit. Und ein Gericht, das diese Fahrlässigkeit adelt, trägt nicht zur Aufklärung bei, sondern zur endgültigen Banalisierung des größten Verbrechens der deutschen Geschichte. Das ist scharf zu kritisieren – nicht trotz, sondern gerade im Namen eines ernst gemeinten Liberalismus.

Antisemitismus unter Quarantäne

Das Labor mit den dicken Wänden

Antisemitismus ist in Österreich ein Forschungsgegenstand, der unter Quarantäne steht, geschniegelt, nummeriert, mit Latexhandschuhen angefasst und nach getaner Betrachtung wieder sorgfältig in den Tresor gesperrt wird. Er darf das Labor nicht verlassen, denn draußen könnte er ansteckend sein, oder schlimmer noch: erkenntlich. Dort draußen nämlich trägt er längst keine Springerstiefel mehr, sondern modische Zeichen internationaler Solidarität, die sich als moralische Tarnkappen erweisen. Einst war alles einfacher, als der Antisemit noch geschniegelt geschniegelt kam, mit klarer politischer Etikette und eindeutiger Frisur, eine Karikatur seiner selbst, die man ohne Umwege fotografieren, katalogisieren und verdammen konnte. Damals ließ sich das Böse mit Pfeilen versehen, und die Pfeile zeigten stets nach rechts, wo sie hingehörten, so glaubte man. Der Forschungsgegenstand war bequem, weil er bestätigte, was man ohnehin wusste, und die Forschung bestand im Wesentlichen aus dem wiederholten Nicken vor dem Spiegel.

Heute jedoch ist der Antisemitismus ein Chamäleon, das seine Farbe wechselt, sobald der moralische Zeigefinger gehoben wird. Und weil er sich nicht mehr an die vertrauten Codes hält, wird er kurzerhand umetikettiert, bis er wieder in das vertraute Raster passt. Man nennt ihn Antizionismus, Israelkritik, Kontext, Perspektive, ja sogar Empathie. Alles Wörter, die so klingen, als seien sie mit Bedacht gewählt, dabei sind sie oft nichts als das intellektuelle Äquivalent einer Tarnkappe, unter der man sich unsichtbar macht, während man weiter zielt. Die Labortüren bleiben geschlossen, denn draußen müsste man anerkennen, dass das Phänomen gewandert ist, dass es sich neue Allianzen gesucht hat, neue Vokabeln, neue Bühnen. Und das würde bedeuten, die eigenen Denkgewohnheiten zu hinterfragen, eine Tätigkeit, die in der heimischen Intelligenzia ungefähr so beliebt ist wie ein ungefilterter Blick auf die eigene Doppelmoral.

Der Gratisgestus der Gerechten

Es gibt in diesem Land einen Reflex, der so zuverlässig ist wie der Applaus nach der Nationalhymne: Geht es gegen Rechts, dann ist die Betroffenheit grenzenlos, die Empörung großzügig, der moralische Kredit unbegrenzt. Man weiß genau, wo man stehen muss, um gesehen zu werden, und noch genauer, welche Sätze man sagen muss, um nichts zu riskieren. Antisemitismus von rechts ist der Gratisgestus der Gerechten, ein moralischer Selbstbedienungsladen, in dem man sich bedienen kann, ohne je zur Kassa gebeten zu werden. Er ist der Prüfstein, den man mit verbundenen Augen besteht, weil der Weg dorthin ausgetreten ist wie ein alter Pilgerpfad. Die richtigen Schlagworte, die richtigen Feinde, die richtige Pose – alles sitzt, alles passt, alles ist vertraut.

Ganz anders wird es, sobald der Blick nach links schweift oder in religiöse Milieus, die man sich mühsam als Opferreservate eingerichtet hat. Dort wird plötzlich gestottert, relativiert, kontextualisiert, dort werden Schwänze mit der Geschwindigkeit einer V2-Rakete wieder eingezogen, als hätte man sich versehentlich zu weit aus dem moralischen Fenster gelehnt. Man spricht von Einzelfällen, von importierten Konflikten, von kulturellen Missverständnissen, von allem, nur nicht von dem, was es ist. Die Sprache wird weich wie Watte, die Sätze krümmen sich vor lauter Vorsicht, und am Ende bleibt nichts übrig als ein diffuses Unbehagen, das man schnell wieder wegmoderiert. Kritik an antisemitischen Ressentiments in diesen Kontexten gilt als Zumutung, als Verrat an der eigenen Haltung, als gefährliches Spiel mit falschen Freunden. Also lässt man es bleiben, schweigt, nickt, schaut weg und nennt das dann Verantwortung.

Gedenktage mit Ablaufdatum

Zweimal im Jahr allerdings wird der Tresor geöffnet, feierlich, unter Blitzlicht und Kranzniederlegung. Am 27. Jänner und am 9. November darf die Betroffenheitsrhetorik ausgepackt werden wie ein gut gebügelter Anzug, der sonst im Schrank hängt. Man spricht von Nie wieder, man mahnt, man erinnert, man zeigt sich tief bewegt. Die Worte sind groß, die Gesten würdevoll, und für einen kurzen Moment scheint es, als habe das Labor tatsächlich einen Ausgang gefunden. Doch kaum ist der Kranz verwelkt, kaum sind die Kameras abgebaut, fällt die Tür wieder ins Schloss. Die restlichen 363 Tage herrscht Funkstille, als wäre Antisemitismus ein saisonales Phänomen, das man zwischen zwei Gedenkterminen getrost ignorieren kann.

In dieser langen Zwischenzeit wird das alte Ressentiment durch das Dorf getrieben, neu verkleidet, neu benannt, oft begleitet von Applaus aus jenen Reihen, die sich selbst für immun halten. Israelkritik wird zur Projektionsfläche, Antizionismus zur moralischen Ausrede, und wer darauf hinweist, dass hier alte Muster in neuen Gewändern auftreten, gilt schnell als Spielverderber, als jemand, der den Diskurs vergiftet. Dabei ist es nicht der Hinweis, der vergiftet, sondern das Gift selbst, das man nicht benennen will. Die Ironie liegt darin, dass ausgerechnet jene, die sich als besonders wachsam verstehen, blind werden, sobald die Gefahr nicht mehr aus der erwarteten Richtung kommt. So bleibt der Antisemitismus im Labor, sauber beschriftet, gut erforscht und völlig wirkungslos bekämpft, während er draußen längst seine Runden dreht, ungestört, ungeniert und bestens angepasst an die moralischen Moden der Zeit.

