Von der Friedensdividende zur Panzerdividende

Die Rückkehr des militärisch-industriellen Deliriums

Es war einmal, in jenem fernen, fast märchenhaften Jahrzehnt nach dem Fall der Mauer, als Europa sich einbildete, Geschichte sei etwas für Museen, Kriege etwas für ferne Kontinente, Panzer Relikte aus dem Kalten Krieg und Rüstungsausgaben – ein hässliches Wort, beinahe obszön – etwas, das man wie Bananenschalen in den Mülleimer der Geschichte entsorgen könne. Damals sprach man von der Friedensdividende, jenem sagenumwobenen Schatz, der sich aus den eingesparten Milliarden speisen sollte, die man nun statt in Marschflugkörper in Kindergärten, Universitäten, Solarpaneele und subventionierte Opernkarten stecken wollte. Doch der Traum endete, wie es sich für europäische Träume gehört, in einer Bürokratie. Und wie das bei Träumen nun einmal ist: Wenn man sie zu oft vertagt, kehren sie als Albtraum zurück.

Jetzt, anno 2025, ist die Lage wieder ernst – oder, wie man in Brüssel sagt, „komplex“ – und plötzlich sprechen die Verteidigungsminister wieder wie Generäle, die Think-Tanks röcheln vor Begeisterung, und überall tauchen Zahlen auf, die einst nur in der Astrophysik vorkamen. 100 Milliarden hier, 300 Milliarden dort – und das nur als „Startsignal“, nicht etwa als Endpunkt. Rüstung ist wieder sexy. Und nichts ist in Europa gefährlicher als ein Thema, das plötzlich sexy wird. Was in Mode ist, wird verteidigt – notfalls mit Waffengewalt.

Wer Wohlstand will, muss Krieg denken: Die neue Logik der Abschreckung

Was tun wir nicht alles für unser Sicherheitsgefühl! Früher waren es Videoüberwachung und Kampfhunde, heute sind es Raketenabwehrsysteme, Tarnkappentechnologie und Leopard-Panzer, die durch industrielle Wälder galoppieren wie mechanisierte Einhörner des Fortschritts. Wer heute sagt, dass Frieden durch Diplomatie gesichert werden könne, gilt als Romantiker. Wer hingegen empfiehlt, den Staatshaushalt zugunsten der Rüstungsindustrie umzugestalten, wird eingeladen, im Bundestag eine Expertenanhörung zu leiten – oder gleich in den Aufsichtsrat von Rheinmetall.

Wir haben gelernt, dass Wohlstand eine Nebenwirkung von Hochrüstung sein kann – wenn auch nicht für alle. Für die Einen bedeutet sie Dividenden, für die Anderen Butterverzicht. Denn wenn das nächste Sozialprogramm eingestampft wird, damit irgendwo in Litauen ein Nato-Depot klimaneutral beheizt werden kann, dann ist das kein Kollateralschaden, sondern geopolitische Vernunft. Wer sich beklagt, dass das Geld für Schulen fehlt, hat eben den Ernst der Lage nicht verstanden. Bildung schützt nicht vor Hyperschallraketen – auch wenn der Gedanke schön wäre. Und während Krankenschwestern mit Applaus bezahlt werden, erhalten Drohnenhersteller staatlich garantierte Abnahmeversprechen. Willkommen in der Realität 2.0.

Abschreckung ist das neue Mitgefühl: Die Moral der Militärs

Selbstverständlich wird das Ganze in moralisch einwandfreier Verpackung geliefert. Niemand spricht vom „Wettrüsten“, sondern von „Abschreckungsfähigkeit“ und „strategischer Resilienz“. Wörter, die klingen wie aus der Managementberatung für aggressive Staaten. Man will ja nicht Krieg führen, man will ihn verhindern – mit möglichst vielen Waffen. Je mehr Panzer wir haben, so die neue Dialektik der Sicherheit, desto weniger müssen wir sie einsetzen. Ein logischer Fehlschluss, der in etwa so klingt wie: Je mehr Atommüll wir produzieren, desto sauberer wird die Umwelt – denn wir strahlen ja nur präventiv.

Die europäische Öffentlichkeit wird unterdessen konditioniert, als ginge es um ein neues Fitnessprogramm: Die Wehrhaftigkeit muss gestärkt, die Sicherheit trainiert, die Landesverteidigung „mental verankert“ werden. Das klingt dann nach einer Art Yoga für Patrioten. Und wer fragt, ob man nicht auch in Frieden investieren könnte, wird milde belächelt – oder mit ernstem Blick darauf hingewiesen, dass Pazifismus in Zeiten hybrider Bedrohungen naiv sei, wie ein Kind, das sich vor einem Sturm unter einem Regenschirm versteckt.

Satire oder Realität? Man weiß es nicht mehr so genau

Der Umstand, dass europäische Demokratien bereitwillig jene Summen mobilisieren, für die man noch vor fünf Jahren belächelt worden wäre, während sie gleichzeitig um jeden Euro für den Mindestlohn feilschen, ist keine Ironie der Geschichte. Es ist ihre Fortsetzung mit anderen Mitteln – nämlich buchhalterischen. Die Zahlenspiele, die früher dem Sozialetat galten, gelten nun dem Rüstungshaushalt. Man spricht von „langfristiger Investition“, „wirtschaftlicher Dynamisierung“ und „europäischer Souveränität“. Alles sehr vernünftig. Nur fragt sich niemand, wieso europäische Souveränität immer dann als besonders gefährdet gilt, wenn es darum geht, neue Kampfjets zu bestellen – nicht aber, wenn Krankenhäuser schließen.

Wer sich dieser Logik verweigert, steht schnell im Verdacht, „realitätsfern“ oder gar „russlandfreundlich“ zu sein. Denn wie jeder weiß: Kritik an europäischer Hochrüstung ist faktisch Beihilfe zur Destabilisierung. In einem Klima, in dem Satire kaum noch als solche erkannt wird, weil die Realität sie längst überholt hat, bleibt nur die Flucht nach vorn – ins Absurde. Man stelle sich eine Talkshow vor, in der Verteidigungspolitiker fordern, Panzer möge man künftig CO₂-neutral konstruieren, um beim Töten wenigstens das Klima zu schonen. Oh, Moment. Die gibt es ja bereits.

