Wir halten fest: Haltung ist wichtiger als Hirn

Die Bewertungsgesellschaft: Wo das Argument stirbt und das Gefühl regiert

Es war einmal eine Gesellschaft, in der man sich noch stritt. Mit harten Worten, klaren Gedanken, spitzen Federn und aufgeschlagenen Büchern. Man zerriss sich in Zeitungsartikeln, duellierte sich mit Zitaten und konterte mit Fußnoten. Ein Argument galt nicht deshalb, weil es gefiel, sondern weil es durchdacht war – und vielleicht sogar unbequem. Doch diese Epoche ist vorbei. Tot. Begraben unter Likes, Empörungswellen und Talkshowgeschrei. Heute zählt nicht, was jemand sagt, sondern wer es sagt – und vor allem, wie.

Willkommen in der Ära der Meinungsbewertung. Wer heute noch wagt, einen Gedanken zu formulieren, der nicht vorher auf seine moralische Hautverträglichkeit getestet wurde, der lebt gefährlich. Er riskiert keine Replik, sondern eine Diagnose: „problematisch“, „toxisch“, „rechts offen“, „links verklärt“, „cis-normativ“, „nicht inklusiv“, „tone-deaf“, „technokratisch“, „kulturvergessen“ – die Etikettenregale sind gut gefüllt, und das Verfallsdatum des Arguments liegt meist vor der ersten Silbe.

Was zählt, ist nicht mehr, ob etwas stimmt, sondern ob es rein ist. In der Bewertungsgesellschaft wird nicht mehr geprüft, sondern gewogen. Und wehe, das Ergebnis entspricht nicht dem moralisch geforderten BMI der Gegenwart.

Moral als Maßstab: Der Fetisch der Gesinnung

Die Meinung von heute ist kein Gedankengebäude mehr, sondern ein Fashion-Statement. Man trägt sie wie ein T-Shirt: Haltung gegen Rechts, Haltung gegen Kapitalismus, Haltung gegen Haltungslosigkeit. Und wer keine hat – oder, schlimmer noch, eine falsche –, der wird in den digitalen Schafspelz der Ignoranz gekleidet. Diskussionen sind passé. Debatten sind zu gefährlich. Stattdessen gibt es Ratings. Bewertungsskalen. Kategorisierungen. Und am Ende immer dasselbe Fazit: „Darf man so nicht sagen.“

Der Moralismus unserer Zeit ist nicht etwa ein Rückfall in religiöse Dogmatik – das wäre immerhin ehrlich. Nein, er tarnt sich als Fortschritt. Als Bewusstsein. Als Gerechtigkeit. In Wahrheit ist er eine Reinigungsmaschine, die alles wegspült, was nicht dem Code entspricht. Und dieser Code lautet: Sag nichts, was man falsch verstehen könnte. Im Zweifel lieber gar nichts. Die neue Form der Tugend ist die Selbstzensur mit empathischem Lächeln.

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Argumente? Wer braucht Argumente, wenn er Haltung hat? Wenn die Tränen in den Augen glänzen, wenn man für das Gute kämpft, dann ist jeder Gedanke, der zu differenziert, schon fast ein Verrat. Wo früher der Dissens das Herz der Demokratie war, ist heute die Übereinstimmung das Ideal: Alle gleich gut, alle gleich betroffen, alle gleich empört. Und wer abweicht, wird nicht kritisiert – er wird aussortiert.

Diskursverweigerung als soziales Kapital

In dieser neuen Welt zählt nicht der Gedanke, sondern der Gestus. Der performative Aufschrei ersetzt die sachliche Einordnung, das Mem den Essay, der Shitstorm das Streitgespräch. Es geht nicht mehr um Überzeugung, sondern um Überwältigung. Der lauteste Affekt gewinnt, nicht das überzeugendste Argument. Wer differenziert, verliert – denn Differenz stört die moralische Hygiene.

Man könnte fast sagen: Die neue Intellektualität besteht darin, nicht zu denken, sondern zu fühlen. Und zwar richtig. Es ist die Ära der empathisch begründeten Denkvermeidung. Und wer sich dem entzieht, wer es wagt, zu widersprechen – nicht aus Bosheit, sondern aus Neugier –, der wird nicht etwa mit Gegenargumenten bedacht, sondern mit Etiketten: „Naiv.“ „Privilegiert.“ „Altweiß.“ „Männermeinung.“ „Whataboutism.“

Diskursverweigerung ist zum Statussymbol geworden. Es demonstriert Reinheit. Es schützt vor Irritation. Und es gibt Sicherheit: Denn wer nichts infrage stellt, wird auch selbst nicht infrage gestellt. Eine perfekte Symbiose aus Konformität und Komfort.

Die Reduktion des Menschen auf seine Meinung

Wenn die Meinung eines Menschen wichtiger ist als seine Fähigkeit zu denken, dann wird aus der Person ein Avatar. Kein Individuum mehr, sondern eine Haltung auf zwei Beinen. Eine Meinung ist heute nicht mehr ein Aspekt des Denkens, sondern dessen Ersatz. Und so wird jeder Mensch zum Marker, zum Standpunkt, zum Feind oder Freund. Man kennt sich nicht – man bewertet sich. Sympathisch ist, wer dasselbe teilt. Gefährlich, wer widerspricht.

Diese Reduktion ist ein Armutszeugnis für die Aufklärung. Sie verwandelt die Idee von Freiheit – der Freiheit zu irren, zu provozieren, sich zu korrigieren – in ein Korsett der Meinungshygiene. Man darf noch alles sagen, solange es niemandem wehtut. Doch was ist eine Gesellschaft, in der das einzig erlaubte Wort das ist, das niemanden stört? Sie ist nicht frei – sie ist betäubt.

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Am Ende steht das Schweigen – aber in guter Haltung

Wir leben in einer paradoxen Zeit. Noch nie war es so leicht, sich öffentlich zu äußern – und noch nie so gefährlich, es wirklich zu tun. Jeder darf sprechen, aber wehe, er sagt etwas Falsches. Die digitale Öffentlichkeit ist ein Tribunal geworden, vor dem man täglich erscheinen muss, auch ohne Anklage. Es reicht, wahrgenommen zu werden – der Rest erledigt der Mob.

Das Ideal der pluralistischen Gesellschaft wurde ersetzt durch das Ideal der gesäuberten Meinungslage. Und während die einen schweigen, aus Angst vor Reputationsverlust, reden die anderen, ohne je etwas zu sagen. Es ist ein kollektives Rauschen ohne Substanz. Eine Kakophonie der korrekt kalibrierten Unverbindlichkeiten.

Herodot würde sich im Grab umdrehen. Sokrates würde zynisch grinsen und den Schierlingsbecher gleich noch mal nehmen. Und wir? Wir scrollen weiter, liken Statements, die wir nicht verstehen, und blockieren Menschen, die uns beunruhigen. Es ist bequem, es ist ungefährlich – und es ist das Ende des Denkens.

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