Alles ist erlaubt und alles ist Haltung

Alles ist mir erlaubt, aber nicht alles dient zum Guten. Alles ist mir erlaubt, aber nichts soll Macht haben über mich.“ (1 Korinther 6:12)

Man möchte diesen Satz heute an Kirchentüren nageln, nicht als Bibelzitat, sondern als Warnhinweis. Denn was sich unter kirchlicher Aufsicht ereignet, ist weniger ein geistlicher Prozess als ein fortgeschrittener Kontrollverlust im Namen der Moral. Alles ist erlaubt, solange es sich gut anfühlt. Alles ist erlaubt, solange es twittertauglich ist. Alles ist erlaubt, solange es das richtige Publikum empört und das falsche verjagt. Nichts soll Macht haben über mich, sagt Paulus. Doch über die Kirchen hat längst etwas Macht gewonnen: die Angst, nicht mehr geliebt zu werden von jenen, die sie nie geliebt haben, sondern nur benutzen. Zurückbleiben soll eine kleine Herde, aber nicht die der Glaubenden, sondern die der pädagogisch Formbaren, der Dauerempörten, der Aktivisten mit Bastelbiografie. Eine Kirche, die sich nicht mehr an Gott bindet, sondern an Diskurse, entdeckt plötzlich, wie angenehm es ist, geführt zu werden.

Das Linsengericht der Relevanz

Die christliche Botschaft wird verramscht, nicht aus Not, sondern aus Gier nach Relevanz. Für ein Linsengericht aus Applaus, Fördergeldern und wohlmeinenden Kommentaren aus der linken Echokammer verkauft man das Erbe von Jahrhunderten. Was einmal Zumutung war, ist jetzt Einladung zum Mitmachen. Was einmal Erlösung versprach, verspricht heute Bewusstseinsarbeit. Aus Glaubensgemeinschaft wird ein politischer Stuhlkreis mit Kerze in der Mitte und Betroffenheitsrunde am Ende. Die Kirche will niemandem mehr wehtun, also tut sie niemandem mehr gut. Sie ist kein Stein des Anstoßes mehr, sondern ein Wattebausch, hygienisch verpackt, allergenfrei, folgenlos. Wer hier stolpert, stolpert höchstens über ein falsch gegendertes Fürbittenformular. Das Schrumpfen hat begonnen, und es ist kein Schicksal, sondern eine selbstgewählte Askese an Sinn.

Die neue Dreifaltigkeit der Bedeutungslosigkeit

Es gibt keine konfessionellen Unterschiede mehr, nur noch organisatorische. Evangelisch oder katholisch ist egal, entscheidend ist, dass die neue Dreifaltigkeit intakt bleibt: Kirchensteuer, Staatsnähe und linkes Politisieren. Der Vater ist der Haushalt, der Sohn die Kampagne, der Geist die moralische Erregungslage der Woche. Man glaubt nicht mehr, man positioniert sich. Man hofft nicht mehr, man fordert. Dogmen gelten als unzumutbar, Haltungen als heilsnotwendig. Die Ökumene findet ihre Einheit nicht im Glauben, sondern im gemeinsamen Abstieg in die Irrelevanz, begleitet von wohlklingenden Absichtserklärungen und dem leisen Rascheln der Austrittserklärungen.

Magdeburg oder der Triumph der Feigheit

Im Bistum Magdeburg, finanziell ausgehöhlt und geistlich entkernt, wird diese Entwicklung zur Karikatur ihrer selbst. Ein Bischof namens Feige fordert seine Gemeinden auf, im Landtagswahlkampf Flagge zu zeigen. Nicht die Fahne des Glaubens, sondern die der politischen Parteinahme. Pfarrer, Diakone, Sekretariate und Ehrenamtliche werden zu Wahlkampfhelfern geweiht, das Kreuz zur Requisite einer Kampagne. Man beschwört den Kampf gegen die AfD, als sei das Evangelium ein Aktionspapier und die Sakristei ein Koordinationsbüro. Partner heißen Stiftungen, Verbände, Dachorganisationen. Die Kirche sucht ihre Katholizität nicht mehr im Universalen, sondern im Netzwerk der moralisch Zertifizierten. Wer nicht mitsingt, gilt als verdächtig. Wer fragt, als gefährlich. Wer glaubt, als rückständig.

Partei mit Sakramentensteuer

Hier wird Partei ergriffen, offen, selbstgerecht, finanziert aus Kirchensteuermitteln. Man nennt es Initiative, Haltung, Verantwortung. In Wahrheit ist es geistliche Zweckentfremdung mit moralischem Heiligenschein. Die Kanzel wird zum Podium, die Predigt zur Pressemitteilung. Nur ein bestimmtes Milieu fühlt sich hier noch zuhause, ein Milieu, das seine eigenen Überzeugungen im Kirchraum gespiegelt sehen will. Alle anderen dürfen zahlen oder gehen. Die Kirche wird zur exklusiven Selbsthilfegruppe der moralisch Überzeugten, mit Anwesenheitspflicht und Austrittsoption.

Klimakrise als neue Erbsünde

Zum Anti-Rechts-Kampf gesellt sich der Kampf gegen die Erderwärmung, das zweite große Sakrament der neuen Kirchenfrömmigkeit. Bei der evangelischen Arbeitsstelle midi fragt man ernsthaft nach Seelsorge in der Klimakrise. Mission heißt nun Angstbegleitung, Diakonie heißt Gefühlsmanagement. Zu sphärischen Klängen erklärt man auf sozialen Plattformen, Kirche müsse Seelsorge im Horizont der Klimakrise denken. Als sei das Klima eine metaphysische Instanz, als sei CO₂ der neue Teufel und der Verzicht das neue Heil. Klimaängste werden pädagogisch umarmt, weil Angst bindet und Infantilität mobilisiert. Wer sich fürchtet, glaubt leichter. Wer sich schuldig fühlt, bleibt fügsam. Kirchen, die einst Hoffnung predigten, verwalten nun Befindlichkeiten.

Die infantile Autorität der Geste

Die Personalisierung dieser Entwicklung liefert die Präses der evangelischen Synode, die mit jugendlicher Ernsthaftigkeit „Fairschenken statt Geschenk“ vorschlägt und ein buntes „Fairtrade“-Band in die Kamera hält. Es ist die Liturgie des Bastelraums, die Theologie des gut Gemeinten. Hier spricht keine geistliche Autorität, sondern eine moralische Influencerin, deren Botschaft in jedem NGO-Newsletter stehen könnte. Klimaschutzaktivismus und Anti-Rechts-Kampf, garniert mit pädagogischer Niedlichkeit, bilden die Ökumene der schrumpfenden Kirchen. Man bettelt um Austritte und nennt es Erneuerung. Wer nach Transzendenz sucht, findet To-do-Listen. Wer Erlösung sucht, bekommt Hinweise zum richtigen Konsum.

Decolonizing Christmas!