Fazit: Der Frieden ist nicht tot – er riecht nur etwas nach Schmieröl

Europa rüstet auf – mit Inbrunst, Überzeugung und einer fast obszönen Ernsthaftigkeit, die nur durch gelegentliche Appelle zur „humanitären Dimension der Verteidigungspolitik“ gebrochen wird. Die Tatsache, dass all dies in Demokratien geschieht, ist kein Trost, sondern Teil des Problems. Denn Demokratie bedeutet nicht automatisch Weisheit – manchmal bedeutet sie auch: Zustimmung zur kollektiven Angstverwertung. Und Angst ist ein verdammt guter Ratgeber, wenn man Panzer verkaufen will.

Wir sollten uns also wirklich überlegen, ob wir in einem Europa leben wollen, das seine Vorstellung von Sicherheit aus dem Pentagon bezieht, seinen Sozialstaat opfert, um Raketenabwehr zu kaufen, und glaubt, Frieden sei etwas, das man mit genügend Kaliber sichern kann. Vielleicht ist es noch nicht zu spät, sich zu erinnern: Dass Sicherheit nicht nur eine Frage der Rüstung ist – sondern auch der Gerechtigkeit. Und der Vernunft.

Aber Vernunft ist bekanntlich nicht wehrfähig.

Die wortlose Zivilisation

Wie die Finnen das Schweigen zur höchsten Form der Kommunikation erhoben

In einer Welt, die sich selbst in belanglosen Floskeln ersäuft, die das Schweigen für ein soziales Vergehen hält und jede Lücke im Gesprächsfluss sofort mit sprachlichem Verpackungsmüll stopft wie ein hysterischer Gastgeber, der fürchtet, seine Gäste könnten den Mangel an Canapés für einen Angriff auf ihre Menschenwürde halten, gibt es ein kleines, widerspenstiges Volk im Norden Europas, das mit stoischer Beharrlichkeit seine kollektive Sprachverweigerung kultiviert hat: die Finnen. Ja, jene stillen Titanen der Zurückhaltung, die mit der Seelenruhe eines zugefrorenen Sees jede Form des Small Talks in Grund und Boden schweigen – nicht aus Verachtung, sondern aus einer viel subtileren, viel raffinierteren Form der Ablehnung: vollkommener Gleichgültigkeit. Es ist ein kulturelles Statement, ein nonverbales Manifest, ein heroisches Plädoyer für die stille Würde des menschlichen Daseins, und, seien wir ehrlich, ein gewaltiger Mittelfinger an all die schwatzenden Gesellschaften da draußen, die glauben, Kommunikation beginne mit dem Wetter und ende mit dem Fußballergebnis von gestern.

Denn was ist Small Talk anderes als die sprachliche Version von Instantkaffee? Schnell gemacht, geschmacklos, aber irgendwie notwendig, weil man sonst nicht weiß, wohin mit sich. Während der Durchschnittseuropäer mit einer fast pathologischen Energie belanglose Gespräche darüber führt, wie „die Temperaturen dieses Jahr aber wirklich verrückt spielen“ oder dass „der Bus heute schon wieder zu spät war“, sitzen die Finnen da wie die letzten Überlebenden einer stoischen Philosophie, die nie aufgeschrieben wurde, weil: Warum schreiben, wenn man schweigen kann? Ihre Sprache kennt kein Wort für Small Talk – und das ist kein Versäumnis, sondern ein Sieg. Während andere Völker noch damit beschäftigt sind, Wörter für neue Emojis zu erfinden, lehnen die Finnen bereits grundsätzlich die Notwendigkeit ab, über Dinge zu sprechen, die keinen Erkenntnisgewinn bringen.

Wenn Schweigen Gold ist, dann sind die Finnen Multimillionäre der Zwischenmenschlichkeit

Natürlich, der Durchschnittstourist – sagen wir, ein Deutscher mittleren Alters, der glaubt, dass gute Kommunikation darin besteht, jede Begegnung mit einem enthusiastischen „Na, auch hier?“ einzuleiten – wird an einem finnischen Esstisch vermutlich einen nervösen Zusammenbruch erleiden. Es ist ein bestürzendes Erlebnis, zum ersten Mal in einer Gruppe Finnen zu sitzen, die kollektiv beschlossen hat, nicht zu sprechen. Kein peinliches Schweigen. Kein betretenes Hüsteln. Kein Zwang, die Leere mit dem akustischen Äquivalent von Schaumstoff zu füllen. Nur pure, konzentrierte, fast meditative Ruhe, so dicht, dass man sie schneiden könnte – wenn man denn das Bedürfnis hätte, aber genau das hat man nicht. Denn nach dem ersten Schock erkennt man: Das Schweigen ist nicht leer. Es ist voll. Voller Gedanken, voller Respekt, voller Raum zum Atmen. Es ist die Demokratisierung der Kommunikation: Jeder darf denken, niemand muss reden.

Es ist eine Stille, die so mächtig ist, dass sie einem die eigene Geschwätzigkeit wie ein schmutziges Laster vorkommen lässt. Als hätte man sein ganzes Leben im permanenten akustischen Auswurfmodus gelebt und erst jetzt begriffen, dass der Mensch nicht geschaffen ist, um pausenlos zu senden, sondern vor allem, um zu empfangen. Die Finnen haben das begriffen. Sie haben nicht nur den Small Talk abgeschafft, sondern ihn regelrecht verachtet, ohne ihn jemals aktiv bekämpfen zu müssen – was, zugegeben, auch daran liegt, dass aktive Bekämpfung wieder eine Form von Überkommunikation wäre. Stattdessen lassen sie ihn einfach versanden in einem kulturellen Niemandsland, wo ihn niemand vermisst.

Gesellschaftliche Eleganz durch Zurückhaltung: Warum kein Gespräch manchmal das beste Gespräch ist

Und genau darin liegt die wahre Ironie: Während westliche Kommunikationsgurus in TED-Talks ihre Nasenhaare darüber philosophieren, wie wichtig „aktive Gesprächsführung“ und „soziale Resonanz“ seien, sitzen in einer Sauna bei Turku drei Männer nebeneinander, nackt wie die Wahrheit, schwitzend wie die Apokalypse – und sagen nichts. Minutenlang. Manchmal stundenlang. Und doch herrscht unter ihnen eine tiefere Verbindung als zwischen zwei Berufsnetworkern auf einem Berliner Start-up-Festival. Denn sie wissen: Wenn du wirklich etwas zu sagen hast, sag es. Wenn nicht – halt die Klappe.