Und selbst das Weihnachtsfest, einst die Zumutung der Inkarnation, bleibt nicht verschont. „Decolonizing Christmas!“ ruft es nun aus den ideologischen Sakristeien, als müsse man das Kind in der Krippe zuerst von seiner Geschichte befreien, bevor man es anbeten darf. Weihnachten wird zum pädagogischen Projekt, zur moralischen Großbaustelle, zur Gelegenheit, Schuld umzuschichten und Traditionen zu problematisieren. Die Geburt Gottes wird zur Fußnote, Hauptsache, die Haltung stimmt. Reich beschenkt wird nur das linke Gemüt, das sich selbst feiert im Glanz seiner eigenen Korrektheit. Die kleine Herde bleibt zurück, zufrieden, selbstgerecht, geistlich ausgehungert, und wundert sich, warum niemand mehr kommt, um mitzufeiern.

SIE SCHEISSSEN AUF UNS

Vorbemerkung eines müden Beobachters

Es beginnt selten mit einem Knall, sondern fast immer mit einem Gähnen. Mit diesem speziellen, leicht schmerzhaften Gähnen, das sich einstellt, wenn man zum hundertsten Mal dieselben Phrasen hört, vorgetragen mit der Gravitas frisch polierter Marmorstatuen, deren größte Leistung darin besteht, unbeweglich zu bleiben und dabei den Eindruck tiefer Bedeutung zu simulieren. Politik, dieses angeblich lebendige Gespräch zwischen Regierenden und Regierten, ist so zu einer Art einseitigem Hörspiel verkommen: gut ausgeleuchtet, professionell eingesprochen, aber ohne Rückkanal. Das Publikum zahlt brav Eintritt, klatscht auf Kommando, darf aber weder den Saal verlassen noch Zwischenrufe wagen. Und während auf der Bühne von Werten, Verantwortung und Zukunft gesprochen wird, während mit ernster Miene Begriffe wie Solidarität, Sicherheit und Zusammenhalt dekliniert werden, sitzt man unten im Parkett und spürt dieses leise, aber hartnäckige Gefühl, dass die Eliten ganz einfach auf uns scheißen – nicht aus Bosheit, sondern aus jener routinierten Gleichgültigkeit, die entsteht, wenn man zu lange auf rotem Teppich unterwegs ist und vergessen hat, wie sich normaler Boden anfühlt.

Unsere Demokratie – ihr Besitzanspruch

„Unsere Demokratie“ – das klingt wie eine warme Decke an einem kalten Abend, wie etwas, das schützt und einschließt. Tatsächlich erinnert es eher an einen komplizierten Mietvertrag, bei dem man zwar regelmäßig zahlt, aber die Fußnoten nie zu Gesicht bekommt. Dieses „Unsere“ ist kein inklusives Pronomen, sondern ein Besitzanzeiger. Es markiert ein Revier. Demokratie wird zur Marke, zur Corporate Identity eines politischen Betriebs, der Macht nicht mehr als Leihgabe auf Zeit begreift, sondern als Erbmasse, verwaltet von einem immer gleichen Personal, das sich gegenseitig bestätigt, beruft und entschuldigt. Wer widerspricht, stört nicht etwa eine Debatte, sondern einen Prozess. Kritik gilt nicht als notwendiger Sauerstoff, sondern als Sand im Getriebe. Zweifel werden pathologisiert, Skepsis moralisch abgewertet, und plötzlich steht nicht mehr die Frage im Raum, ob eine Entscheidung gut oder schlecht ist, sondern ob sie „dem System schadet“. Augenzwinkernd – und doch bitterernst – ließe sich sagen: Es ist eine Demokratie, die so sehr geliebt wird, dass man sie vor den Demokraten schützen muss.

Repräsentation ohne Repräsentierte

Hinzu kommt ein strukturelles Missverständnis, das längst zur stillschweigenden Doktrin geworden ist: Repräsentation wird mit Ersetzung verwechselt. Wer gewählt wurde, glaubt nicht selten, die Gewählten seien fortan entbehrlich. Das Volk mutiert zur Kulisse, zur statistischen Größe, zum gelegentlich zu befragenden Stimmungsbarometer, dessen Ausschläge man zwar registriert, aber nicht ernst nimmt. Beteiligung reduziert sich auf ritualisierte Akte, Mitsprache auf sorgfältig moderierte Formate, deren Ergebnisse folgenlos bleiben. So entsteht eine Politik, die formal legitimiert ist, sich aber inhaltlich entkoppelt hat – eine Herrschaft der Verfahren über die Anliegen, der Prozesse über die Lebensrealitäten.

Schutz vor Hass und Hetze oder die Liebe zur Leine

Kaum ein Begriff ist derzeit so nützlich wie jener von „Hass und Hetze“. Er ist moralisch unangreifbar, emotional hoch aufgeladen und von einer Dehnbarkeit, um die ihn jeder Gummiproduzent beneiden würde. Wer wollte schon für Hetze sein? Also nickt man zustimmend, während hinter dem Vorhang neue Filter, neue Überwachungsinstrumente und neue Sprachregelungen installiert werden. Natürlich alles nur zum Schutz. Schutz wovor? Vor verletzenden Worten heißt es. Vor Radikalisierung. Vor Desinformation. Gemeint ist oft etwas anderes: Schutz vor Kontrollverlust, vor unberechenbaren Meinungen, vor der anarchischen Zumutung freier Rede. Der Zyniker könnte sagen: Man liebt den Bürger so sehr, dass man ihm vorsorglich den Maulkorb anlegt – aus Fürsorge, versteht sich. Und der eigentliche Witz liegt darin, dass man uns dabei ernsthaft versichert, diese Leine sei in Wahrheit ein Sicherheitsgurt, angelegt zu unserem eigenen Besten.

Wir haben doch eh‘ die Wahl – Essen oder Heizen

Wie großzügig diese neue Form der Freiheit doch ist: Man überlässt uns die Wahl zwischen Kalorien und Kilowattstunden, zwischen leerem Magen und kalten Fingern, und verkauft das als Ausdruck erwachsener Selbstverantwortung. Endlich dürfen wir mitentscheiden – nicht über politische Weichenstellungen, nicht über Prioritäten der Macht, sondern darüber, welches Grundbedürfnis wir diesen Monat opfern möchten. Essen oder heizen, fragt man uns mit dem Tonfall eines wohlmeinenden Pädagogen, der weiß, dass echte Reife sich im Verzicht zeigt. Wer friert, hat eben zu viel gegessen, wer hungert, zu viel geheizt. Dass beides früher einmal als zivilisatorischer Mindeststandard galt, wird als nostalgische Marotte abgetan. Mangel heißt jetzt Resilienz, Armut heißt Anpassungsfähigkeit, und Verzicht wird zur moralischen Auszeichnung für jene, die sich alles andere ohnehin nicht mehr leisten können. Es ist die perverse Eleganz eines Systems, das seine eigenen Zumutungen naturalisiert und den Betroffenen dafür auch noch Dankbarkeit abverlangt. Essen oder heizen – das ist keine Krise, das ist ein Konzept. Und während man uns einredet, dies sei der Preis für eine bessere Zukunft, wird im Warmen entschieden, dass wir ihn gefälligst zu zahlen haben.

Moral als Verwaltungsinstrument

Moral ist dabei weniger Kompass als Werkzeug. Sie dient nicht mehr primär der Orientierung, sondern der Disziplinierung. Wer auf der richtigen Seite steht, darf sprechen, wer Fragen stellt, steht schnell im Verdacht, auf der falschen zu stehen. Die Grenze zwischen Argument und Gesinnungsprüfung verschwimmt. So entsteht ein Klima, in dem nicht mehr zählt, was gesagt wird, sondern wer es sagt – und mit welcher Haltung. Moralische Empörung ersetzt Analyse, Etikettierung ersetzt Diskussion. Das Ergebnis ist eine öffentliche Debatte, die zwar laut ist, aber hohl klingt, weil sie sich ständig im Kreis der immergleichen Selbstbestätigungen dreht.

Alternativlos oder die Kunst des Schicksals

„Alternativlos“ ist kein Argument, sondern ein Zauberspruch. Er verwandelt politische Entscheidungen in Naturereignisse, vergleichbar mit Erdbeben oder Ebbe und Flut. Wer Alternativen fordert, gilt nicht als demokratischer Diskutant, sondern als Realitätsverweigerer, als jemand, der den Ernst der Lage nicht begriffen hat. Der Zug fährt bereits, heißt es, und wer noch fragt, wohin, wird mitleidig belächelt. Unabwendbarkeit wird zum neuen Normal, Verantwortung löst sich auf wie Zucker im heißen Tee: Niemand wollte es so, aber alle mussten es tun. Die Ironie dabei ist von jener bitteren Sorte, die im Hals kratzt: Je weniger Alternativen man zulässt, desto lauter beschwört man die Freiheit. Es ist die Freiheit, genau das zu wollen, was ohnehin beschlossen wurde – und sich dafür auch noch dankbar zu zeigen.

Vorbereitung als Dauerzustand

Wenn ständig von Vorbereitung die Rede ist, dann meint das längst nicht mehr Vorsorge im klassischen Sinne, sondern eine permanente geistige Mobilmachung. Man soll sich gewöhnen: an neue Bedrohungen, neue Opfer, neue Einschränkungen, die morgen schon selbstverständlich sein sollen. Ausnahmezustände werden normalisiert, Notmaßnahmen verstetigt. Krieg – ob real oder rhetorisch – wird nicht mehr ausschließlich als Katastrophe gedacht, sondern als Option, als Mittel zur Formung von Loyalität und innerer Geschlossenheit. Natürlich will niemand Krieg, beteuern jene, die ihn sprachlich täglich einüben, die Szenarien zeichnen, Feindbilder pflegen und Opferbereitschaft einfordern. Und während man uns erklärt, dass all dies zu unserem Schutz geschehe, drängt sich der Verdacht auf, dass es weniger um Sicherheit geht als um Disziplin. Ein Volk in ständiger Alarmbereitschaft stellt weniger Fragen, es funktioniert besser.

Fazit

Am Ende bleibt das diffuse, aber hartnäckige Gefühl, dass hier etwas Grundlegendes verrutscht ist – nicht mit einem großen Knall, sondern mit der leisen Beharrlichkeit administrativer Selbstgewissheit. Politik hat sich vom Aushandlungsraum zur Belehrungsanstalt verwandelt, Demokratie vom offenen Versprechen zur geschützten Marke, Freiheit zur korrekt ausgeführten Pflicht. Unter dem Deckmantel von Schutz, Verantwortung und Alternativlosigkeit wird Zumutung normalisiert, Kontrolle moralisch geadelt und Mangel als Charakterfrage umgedeutet. Die Bürger erscheinen dabei weniger als Souverän, denn als zu verwaltende Größe, deren Zustimmung man voraussetzt, deren Einwände man aber als Störgeräusch empfindet.

Doch gerade in dieser Schieflage liegt auch der Rest an Hoffnung: im Erkennen der Mechanismen, im Durchschauen der Phrasen, im hartnäckigen Beharren darauf, dass politische Entscheidungen keine Naturgesetze sind und soziale Verelendung kein pädagogisches Mittel. Das zynische Lachen, die Satire, der polemische Widerspruch sind keine Flucht, sondern letzte Formen der Selbstbehauptung. Wer noch lacht, glaubt nicht mehr alles. Und wer nicht mehr alles glaubt, ist gefährlicher, als jede noch so gut gemeinte Kontrollmaßnahme es je verhindern könnte.

Trotzdem scheißen sie auf uns.

Ein Gedenktag betritt die Bühne,

und stolpert über den roten Teppich

Welttag gegen Islamophobie. Schon das Wortgebirge wirkt wie eine frisch asphaltierte Umgehungsstraße für Denkfaulheit, breit genug für Ministerlimousinen, NGOs und Hashtag-Karawanen zugleich. Ein Tag, der uns alle, kollektiv und mit ernster Miene, an die Hand nehmen will, damit wir endlich fühlen, was wir ohnehin fühlen sollen. Echt jetzt? Der Kalender, dieses stoische Tier, das früher Erntezeiten, Heiligengedenktage und Mondphasen verwaltete, wird zum moralischen Beichtstuhl mit Stempelautomat. Heute bitte reumütig sein, morgen solidarisch, übermorgen achtsam – und zwischendurch die Kaffeemaschine entkalken. Der Welttag gegen Islamophobie betritt diese Bühne mit der Grazie eines Elefanten im Porzellanladen der Begriffe: gut gemeint, schwer bewaffnet mit Pathos, und mit jener unerschütterlichen Gewissheit, dass Benennung bereits Bekämpfung sei. Als hätte man mit der Etikettierung des Problems schon dessen Lösung eingepackt, Geschenkpapier inklusive.

Die Magie des Benennens und das bequeme Sofa der Empörung

Es ist eine alte Hoffnung des modernen Moralmanagements, dass Dinge verschwinden, wenn man sie richtig nennt. Rassismus, Sexismus, Klimakrise – die Worte sollen wie Salzsäulen wirken, die das Unheil erstarren lassen. Islamophobie nun also, eine Vokabel, die mit klinischer Kälte Angst diagnostiziert und zugleich politisch erhitzt wird. Phobie klingt nach Couch, nach Therapeutin, nach Atemübungen. Sie klingt nicht nach Debatte. Wer eine Phobie hat, diskutiert nicht, der wird behandelt. Das ist der elegante Trick: Kritik wird zur Pathologie umetikettiert, Zweifel zur Krankheit, Widerspruch zur Symptomatik. Und der Welttag ist das Gruppentherapie-Seminar, in dem alle nicken, weil Nicken als gesund gilt. Dass damit nicht selten das Sofa der Empörung bequemer wird als der Stuhl der Analyse, ist kein Kollateralschaden, sondern das Designprinzip.