Und da sind wir bei der eigentlichen Stärke der finnischen Gesprächskultur: Sie hat nichts mit sozialer Kälte zu tun, sondern mit intellektueller Hygiene. Die Finnen filtern das Relevante vom Lärm, mit der Akribie eines Bibliothekars, der jede Floskel wie ein beschädigtes Buch zurückweist. In einer Welt, in der schon das Teilen von Gedanken ein öffentliches Event geworden ist, verteidigen sie ihr Recht auf gedankliche Privatheit wie einen Schatz. Während anderswo Menschen in Panik geraten, wenn fünf Sekunden Stille im Zoom-Call entstehen, nutzen die Finnen diese Zeit, um nachzudenken. Und das Ergebnis ist nicht selten: ein präziser, klarer, durchdachter Satz – das kommunikative Äquivalent zu einem perfekt geschliffenen Diamanten.

Der stille Affront: Warum finnisches Schweigen die westliche Kommunikationsideologie sprengt

Für Außenstehende mag dieses kollektive Verstummen manchmal wirken wie ein Angriff auf die Gesprächsgrundlagen der Zivilisation. Ist nicht Reden die Grundlage menschlichen Zusammenlebens? Ist Schweigen nicht ein Zeichen von Misstrauen oder Desinteresse? Mitnichten. In Finnland ist das Gegenteil der Fall: Wer schweigt, vertraut darauf, dass der andere schweigen kann, ohne sich zurückgewiesen zu fühlen. Es ist eine radikale Umkehrung der westlichen Ideale – kein Reden als Ausdruck von Intimität. Keine Worte als Zeichen maximaler Nähe.

Das Schweigen ist hier kein Vakuum, sondern ein Zustand. Eine Form der Präsenz, die nicht durch Wörter verdünnt wird. Und vielleicht, nur vielleicht, ist es genau das, was uns fehlt in einer Welt, die sich selbst im Geschwätz verliert. Vielleicht sollten wir uns nicht fragen, wie wir mehr miteinander reden können – sondern warum wir das überhaupt ständig tun müssen. Vielleicht liegt die Zukunft nicht im besseren Gespräch, sondern im besseren Schweigen. In einem Schweigen, das nicht leer ist, sondern bereit.


Wenn Sie also das nächste Mal in Helsinki an einem Esstisch sitzen und niemand mit Ihnen spricht – dann seien Sie stolz. Sie wurden akzeptiert. Sie sind angekommen. Und wenn Sie sich unbeholfen fühlen, weil niemand über das Wetter redet – dann denken Sie daran: Es ist in Ordnung. Es ist sogar großartig. Denn vielleicht ist die höchste Form menschlicher Reife nicht das Gespräch – sondern das Wissen, wann man es nicht führen muss.

Wenn Menschenrechte auf Terrorstaaten treffen

Von der westlichen Doppelmoral, der Feigheit vor klarer Sprache und der bitteren Notwendigkeit, Unrecht auch Unrecht zu nennen

Ja, es gibt ein Völkerrecht. Ja, es gibt ein Kriegsrecht. Und ja – es gibt vor allem eines: Menschenrechte. Keine diplomatisch auslegbaren Formalien, keine kulturell verhandelbaren Traditionen. Menschenrechte sind unteilbar. Punkt. Wer dieses Fundament verlässt, verlässt nicht nur die Sphäre der Zivilisation, sondern stellt sich aktiv gegen sie. Und damit beginnt eine Debatte, die sich nicht länger hinter Multilateralismus und moralischer Äquidistanz verstecken darf – denn wer Freiheit und Würde wirklich verteidigt, darf zu bestimmten Formen der Gewalt nicht schweigen.

Es gibt auf diesem Planeten Staaten, die in ihrer gesamten Struktur, ihrer Verfasstheit und ideologischen Ausrichtung eine radikale Absage an genau diese Menschenrechte sind. Regime, die sich nicht nur durch die alltägliche Unterdrückung ihrer Bevölkerung definieren, sondern ihr ideologisches Fundament auf dem Hass gegen andere aufbauen – nicht zuletzt auf der Auslöschung Israels, des einzigen jüdischen Staates der Welt und gleichzeitig der einzigen stabilen Demokratie im Nahen Osten. Wer das immer noch als „komplex“ oder „vielschichtig“ relativiert, hat sich längst auf die Seite der Komplizen begeben.

Von Symbolpolitik zu blankem Terror

Wir reden hier nicht von politischen Differenzen oder kulturellen Spannungen. Wir reden von einem religiös-ideologischen System, das Frauen zu Tode prügelt, weil ihnen ein Kopftuch verrutscht. Das homosexuelle Menschen öffentlich an Baukränen erhängt. Das Kritiker in Schauprozessen verurteilt, foltert und verschwinden lässt. Dessen „Revolutionsgarden“ mit gutem Grund auf Terrorlisten westlicher Staaten stehen, weil sie seit Jahrzehnten Auftragsmorde, Sprengstoffattentate und Milizen finanzieren – nicht nur in der Region, sondern weltweit.

Dieses Regime nutzt Gewalt nicht als Mittel, sondern als Selbstzweck. Es ist kein Staat mit autoritären Zügen – es ist eine strukturierte Herrschaftsform des permanenten Ausnahmezustands. Die Islamische Republik Iran ist kein „Staat wie jeder andere“, sondern ein totalitärer Machtapparat, der alle Institutionen – Militär, Justiz, Medien, Wirtschaft – auf die systematische Unterdrückung der eigenen Bevölkerung und die Expansion seiner Ideologie ausrichtet. Seine „Revolutionsgarden“ sind nicht nur eine Art Geheimpolizei. Sie sind Terrortruppe, Sittenwächter, Großunternehmer und Schattenregierung in einem. Man kann diese Formation, bei aller historischen Vorsicht, mit der SS vergleichen – nicht, weil alles gleich ist, sondern weil die Mechanismen der Einschüchterung, der Kontrolle, der Gewaltanwendung und der ideologischen Disziplinierung strukturell ähnlich funktionieren.