Opfer, Täter und die pädagogische Choreografie des Guten

Die Dramaturgie ist so vertraut, dass man sie im Halbschlaf mitsummen könnte. Da sind die Opfer, klar umrissen und in der Mehrzahl unsichtbar, da sind die Täter, vage, aber stets präsent, und dazwischen die Erzieherinnen der Nationen, die mit sanfter Strenge erklären, was man heute fühlen darf. Der Welttag gegen Islamophobie verspricht Schutz, liefert aber oft Symbolik; er ruft zur Solidarität auf und landet nicht selten bei der moralischen Selbstvergewisserung jener, die ohnehin überzeugt sind. Man trägt das richtige Abzeichen, postet das richtige Quadrat, formuliert den richtigen Satz – und geht dann beruhigt zum Tagesgeschäft über. Die Welt ist wieder in Ordnung, zumindest für 24 Stunden. Dass reale Diskriminierung nicht durch Hashtags verschwindet, ist eine triviale Wahrheit, die erstaunlich hartnäckig ignoriert wird, wenn der Applaus laut genug ist.

Kritik, die sich verkleidet, und Glaube, der sich verwechselt fühlt

Es gibt einen neuralgischen Punkt, an dem die Satire bitter wird: Dort, wo berechtigte Kritik an religiösen Institutionen, Texten oder Machtansprüchen in denselben Topf geworfen wird wie blanker Hass auf Menschen. Der Welttag gegen Islamophobie behauptet, zu differenzieren, lebt aber von der Undifferenziertheit seines Schlagworts. Wer Fragen stellt, riskiert, als Phobiker etikettiert zu werden; wer pauschalisiert, findet sich paradoxerweise im Schatten der guten Absichten wieder. Der Diskurs verengt sich, nicht weil jemand böse wäre, sondern weil die Bühne so gebaut ist. Religion wird zur Identität erklärt, Identität zur Unantastbarkeit, Unantastbarkeit zum Diskussionsverbot. Am Ende steht eine eigentümliche Allianz aus Wohlmeinenden und Machtbewussten, die beide von der Stille profitieren.

Die Ökonomie der Aufmerksamkeit und der moralische Feiertagsrabatt

Kein Welttag ohne Sponsoren der Aufmerksamkeit. Medien lieben Anlässe, Aktivismus liebt Kalender, Politik liebt Rituale. Der Welttag gegen Islamophobie ist ein Sonderangebot im Supermarkt der Tugenden: Heute zwei zum Preis von einem – Mitgefühl und Selbstlob. Morgen wieder Normalbetrieb. In dieser Ökonomie zählt nicht die Tiefe der Auseinandersetzung, sondern die Reichweite der Geste. Komplexität ist schlecht für Klicks, Ambivalenz schlecht für Slogans. Also wird vereinfacht, zugespitzt, poliert. Dass Islamophobie ein reales Problem ist, steht außer Frage; dass seine Bekämpfung mehr erfordert als einen Tag, scheint hingegen eine unbequeme Erkenntnis zu sein, die man lieber auf morgen verschiebt. Der Feiertagsrabatt erlaubt es, die Mühe der Dauerarbeit aufzuschieben.

Die Satire als Notwehr der Vernunft

Lachen ist hier keine Respektlosigkeit, sondern ein Überlebensreflex. Wenn Begriffe zu Bannflüchen werden und Tage zu Dogmen, bleibt der Ironie nur die Rolle der Feuerwehr. Sie löscht nicht das Feuer, aber sie verhindert, dass der Rauch die Sicht vollständig nimmt. Ein augenzwinkernder Blick entlarvt die Mechanik: den inflationären Gebrauch des Ernstes, die pädagogische Pose, die moralische Erpressung mit dem guten Zweck. Satire fragt: Wem nützt das? Wer spricht? Wer schweigt? Und sie erlaubt, gleichzeitig zwei Gedanken zu halten: dass Menschen wegen ihres Glaubens diskriminiert werden und geschützt werden müssen – und dass der Diskurs darüber nicht in Watte gepackt, sondern geschärft gehört.

Jenseits des Kalenders eine Zumutung namens Alltag

Was wäre, wenn man den Welttag gegen Islamophobie ernst nähme, im wörtlichen Sinne? Wenn man ihn als Startschuss verstünde, nicht als Schlussapplaus? Das würde bedeuten, mühsam zu unterscheiden, konsequent zu widersprechen, unbequem zu bleiben. Es würde bedeuten, Hass klar zu benennen und Kritik nicht zu dämonisieren; Betroffene zu hören, ohne sie zu instrumentalisieren; Macht zu kontrollieren, auch wenn sie sich in religiöse Gewänder hüllt. Vor allem aber würde es bedeuten, den Kalender zu entmachten und den Alltag zu belasten. Denn Gerechtigkeit ist kein Event, sondern eine Praxis. Sie braucht keinen Welttag, um wichtig zu sein – und sie leidet, wenn sie auf einen reduziert wird.

Schluss ohne Schlussstrich

Echt jetzt? Ja, echt jetzt. Der Welttag gegen Islamophobie ist zugleich notwendig und unerquicklich, sinnvoll gemeint und unerquicklich umgesetzt, ein Symptom unserer Zeit, die Probleme gern datiert, statt sie zu bearbeiten. Man kann ihn begehen, ohne ihm zu verfallen. Man kann Solidarität zeigen, ohne Denkverbote zu verhängen. Und man kann, bei aller Ernsthaftigkeit, das Lachen nicht verlieren – dieses kleine, widerständige Lachen, das daran erinnert, dass Moral ohne Humor zur Pose erstarrt. Der Kalender mag markieren, was wichtig ist. Verstehen müssen wir es selbst.

Die Zitierkunst als moralische Kurzstrecke

Es beginnt, wie so viele Debatten des digitalen Zeitalters beginnen: mit einem Satz, der glänzt wie eine frisch polierte Münze, handlich, wohlklingend, scheinbar eindeutig. „Wenn jemand eine Person tötet, ist es, als habe er die ganze Menschheit getötet.“ Ein Satz, der sich hervorragend für Profilbilder eignet, für Tweets, für den schnellen moralischen Triumph im Kommentarbereich. Der Satz ist kurz genug, um nicht nach Kontext zu riechen, und er ist pathetisch genug, um Widerspruch schon im Ansatz zu ersticken. Wer möchte schon gegen die Rettung der ganzen Menschheit argumentieren? Und doch liegt genau hier der Reiz dieser Zitierkunst: Sie lebt von der Verkürzung, vom absichtsvollen Weglassen, vom eleganten Übergehen all jener Fußnoten, die das schöne Plakat in ein kompliziertes Gemälde verwandeln würden. Ich saß also in dieser Online-Debatte, in der mir Vers 5:32 als endgültiger Beweis für den Frieden des Islam präsentiert wurde, versehen mit der großzügigen Zusicherung, man werde die Religion verlassen, sollte das Gegenteil bewiesen werden. Ein religiöses „Money-back-Garantie“-Angebot, das allein schon literarisch verdächtig klang.

Der Kontext als ungebetener Gast

Denn der Kontext ist der Partycrasher jeder frommen Wohlfühllektüre. Er kommt unangekündigt, stellt unbequeme Fragen und öffnet Türen, hinter denen Dinge liegen, die man lieber nicht sehen möchte. Der vollständige Vers 5:32 beginnt nicht mit einer universellen Liebeserklärung an die Menschheit, sondern mit einer juristischen Verordnung „für die Kinder Israels“. Schon dieser Einstieg macht aus der vermeintlichen Menschheitsmaxime eine historisch und theologisch verortete Anweisung. Und dann folgt die berühmte Einschränkung, dieses kleine „außer“, das in der religiösen Exegese ungefähr die Sprengkraft eines ganzen Arsenals besitzt: außer wegen Mordes oder wegen „Unheil im Land“. Ein Satzteil, so unscheinbar wie ein Nebensatz, aber so folgenreich wie ein Urteilsspruch. Der Vers endet zudem mit der nüchternen Feststellung, dass viele trotzdem weiter Exzesse begehen. Kein hymnischer Friedensgesang also, sondern eher ein resignierter Blick auf die Unbelehrbarkeit der Menschen. Der schöne Satz verliert plötzlich seine Unschuld und wirkt eher wie ein Paragraph mit Strafklausel.

Wenn Ausleger sprechen, schweigt der Universalismus

An dieser Stelle betreten die klassischen Ausleger die Bühne, jene Instanzen, die im innerislamischen Diskurs nicht als optionale Kommentatoren gelten, sondern als autoritative Stimmen. Ibn Kathir etwa zitiert Saʿid ibn Jubayr mit der bemerkenswerten Präzisierung, dass es hier um das Blut eines Muslims geht. Nicht abstrakt „der Mensch“, sondern konkret „der Muslim“. Tötest du ihn, tötest du sinnbildlich alle; schützt du ihn, schützt du alle. Mujahid ibn Jabr verschärft diese Lesart noch, indem er die Strafe für den absichtlichen Mord an einer gläubigen Seele mit derjenigen gleichsetzt, die fällig wäre, hätte man die gesamte Menschheit getötet. Der Universalismus schrumpft hier auf die Größe der Gemeinschaft zusammen, die als gläubig definiert ist. Der Rest der Menschheit wird nicht ausdrücklich verdammt, aber er verschwindet aus dem moralischen Fokus wie Statisten aus einem schlecht beleuchteten Bühnenbild.

Das dehnbare Wort Unheil

Besonders elastisch wird die Argumentation beim Wort „fasād“, jenem „Unheil“, das als legitimer Grund für das Töten genannt wird. Ibn Kathir erklärt dieses Unheil in anderen Versen als Unglauben und Ungehorsam gegenüber Allah. Unheil ist demnach nicht nur das klassische Verbrechen, sondern auch die falsche Überzeugung. Wer nicht gehorcht, stört die kosmische Ordnung. Frieden entsteht nicht durch Koexistenz unterschiedlicher Weltanschauungen, sondern durch Gehorsam. Diese Definition ist von einer beunruhigenden Logik: Sie verwandelt den inneren Zustand des Glaubens in eine äußere Bedrohung. Der Andersdenkende wird nicht deshalb problematisch, weil er etwas tut, sondern weil er etwas ist. Der Schritt von der Metaphysik zur Strafjustiz ist hier erstaunlich kurz.

Al-Jalalayn und die Klarheit der Grausamkeit

Der Tafsir al-Jalalayn, bekannt für seine prägnante Nüchternheit, bringt diese Logik mit fast brutaler Klarheit auf den Punkt. „Verderbnis im Land“ umfasst dort Unglauben, Unzucht, Überfall und dergleichen. Die Aufzählung ist bezeichnend, weil sie moralische, soziale und theologische Kategorien vermischt, als seien sie gleichartige Verbrechen. Die Rettung eines Lebens wird zwar erwähnt, doch auch hier bleibt der Fokus auf der Heiligkeit der eigenen Gemeinschaft. Was als Schutz der Menschheit verkauft wird, erweist sich als Schutz der Norm. Die vielzitierte Humanität des Verses ist nicht falsch, aber sie ist selektiv. Sie gilt innerhalb eines Rahmens, der bereits entschieden hat, wer vollwertiger Träger dieser Humanität ist.

Die Nachbarverse als Nachruf auf die Sanftmut

Wer nun immer noch hofft, Vers 5:32 sei ein Ausrutscher im ansonsten friedlichen Duktus, sollte einen Blick auf die unmittelbar folgenden Verse werfen. 5:33 und 5:34 lesen sich wie ein mittelalterlicher Strafenkatalog, der keinen Zweifel daran lässt, wie ernst „Krieg gegen Allah und seinen Gesandten“ genommen wird. Hinrichtung, Kreuzigung, das Abschneiden von Händen und Füßen – die Sprache ist drastisch, die Bilder sind nichts für empfindsame Gemüter. Ein Hadith bei Abu Dawud macht die Sache nicht milder, sondern präziser: Diese Strafen beziehen sich auf Polytheisten, und Reue vor der Festnahme hebt die Strafe nicht auf. Reue ist hier kein humanistisches Rettungsboot, sondern bestenfalls eine metaphysische Beruhigung vor der Vollstreckung.

Der Frieden als rhetorische Kulisse

An diesem Punkt wird die ironische Spannung unerträglich: Ausgerechnet dieser Vers 5:32, eingebettet in einen Kontext harter Sanktionen und exklusiver Moral, wird als Kronzeuge für die Friedfertigkeit des Islam herangezogen. Es ist, als würde man ein einzelnes freundliches Wort aus einem Drohbrief zitieren und es zur Charakterstudie des Absenders erklären. Der Frieden fungiert hier als rhetorische Kulisse, hinter der sich ein normatives System verbirgt, das Gewalt nicht nur kennt, sondern unter bestimmten Voraussetzungen heiligt. Das macht den Islam nicht einzigartig unter den Religionen, aber es entlarvt die intellektuelle Unredlichkeit jener, die mit einem halben Vers eine ganze Theologie verteidigen wollen.

Das augenzwinkernde Fazit einer ernsten Lektüre

Am Ende dieser Debatte blieb mein Gegenüber übrigens still. Nicht konvertiert, nicht ausgetreten, einfach offline. Vielleicht war das die friedlichste Lösung von allen. Der Vers 5:32 ist kein Beweis für eine per se friedliche Religion, sondern ein Beispiel dafür, wie komplex, widersprüchlich und gefährlich vereinfachbar heilige Texte sind. Wer ihn ohne Kontext zitiert, betreibt keine Theologie, sondern Marketing. Und Marketing, das wissen wir, lebt von schönen Versprechen und kleinen Buchstaben. Die kleinen Buchstaben stehen hier in den Tafsiren, in den Einschränkungen, in den Nachbarversen. Sie zu lesen, ist weniger bequem, aber ehrlicher. Und vielleicht ist genau diese Ehrlichkeit der einzige Frieden, den man aus solchen Texten wirklich gewinnen kann.