Die rote Linie ist längst überschritten

Wer angesichts dessen immer noch ernsthaft davon spricht, dass man „alle Seiten verstehen“ müsse, betreibt eine gefährliche Form der moralischen Neutralität. Denn das ist keine Grauzone mehr. Das ist Schwarz und Weiß. Wer sich über tote Zivilisten empört, aber bei systematischer staatlicher Lynchjustiz den Mund hält, betreibt nicht Menschenrechtspolitik, sondern Meinungsgymnastik.

Und ja: Es ist legitim – moralisch wie völkerrechtlich – sich gegen ein Regime zur Wehr zu setzen, das nicht nur das Existenzrecht eines anderen Staates leugnet, sondern aktiv daran arbeitet, diesen Staat zu zerstören. Ein Regime, das Raketen auf Zivilisten abfeuert, Terrorgruppen finanziert und seine Bevölkerung als menschliche Schutzschilde missbraucht, muss, im Ernstfall, militärisch gestoppt werden. Auch das ist Menschenrechtspolitik – nämlich dort, wo die internationale Gemeinschaft ihren Schutzauftrag ernst nimmt.

Zynismus? Nein. Notwendigkeit.

Natürlich klingt das hart. Natürlich will niemand Bomben. Aber in einer Welt, in der man sich täglich entscheiden muss, ob man die Täter schont oder die Opfer schützt, ist Schweigen eine Parteinahme – und zwar die falsche. Das bedeutet nicht, dass man leichtfertig Kriege führen soll. Es bedeutet: Wenn alle zivilen Mittel ausgeschöpft sind, wenn das Unrecht sich nicht reformieren lässt, sondern aus seiner Natur heraus auf Zerstörung ausgerichtet ist – dann gehört es gestoppt. Notfalls mit Waffengewalt.

Wer das zynisch findet, hat wahrscheinlich noch nie mit einer Frau gesprochen, die nach ihrer Verhaftung in Teheran vergewaltigt wurde, um sie zu „läutern“. Wer das polemisch nennt, war nie in den Kellern von Evin. Wer das einseitig nennt, hat den Begriff der Menschenrechte nicht verstanden.

Klartext ist keine Hetze. Er ist überfällig.

Es geht nicht um Kulturkampf. Es geht nicht um Islamfeindlichkeit. Es geht um ein Regime, das seine Religion als Werkzeug der Versklavung missbraucht und das Völkerrecht mit Füßen tritt. Wer das nicht mehr auszusprechen wagt, weil es unbequem ist, hat sich längst von der Realität verabschiedet – und von der Verantwortung, die mit Freiheit einhergeht.

Wir brauchen keine Appeasement-Politik im Namen falsch verstandener Diplomatie. Wir brauchen eine neue Ehrlichkeit: Wer Menschenrechte ernst nimmt, darf auf staatlich organisierten Terror nicht mit Floskeln antworten – sondern mit Konsequenz.

Die Magie der leeren Kassen

Es gehört zu den intellektuellen Kabinettstückchen spätmoderner Politik, aus Nichts etwas zu machen – oder genauer: so zu tun, als sei dieses Nichts etwas, und zwar etwas Gutes. So wird ein Fonds ohne Geld nicht als das entlarvt, was er ist – ein kalter Witz auf Kosten der Bedürftigen –, sondern als „innovatives Instrument zur Armutsbekämpfung“ bejubelt. Welch semantische Artistik! Das ist, als würde man ein Feuer löschen wollen, indem man begeistert über Wassereimer philosophiert, die irgendwo in der Zukunft aufgestellt werden könnten – allerdings leer. Und mit einem großen Loch im Boden. In dieser hohlen Rhetorik spiegelt sich das Credo unserer Zeit: Hauptsache, es sieht nach etwas aus. Dass es funktioniert, ist sekundär – sofern überhaupt relevant. Denn der politische Applaus wird nicht für Ergebnisse vergeben, sondern für die Inszenierung von Absicht.

Verantwortungslosigkeit mit humanitärem Anstrich

Der Staat, dieser einstige Garant sozialer Teilhabe, zieht sich zurück wie ein schlecht gelaunter Gastgeber auf einer Party, die er nie wirklich geben wollte. Stattdessen lässt er Zivilgesellschaft und Spender:innen tanzen, während er am Rand steht und betont verständnisvoll nickt. „Solidarität muss aus der Mitte der Gesellschaft kommen“, heißt es dann beschwörend – ein Satz, so abgegriffen wie ein Ein-Cent-Stück im Supermarktfundbüro. Doch was bedeutet das konkret? Dass Almosen die neuen Steuern sind? Dass die Beseitigung von Kinderarmut davon abhängt, ob Tante Gisela diesen Monat eine Fünf-Euro-Dauerüberweisung einrichtet? Wir erleben eine subtile, aber effektive Form neoliberaler Verantwortungsexorzismus: Der Staat simuliert Fürsorge und lädt gleichzeitig die Armen dazu ein, geduldig auf private Milde zu hoffen. Eine postmoderne Form des Bettelns – institutionell aufgehübscht.

Funktionärinnenförderung mit Feigenblatt-Charme

Natürlich fällt bei all dem Getöse auch etwas ab – nur eben nicht für die Armen. Sondern für eine ganz besondere Klasse: die Bürokratie der Wohlmeinenden. In neuen Stabsstellen, Koordinierungszentren und „Kompetenznetzwerken Armut“ entstehen mit großem Eifer Positionen für Menschen, die nicht arm sind, aber sehr gern über Armut sprechen. Es sind die Hohepriesterinnen der strategischen Betroffenheit, ausgestattet mit Gender-Studies-Abschlüssen, Flipcharts und Drittmittelakquise-Talent. Ihre Mission? Nicht, Armut zu beseitigen – das wäre viel zu ambitioniert und würde obendrein die eigene Existenzgrundlage gefährden –, sondern sie zu verwalten, zu analysieren, zu dokumentieren. Die Armut wird so zum Dauergast in PowerPoint-Präsentationen und zum argumentativen Goldesel für ein Milieu, das sich seiner moralischen Überlegenheit so sicher ist wie der Banker seiner Boni. Was bleibt, ist ein perfekt dokumentiertes Elend – und eine neue Förderlinie für das nächste Panel.