Die Kunst des großzügigen Mangels

Es ist eine eigentümliche Alchemie, die große Städte beherrschen: Aus wachsendem Mangel wird moralischer Reichtum destilliert, aus leeren Kassen eine umso vollere Haltung. Während im Alltag der Ton rauer wird, Gebühren steigen wie schlecht gelaunte Hefeteige und das Wort „Sparen“ sich in Gespräche fräst wie eine ungebetene Leitkultur, entfaltet sich parallel eine stille Operette der Großzügigkeit. Sie spielt nicht auf den Bühnen, sondern in Förderlisten, Tabellen und Berichten, deren nüchterne Zahlenkolonnen erst bei genauerem Hinsehen ihr komisches Potenzial offenbaren. Denn nichts ist satirischer als eine Stadt, die zugleich den Gürtel enger schnallt und mit weit ausholender Geste Geld verteilt – nicht aus Überfluss, sondern aus Überzeugung.

Förderlisten als moderne Lyrik

Wer sich durch die Förderberichte arbeitet, entdeckt rasch, dass es sich dabei weniger um Verwaltungsdokumente als um eine Art unfreiwillige Literatur handelt. Titel wie „Ich wollte Wien lieben, aber ich habe mich nicht getraut“ wirken wie Fragmente eines urbanen Seelenromans, zufällig mit 5.000 Euro dotiert. Die „Freunde des Pornografischen Films“ wiederum klingen nach einer verschollenen Avantgarde-Bewegung zwischen Kunstkino und VHS-Nostalgie und werden mit 15.000 Euro bedacht, vermutlich um die Erinnerung daran wachzuhalten, dass Provokation auch dann subventioniert werden kann, wenn sie niemand mehr so recht provoziert. Der Kulturverein Tuntenstraße läuft – im wahrsten Sinn – davon und erhält über 10.000 Euro für eine Laufveranstaltung, was die Frage aufwirft, ob hier sportliche Betätigung oder performativer Aktivismus gefördert wird, oder schlicht die Idee, dass Bewegung an sich bereits ein politisches Statement ist.

Verhältnisse, die sich nicht rechnen wollen

Besonders delikat wird die Angelegenheit dort, wo Zahlen in direkte Nachbarschaft geraten. 32.500 Euro für Feuerwehrjugend und Katastrophenhilfsdienst – ein Betrag, der fast rührend bescheiden wirkt, wenn man ihn neben die 79.000 Euro legt, die der Verein zur Förderung gendersensibler Bubenarbeit erhält. Man möchte hier nicht gegeneinander aufrechnen, wird aber geradezu eingeladen dazu, denn die Förderpraxis selbst betreibt dieses Rechnen ungeniert. Chinesische Pensionisten feiern mit 2.000 Euro, iranische Senioren ebenfalls – kleine Beträge, gewiss, aber symbolisch aufgeladen wie diplomatische Miniaturen. Es ist, als würde die Stadt sagen: Wir sehen euch alle, und wir geben euch allen ein bisschen, nur nicht unbedingt denen, die gerade mit Sirenen durch die Nacht fahren.

Die große Zahl und ihr kleiner Schrecken

937 Millionen Euro an Förderungen in einem Jahr – eine Zahl, die sich dem Vorstellungsvermögen entzieht und gerade deshalb beruhigend wirken soll. Mehr als 715.000 Empfänger, Vereine, Organisationen oder Einzelpersonen werden bedacht, als handele es sich um eine urbane Version der Speisung der Fünftausend, nur eben mit Excel-Tabellen statt Brotlaiben. In dieser schieren Masse löst sich jede einzelne Entscheidung auf, wird zur statistischen Fußnote, zum unvermeidlichen Kollateraleffekt einer Politik, die nicht mehr fragt, ob etwas sinnvoll ist, sondern nur noch, ob es förderfähig formuliert wurde. Die Verwaltung wird zur Maschine, die Anträge verdaut und Geld ausspuckt, während draußen die Debatte über Einsparungen tobt wie ein schlecht synchronisiertes Hörspiel.

Globales Engagement, lokal bezahlt

Am augenfälligsten wird die Absurdität dort, wo die Stadt geografisch weit ausholt. Eine Schulbäckerei im Kongo, Bienenzucht in Burkina Faso, Ausbildung inhaftierter Jugendlicher in Bhutan – Projekte, die zweifellos edel klingen und moralisch schwer angreifbar sind, gerade deshalb aber eine besondere Reibung erzeugen. Denn während daheim von Verzicht gesprochen wird, finanziert man andernorts Hoffnung, Ausbildung und Honig. 30.866,97 Euro für Bienenzucht, ein Betrag mit zwei Dezimalstellen, der suggeriert, hier sei bis auf den letzten Cent gerechnet worden, obwohl die Grundsatzfrage längst unter dem Tisch liegt: Warum hier, warum jetzt, warum ausgerechnet von einer Stadt, die sich gleichzeitig in Sparappellen übt? Die Antwort bleibt diffus, irgendwo zwischen internationaler Verantwortung, politischer Symbolik und dem tief sitzenden Wunsch, gut zu sein, selbst wenn man es sich eigentlich nicht leisten kann.

Moral als Haushaltsposition

Vielleicht liegt das eigentliche Problem nicht in den einzelnen Projekten, sondern in der Logik dahinter. Moral wird zur Haushaltsposition, Solidarität zur Budgetzeile, und das schlechte Gewissen gegenüber der Welt lässt sich offenbar leichter finanzieren als der gute Zustand der eigenen Infrastruktur. Die Schulbäckerei im Kongo backt Brot, während in Wien über Schließtage und Gebühren diskutiert wird; die Imkerinnen in Burkina Faso lernen ein Handwerk, das zuvor kaum existierte, während man sich fragt, welches Handwerk hierzulande demnächst aus Spargründen verschwindet. Die Ironie ist nicht böse, sie ist leise, fast höflich, und gerade deshalb so wirksam.

Der Charme des gut Gemeinten

Am Ende bleibt ein schaler, aber auch komischer Nachgeschmack. Denn all diese Förderungen sind gut gemeint, und nichts ist satirisch ergiebiger als das gut Gemeinte, wenn es sich von der Realität abkoppelt. Die Stadt wird zur großzügigen Tante, die selbst knapp bei Kasse ist, aber nicht aufhören kann, Geschenke zu verteilen, weil Großzügigkeit längst Teil ihrer Identität geworden ist. Und so entsteht ein Zustand, in dem das Sparen gepredigt wird wie eine Tugend, während das Verteilen praktiziert wird wie ein Reflex. Man kann darüber den Kopf schütteln oder müde lächeln – oder beides zugleich. Denn vielleicht ist das die eigentliche Pointe: Dass sich eine Stadt in ihren Förderlisten selbst parodiert, ohne es zu merken, und damit unbeabsichtigt eines der besten satirischen Essays schreibt, die man derzeit lesen kann – nur eben verteilt auf hunderte Seiten Verwaltungsprosa.