Placebo mit Beipackzettel: Nebenwirkungen nicht ausgeschlossen

Die psychologische Funktion solcher Maßnahmen ist nicht zu unterschätzen: Sie sind das Baldrian für das schlechte Gewissen der saturierten Mitte. „Wir tun doch was!“, heißt es beschwichtigend – und damit ist dann auch schon alles gesagt. Der Fonds (ohne Fonds) ist wie ein homöopathisches Mittel gegen systemische Schieflagen: Der Wirkstoff ist nicht nachweisbar, aber der Glaube daran lindert subjektives Unbehagen. Leider lassen sich Mietschulden, Stromsperren oder Lebensmittelknappheit nicht mit Glaubenssätzen heilen. Doch in einer Welt, in der Politik zunehmend an die Logik von PR-Agenturen angepasst wird, zählen nicht Ergebnisse, sondern Erzählungen. Armut wird zur Storyline, zur gefühligen Kulisse für das eigene Gutmenschentum – konsumierbar, gefällig, folgenlos. Wer hingegen nach echter Umverteilung ruft, wird behandelt wie ein unangenehmer Verwandter beim Familienfest: Man hört höflich zu, doch innerlich plant man schon die Flucht.

Was es bräuchte – und was wir stattdessen bekommen

Armut lässt sich nicht mit Empathie-Seminaren oder Stuhlkreisen zur „Lage sozial benachteiligter Gruppen“ bekämpfen. Es braucht Geld. Öffentliche Investitionen. Mut zur klaren Prioritätensetzung. Und die radikale Ehrlichkeit, dass man dabei nicht allen gefallen wird. Doch genau diese Ehrlichkeit fehlt – und mit ihr der politische Wille. Stattdessen ergehen sich Parlamente in euphemistischer Rhetorik, die an die Textbausteine von Imagebroschüren erinnert. „Partizipative Teilhabeprozesse“ – was klingt wie ein Lippenbekenntnis mit Hochschulabschluss, ist oft nur eine Umschreibung für das systematische Überhören der Betroffenen. Denn wer arm ist, soll gefälligst dankbar schweigen – oder sich bestenfalls als authentisches Aushängeschild in einer Förderbroschüre ablichten lassen. Die Inszenierung braucht Gesichter – aber bloß keine Stimme.

Die Zukunft der Armut – gut verwaltet, schlecht bekämpft

So bleibt am Ende die nüchterne Diagnose: Armut ist kein Betriebsunfall, sondern strukturell gewollte Realität in einem System, das lieber Armut managt, als Reichtum zu besteuern. Der Fonds ohne Geld wird so zum Symbol einer Zeit, die mehr Energie darauf verwendet, soziale Missstände zu kaschieren als sie zu beseitigen. Vielleicht werden spätere Generationen diesen Moment rückblickend als das erkennen, was er ist: ein moralisches Armutszeugnis, hübsch gerahmt mit politischen Worthülsen. Und während irgendwo eine weitere Fachstelle für „resiliente Armutsprävention“ eröffnet wird, warten die Betroffenen weiter – auf Hilfe, auf Respekt, auf Gerechtigkeit. Doch immerhin: Die PowerPoint-Präsentationen laufen.

Die Freiheit trägt jetzt Jogginghose

Freiheit war einmal ein stolzes Wort, getragen auf den Schultern von Dichtern, Revolutionären und amerikanischen Präsidenten mit gut frisierten Locken. Heute trägt sie Kapuzenpulli, schielt aufs Smartphone, hasst Werbung und lebt vegan. Sie streamt Serien über dystopische Gesellschaften, in denen alles überwacht wird – und klickt danach ein Cookie-Banner weg, ohne mit der Wimper zu zucken. Freiheit 2025 – das ist nicht mehr das große Pathos der Barrikaden, sondern das kleine Zucken der Zustimmung unter den Nutzungsbedingungen von Meta, während man sich eine App installiert, die einem sagt, wann man atmen darf.

Denn während die Ewigbesorgten immer noch mit argwöhnisch gerunzelter Stirn in die Vergangenheit schielen, als Hitler noch Schnauzbart trug und die Welt in Schwarzweiß zerfiel, merkt keiner, dass heute niemand mehr Bücher verbrennt – sondern sie einfach durch Content ersetzt, der in einem Ozean aus Bequemlichkeit ersäuft. Die neue Zensur? Kein Index, keine Streichung – nur die schiere Bedeutungslosigkeit inmitten algorithmisch ausgekotzter Belanglosigkeiten.

Totalitarismus ist jetzt ein Abo-Modell

Wenn früher der Faschismus im Gleichschritt marschierte, marschiert heute der Neototalitarismus im Laufschritt hinter einem iPhone 17 her. Er hat kein Manifest mehr, sondern eine AGB. Er braucht keine Geheimpolizei, wenn er einen Empfehlungsalgorithmus hat. Er verbietet nicht – er personalisiert. Wer braucht Orwell, wenn er Netflix hat? Die beste Propaganda ist jene, die sich selbst binge-watched.

Wir leben in einer Ära der freiwilligen Knechtschaft, in der man sich über Zensur aufregt, während man TikTok-Filter durchprobiert, die das eigene Gesicht in das eines Einhorns verwandeln. Nichts wird verboten – es wird optimiert. Die Freiheit stirbt nicht an einem Putsch, sondern an einem Software-Update. Niemand verbietet dir, zu denken – aber wenn du es tust, bekommst du keine Likes.

Und wehe dem, der denkt, er sei frei, weil er sich zwischen zehn Sorten Craft-Bier entscheiden kann. Die Wahl zwischen Hefeweizen und Helles ist keine Demokratie. Freiheit ist nicht, ob du vegane oder bio-vegane Mandelmilch trinkst. Freiheit ist, nicht gezwungen zu sein, dazu eine Meinung zu haben.

Cancel Culture, Safe Spaces und andere Wohlfühl-Diktaturen

Früher wurden Dissidenten eingesperrt, heute werden sie entfolgt. Die neue Form der Repression kommt mit einem Regenbogenprofilbild und einer Triggerwarnung. Satire darf alles – außer jemanden verletzen, provozieren oder zum Denken anregen. Freiheit der Rede ist ein schönes Ideal, solange sie nicht die Komfortzone anderer durchbricht – denn was einst Mut zur Wahrheit war, ist heute Mikroaggression.

Die Diktatur 2025 trägt keinen Stahlhelm, sondern ein empathisches Lächeln. Sie kommt nicht mit dem Gewehr, sondern mit dem Anspruch auf Inklusivität. Der neue Totalitarismus will dich nicht brechen – er will dich umarmen. Er will, dass du dich wohlfühlst, in Watte gewickelt und begleitet von emotional validierten Buzzwords. Nur: Wer alle schützt, entmündigt auch alle. Und wer ständig vor Unfreiheit warnt, weil ein Tweet gelöscht wurde, hat offenbar nie erlebt, was wirkliche Repression bedeutet.

Die Gesichter der neuen Unfreiheit

Während der autoritäre Mensch des 20. Jahrhunderts mit Uniform und Gewehr ausstaffiert war, kommt sein Erbe heute aus dem Serverraum und trägt ein ethisch trainiertes Sprachmodell in der Cloud. Die künstliche Intelligenz weiß alles – und versteht nichts. Sie zensiert nicht, sie „moderiert“. Sie löscht nicht, sie „filtert toxisches Verhalten“. Die Maschine meint es nur gut – genau wie ihre Entwickler, die Gerechtigkeit in Codezeilen gießen wollen, während die Hälfte der Welt noch damit kämpft, überhaupt Strom zu haben.

Und währenddessen? Lässt sich der Mensch entmündigen – freiwillig. Wer denkt noch selbst, wenn ein Bot einem schon sagt, was „kontextuell angemessen“ ist? Warum ein Urteil fällen, wenn ein Score für dich entscheidet, ob dein Dating-Profil „vertrauenswürdig“ ist? Die neue Freiheit ist eine mitgelieferte Option – standardmäßig deaktiviert.

Was bleibt von der Freiheit? Ein Meme mit Reichweite

Die Freiheit 2025 hat keine Guillotine zu fürchten – sie stirbt am Fluch der Irrelevanz. Sie wird nicht abgeschafft, sondern unterwandert, zerlegt, trivialisiert, monetarisiert. Sie ist nicht mehr der Aufschrei des Widerstands, sondern ein YouTube-Video mit 3.000 Klicks, ein TikTok-Statement mit Filtergesicht und Hashtag: #resistance.

Und nein – wir sind nicht 1933. Wir haben keine SA auf den Straßen, sondern Content Creator mit Meinungen zu allem und Haltung zu nichts. Die Demokratie wird nicht gestürzt – sie wird zur Reality Show umgebaut. Kandidaten? Influencer. Wahlprogramm? Algorithmisch angepasste Emotionen. Am Ende gewinnt, wer am lautesten schreit – oder wenigstens am besten tanzt.

Freiheit ist kein Vintage-Objekt

Freiheit ist nicht retro. Sie ist kein Museumsstück, das man einmal im Jahr am Tag des Grundgesetzes bestaunt. Sie ist unbequem, fordernd, widersprüchlich – und sie stirbt nicht an Gewalt, sondern an Gleichgültigkeit. Sie braucht keinen Diktator, um unterzugehen – es reicht ein Mensch, der sagt: „Ich hab nichts zu verbergen.“

2025 ist kein neues 1933. Es ist viel subtiler, viel bequemer – und genau deshalb gefährlicher. Der Feind der Freiheit trägt heute keine Uniform mehr. Er trägt ein Lächeln, ein Gerät in der Hand – und klickt auf „Zustimmen“.

Der Messias aus dem Maschinenraum

Wenn einer aus der Tiefe des Gewerkschaftskellers, wo die Neonröhren brummen und das Linoleum die Tränen gescheiterter Tarifverhandlungen aufgesogen hat, aufsteigt in die verstaubte Ehrenloge der sozialdemokratischen Selbstgerechtigkeit, dann hat das schon etwas Erhabenes, beinahe Biblisches: Andi B., der Bürgermeister aus T., der Mann, dessen rhetorisches Arsenal irgendwo zwischen Volkshochschule und Fußballkantine changiert, hat sich erhoben wie ein rot eingefärbter Phoenix aus dem Aschenbecher der Partei. Man kann ihm das fast nicht übelnehmen. Fast. Denn wie so viele, die sich plötzlich als tragische Helden ihrer eigenen Netflix-Serie begreifen, fehlt auch ihm ein entscheidendes Korrektiv: die Erkenntnis der eigenen Begrenztheit. Wo andere zögern, zweifeln, korrigieren, marschiert er – angetrieben von einer Mischung aus Sendungsbewusstsein, verklärtem Klassenkampf und einem unterschätzten Hang zur Selbstüberschätzung – durch Talkshows und Parteitage, als wäre er der letzte aufrechte Sozialist in einer Welt aus neoliberalen Zuckerbäckerfiguren.

Die Inkompetenz der Selbstsicheren

Der Dunning-Kruger-Effekt – dieses herrlich zynische Geschenk aus der psychologischen Forschung, das besagt, dass gerade jene, die am wenigsten wissen, am lautesten verkünden, sie wüssten alles – scheint bei B. nicht nur wirksam zu sein, sondern seine Lieblingsstrategie. Seine Interviews klingen, als hätte man einen Fünftklässler mit einem Che-Guevara-T-Shirt in ein Uniseminar über politische Ökonomie gesetzt: viele große Worte, wenig Substanz, und stets das Gefühl, dass die eigentliche Pointe in einem Revolutionspamphlet aus den 70ern steht. Der Unterschied zwischen Idealismus und Naivität ist schmal, und B. tanzt diesen Drahtseilakt mit einer Selbstsicherheit, die nur jemand haben kann, der nie ernsthaft damit konfrontiert wurde, wie komplex die Welt tatsächlich ist. Seine Behauptung, Marx hätte heute TikTok – ein ungewollt brillanter Einblick in die historische Bildungslücke der Generation Realo-Sozialist – ist sinnbildlich für die intellektuelle Tapferkeit, mit der er gegen Windmühlen kämpft, die längst zu Windrädern mutiert sind.