Advent am Rand des Abgrunds

Es gibt Sätze, die klingen wie ein Kaminfeuer, und andere, die klingen wie ein Streichholz im Munitionslager. „Wir würden auch entsprechende russische Übergriffe und Angriffe erwidern“ gehört eindeutig zur zweiten Kategorie, selbst wenn er in einem Fernsehstudio mit gedämpftem Licht, seriöser Krawatte und der beruhigenden Kulisse des öffentlich-rechtlichen Abendprogramms ausgesprochen wird. Die eigentliche Pointe dieses vorweihnachtlichen Moments liegt nicht einmal in der martialischen Wortwahl, sondern in der erstaunlichen Selbstverständlichkeit, mit der hier eine militärische Eskalationslogik als fast schon haushaltsübliche Option präsentiert wird, so als ginge es um die Erhöhung der Parkgebühren oder die Verlängerung der Ladenöffnungszeiten. Man reibt sich die Augen, nicht weil man den Satz nicht verstanden hätte, sondern weil man ihn zu gut versteht: als Einladung, das Undenkbare denkbar und das Unmögliche plausibel zu machen, wenigstens für die Dauer eines Interviewsegments.

Friedenstruppen im Konjunktiv

Die Idee einer multinationalen Friedenstruppe lebt traditionell vom Konjunktiv. Sie schwebt in diesem grammatikalischen Schwebezustand zwischen Hoffnung und Halluzination, getragen von der Annahme, dass es irgendwann etwas geben wird, das man befrieden kann. In diesem Fall jedoch wird der Konjunktiv resolut durch den Indikativ ersetzt: Wir würden, wir werden, wir erwidern. Der Frieden selbst bleibt dabei eine Art Staffage, ein Bühnenbild aus Pappe, hinter dem bereits die Pyrotechnik gezündet wird. Dass es weder einen Waffenstillstand noch eine von allen Seiten akzeptierte Nachkriegsordnung gibt, wirkt im Eifer des geopolitischen Gefechts beinahe nebensächlich. Die Friedenstruppe wird nicht als Resultat eines mühsamen Aushandelns gedacht, sondern als Projektionsfläche für Entschlossenheit, als Symbolpolitik mit Stahlhelm.

Mandate aus dem Wunschkonzert

Noch erstaunlicher als der martialische Ton ist die Leichtigkeit, mit der die Frage des Mandats übersprungen wird, als handle es sich um eine lästige Fußnote. Wer erteilt eigentlich das Recht, militärische Gewalt anzuwenden, wenn „Übergriffe erwidert“ werden sollen? Der Sicherheitsrat mit seinem notorischen Veto-Problem? Irgendeine europäische Konstruktion, die auf dem Papier eindrucksvoll, in der Praxis jedoch unverbindlich bleibt? Oder genügt am Ende der moralische Imperativ, der sich selbst legitimiert, weil er sich gut anhört? In dieser Logik wird das Mandat zur Formsache, zur nachgereichten Formalität, während die eigentliche Handlung bereits im Kopf vollzogen ist. Man malt sich aus, was man tun würde, und übersieht dabei, dass genau dieses Ausmalen der erste Schritt in eine Realität sein kann, die niemand ernsthaft betreten wollte.

Historische Gespenster im Tarnanzug

Es gibt Bilder, die man nicht beschwört, wenn man es vermeiden kann. Die Vorstellung bewaffneter deutscher Soldaten, die einen russischen Angriff „erwidern“, gehört zweifellos dazu. Sie ist kein nüchternes Planspiel, sondern ein historisches Echo mit Nachhall, ein Gespenst im Tarnanzug, das sich weigert, in den Archiven zu bleiben. Wer diese Assoziation leichtfertig in Kauf nimmt, beweist entweder eine bemerkenswerte Geschichtsvergessenheit oder einen Zynismus, der sich hinter dem Gestus der Stärke verbirgt. Beides ist unerquicklich, zumal es hier nicht um abstrakte Schachfiguren geht, sondern um reale Menschen, reale Waffen und reale Eskalationsstufen, die sich bekanntlich nicht an Drehbücher halten.

Die Arithmetik der Unmöglichkeit

Rechnet man die Idee nüchtern durch, ergibt sich eine Arithmetik der Unmöglichkeit. Wer macht mit, wer bleibt draußen, wer trägt welche Risiken? Wer entscheidet im Ernstfall, ob ein Vorfall noch als „Übergriff“ gilt oder bereits als casus belli? Und wer übernimmt die politische Verantwortung, wenn aus dem erwiderten Angriff eine Kettenreaktion wird? Diese Fragen sind unerquicklich, also werden sie im wohligen Warmlicht der Entschlossenheitsrhetorik lieber ignoriert. Stattdessen setzt man auf das suggestive Potenzial klarer Worte, die Stärke signalisieren sollen und dabei vor allem eines verraten: ein erstaunlich simples Verständnis von militärischer Logik, die glaubt, Abschreckung ließe sich durch Talkshow-Sätze herstellen.

Der Kanzler als Brandstifter wider Willen

Dass all dies ausgerechnet in der Adventszeit geschieht, verleiht dem Ganzen eine zusätzliche, fast schon literarische Ironie. Während andernorts vom Frieden gesungen wird, jongliert man hier mit Szenarien bewaffneter Auseinandersetzung, als seien sie unvermeidliche Begleiterscheinungen einer verantwortungsvollen Politik. Der Kanzler erscheint dabei weniger als kühler Stratege denn als Brandstifter wider Willen, der glaubt, mit dem Feuer spielen zu können, ohne sich die Finger zu verbrennen. Die Pose der Führungsstärke kippt ins Groteske, sobald klar wird, dass sie auf Voraussetzungen basiert, die es schlicht nicht gibt.

Möchtegern Merziavelli

Am Ende bleibt der Eindruck eines politischen Moments, der mehr über das Selbstbild seines Urhebers verrät als über realistische Optionen. Der große Staatsdenker, der glaubt, mit demonstrativer Härte Geschichte zu schreiben, gerät zur Karikatur eines Merziavelli, der die Kunst der Macht mit der Kunst der markigen Formulierung verwechselt. Satirisch betrachtet ist das beinahe komisch: eine Tragödie im Entwurf, vorgetragen mit dem Ernst eines Mannes, der nicht merkt, dass er gerade den Witz liefert. Tragisch ist es dort, wo diese Worte nicht als rhetorische Fingerübung verstanden werden, sondern als ernst gemeinte Ankündigung. Denn wer im Spiel mit dem Feuer vergisst, dass es sich um echtes Feuer handelt, sollte sich nicht wundern, wenn am Ende mehr brennt als nur die Kerzen auf dem Adventskranz.