B.ismus – Die Utopie der Dampfplauderer

Es ist ein Phänomen unserer Zeit, dass gerade jene, die sich als Gegenentwurf zum Establishment stilisieren, die gleiche hohle Rhetorik, das gleiche Selbstlob, die gleiche Rechthaberei kultivieren wie ihre Gegner. B. ist hier keine Ausnahme, sondern Paradebeispiel. Sein „B.ismus“, wie manche seiner Jünger es zärtlich nennen, ist weniger eine politische Richtung als eine performative Dauerempörung, eine Art moralischer Diarrhö, bei der jeder Halbsatz in ein Manifest gegossen wird. Ihm fehlt, was große Politiker einst auszeichnete: Ironie, Maß und die Fähigkeit, eigene Fehler nicht als Verrat, sondern als Chance zur Reflexion zu begreifen. Stattdessen serviert er uns eine dialektisch entkernte Version des Sozialismus, gewürzt mit billigem Pathos und einem verklärten Blick auf eine Arbeiterklasse, die längst E-Scooter fährt und Lieferando nutzt.

Mit dem Herz am linken Rand und dem Kopf in der Wolke

Und doch, bei aller Kritik, liegt in B. auch ein Stück Tragik. Er meint es ja gut. Und das macht es so viel schlimmer. Denn wer gutmeinend ist, aber schlecht informiert, richtet am meisten Schaden an. Die Sozialdemokratie, ohnehin in der Midlife-Crisis ihrer politischen Relevanz, hat mit B. eine Figur geschaffen, die aus den richtigen Gründen das Falsche tut. Sein Hang zu flachen Phrasen über „echte Arbeit“, seine kindliche Begeisterung für Klassenkampfparolen, sein trotziges Pochen auf Werte, die er selbst nicht differenziert durchdringt, all das macht ihn zur Gallionsfigur jener Linken, die lieber in der Vergangenheit schwelgt, als sich der unbequemen Gegenwart zu stellen.

Fazit: Die Tragikomödie eines Funktionärs

Am Ende bleibt B. eine emblematische Figur für eine Zeit, in der moralischer Rigorismus als Ersatz für intellektuelle Tiefe gilt. Er ist kein Scharlatan, kein bewusster Blender. Er ist einfach das, was passiert, wenn Überzeugung ohne Selbstreflexion auf öffentliche Bühne trifft. Der Dunning-Kruger-Effekt ist keine Krankheit – er ist ein Spiegel. Und in diesem Spiegel sehen wir nicht nur B., sondern auch uns: wie wir klatschen, wenn jemand laut ist, statt klug; wie wir Hoffnung verwechseln mit Kompetenz; wie wir vergessen, dass Politik kein Poetry Slam ist. Andi B. ist das traurige, manchmal amüsante, oft peinliche Symptom einer sozialdemokratischen Selbsttäuschung, die sich lieber in Wohlfühl-Rhetorik ergeht, als sich den Mühen der Ebene zu stellen. Und wenn der Applaus verklungen ist, wird selbst der treueste Genosse merken, dass Lautsein nicht dasselbe ist wie Recht haben.

Neulich im Vizekanzleramt

Oder: Wie Andi Babler lernte, zwischen Kommunikation, Medien und Inhalt zu unterscheiden, ohne sich dabei das Rückgrat zu verrenken

Von der großen Politik und kleinen Sprechblasen

Neulich also im Vizekanzleramt. Nicht, dass man dort regelmäßig verkehren würde – die Türsteher sind streng, die Sprache ist verklausuliert und der Kaffee schmeckt wie die politische Mitte: wässrig, bitter, aber leider alternativlos. Doch diesmal war etwas anders. Eine leichte Unruhe vibrierte durch die Gänge, irgendwo zwischen dem Duft von Bürokaffee und dem säuselnden Rauschen eines Shitstorms, der sich gerade erst auf Twitter zu formieren begann. Denn: Der Babler-Andi war da. Und er wurde – man raune es sich zu – „gecoacht“.

Was genau wurde ihm beigebracht? Oder besser gefragt: Wozu überhaupt ein Coaching? Wurde der Babler nun vorbereitet, aufbereitet, abgerichtet, aufgepeppt oder bloß weichgeklopft? Und worum ging es da eigentlich? Um Inhalte? Um Medien? Um Kommunikation? Oder doch bloß um die Verpackung des Nichts in möglichst wortgewaltige Allgemeinplätze?

Die offizielle Version klang natürlich harmlos: „Strategische Kommunikation“. Das ist Politiksprech für „Wir wissen auch nicht, was wir sagen sollen, aber wir üben es trotzdem“. Doch die Optionen, die sich auftun, sind vielfältig – und allesamt gleich beunruhigend.

Die Medienaufbereitung von Kommunikationsinhalten

Diese Variante klingt auf den ersten Blick wie eine praktische Küchentechnik. Man nehme einen rohen Kommunikationsinhalt – sagen wir: „Wir sind gegen Armut“ – und schäle ihn solange, bis er medienkompatibel ist. Nicht zu kantig, nicht zu weich, keine Kanten, die irgendwo anecken könnten. Dann kommt das Ganze in die Heißluftfritteuse des medialen Diskurses, wo es bei 200 Grad Empörung goldbraun knusprig geröstet wird. Fertig ist der Sager.

Aber Moment: Was ist, wenn der Inhalt selbst gar nicht vorhanden ist? Wenn „Kommunikation“ nur eine Hülle ist, in die man notdürftig irgendetwas hineinstopft, das klingt wie Haltung, aber sich anfühlt wie heißer Dampf? Dann wird aus Medienaufbereitung plötzlich das politische Pendant zur Lebensmittelindustrie: viel Verpackung, wenig Nährwert, aber Hauptsache, das Etikett ist bunt.

Babler, der Mann, der einst den Klassenkampf mit dem Feuereifer eines Turnlehrers verkündete, wird hier zum Testobjekt postideologischer Werberhetorik. Aus dem „Kapitalismus ist schuld“ wird „Wir müssen den Menschen wieder zuhören“. Kommunikativer Leberkäse, in veganem Design.

Die Kommunikationsaufbereitung von Medieninhalten

Oder war es vielleicht umgekehrt? Wurde Babler etwa darin geschult, wie man Medieninhalte kommuniziert? Also: Wie man reagiert, wenn wieder einmal ein Interview schiefgeht, ein Facebook-Post viral geht oder ein ORF-Moderator es wagt, eine echte Frage zu stellen?

Hier geht es nicht mehr um Inhalte, sondern um Schadensbegrenzung. Um jene hohe Kunst der Schein-Reflexion, bei der man auf Kritik nicht mit Argumenten, sondern mit einem „Ich verstehe die Sorge der Menschen“ reagiert – einer semantischen Rauchgranate, die jedes Gespräch in Nebel hüllt.

Kommunikationsaufbereitung in diesem Sinne heißt: Nicht reden, um etwas zu sagen, sondern reden, um nichts falsch zu machen. Das klingt banal, ist aber die Essenz moderner PR-Strategien: Risikovermeidung als Weltanschauung. Das revolutionäre Pathos wird ersetzt durch „eine konstruktive Gesprächsbasis“. Die Faust wird zur flachen Hand, bereit für das nächste Versöhnungsfoto.

Die Medienvorbereitung von Kommunikationsinhalten

Ah, das klingt noch technokratischer. Fast schon wie ein Unterkapitel aus einem geheimen Regierungs-Styleguide: „Wie gestalte ich einen Tweet, der aussieht wie eine Pressemitteilung, aber klingt wie eine Einladung zum Heurigen?“ Medienvorbereitung ist die Kunst, einen Satz so zu bauen, dass er in jedes Format passt: als Inseratenzitat, als Tickertext, als Fernseheinblendung.

Und so lernt auch der Babler-Andy: Niemals einen Satz sagen, der länger ist als ein Werbespot. Keine Pointe, die sich nicht in maximal 12 Sekunden erklären lässt. Keine Ideologie, die man nicht zur Not auch als „Narrativ“ verkaufen kann.

Früher hätte man so etwas „Propaganda“ genannt, aber heute ist es „Message Discipline“. Und statt „Parteilinie“ sagt man „strategische Kommunikation“. Klingt besser. Meint dasselbe.

Die Kommunikationsvorbereitung von Medieninhalten

Hier wird es endgültig kafkaesk. Kommunikationsvorbereitung von Medieninhalten – das ist wie eine Gebrauchsanweisung für den Spiegel, bevor man hineinschaut. Man trainiert den Babler auf das Echo, das seine Worte vielleicht erzeugen könnten, wenn sie denn jemand ernst nehmen würde.

Man coacht ihn also nicht für das, was ist, sondern für das, was sein könnte, wenn man es nur klug genug simuliert. Medien als Möglichkeitsraum, Kommunikation als Versuchsanordnung. So wird aus dem Vizekanzleramt ein Theaterlabor der postfaktischen Rhetorik.

Und am Ende?

Am Ende steht da ein Andi Babler, der aussieht wie ein Mann mit Überzeugungen, aber spricht wie ein Formularfeld. Der das Wort „sozial“ häufiger sagt als „Mensch“, aber dennoch keiner weiß, ob er tatsächlich mit irgendwem reden will. Der „Kanzler kann ich auch“ denkt, aber dabei klingt wie ein automatischer Anrufbeantworter, der seine eigenen Inhalte nicht mehr versteht.

Denn das Coaching hat gewirkt. Er kommuniziert. Er mediert. Er verarbeitet. Und niemand weiß mehr, wovon eigentlich.

Und irgendwo in der Parteizentrale wird zufrieden genickt. Mission accomplished.

Wäre da nicht diese leise, boshafte Stimme in uns, die flüstert: Vielleicht sollte man lieber mal wieder Politik aufbereiten – nicht Kommunikation. Aber das, so heißt es, sei „nicht vermittelbar“.

Vom Exil zum Exzess

Die Verantwortung des Westens für das Regime der Mullahs im Iran

Prolog des Vergessens: Die Geburt eines Ungeheuers unter westlicher Aufsicht

Der 1. Februar 1979 war kein Tag wie jeder andere. An diesem Morgen landete ein alter Mann mit strengem Blick, schwarzem Turban und einer Aura messianischer Entschlossenheit auf dem Flughafen Teheran. Sein Name: Ayatollah Ruhollah Khomeini. Seine Herkunft an diesem Tag: Paris. Sein Ziel: die Macht. Seine Methode: eine Revolution, orchestriert aus dem Exil – und flankiert von einem Westen, der lieber zusah, statt zu verstehen. Was folgte, war keine Befreiung, sondern die Einsetzung einer religiösen Diktatur. Und wer glaubt, dass dieses Regime den authentischen Willen des persischen Volkes ausdrückt, verwechselt Ursache und Wirkung.

Denn das islamistische Mullah-Regime, das sich seither im Iran etabliert hat, war weder der unausweichliche Ausdruck eines „islamischen Erwachens“ noch ein rein inneriranischer Prozess. Es war – und das muss in aller Deutlichkeit gesagt werden – auch ein Ergebnis westlicher Kurzsichtigkeit, strategischer Selbsttäuschung und geopolitischer Interessenpolitik. Es war die Geburt eines Monsters unter westlicher Aufsicht.

Vom Schah zur Schande: Wie der Westen erst unterstützte und dann fallen ließ

Die Geschichte beginnt nicht mit Khomeini, sondern mit einem anderen entscheidenden westlichen Eingriff: dem Putsch von 1953. Damals stürzten amerikanische und britische Geheimdienste (CIA und MI6) den demokratisch gewählten Premierminister Mohammad Mossadegh, der es gewagt hatte, die iranische Erdölindustrie zu verstaatlichen. Das war schlecht fürs Empire und schlecht fürs Business – also musste er weg. An seine Stelle wurde der Schah Mohammad Reza Pahlavi mit eiserner Unterstützung der USA wieder eingesetzt. Die Botschaft war klar: Demokratische Selbstbestimmung wird toleriert – solange sie westliche Interessen nicht stört.

Das Schah-Regime entwickelte sich zu einer modernisierenden, aber zunehmend autokratischen Herrschaft, die innenpolitisch durch Unterdrückung, Geheimdienste (SAVAK) und ein Bündnis aus Eliten und Monarchie geprägt war. Der Westen sah zu – oder besser: profitierte, solange Öl floss, Verträge unterzeichnet wurden und der Iran als Bollwerk gegen den Kommunismus fungierte.

Khomeinis Rückflug aus Paris: Die stille Komplizenschaft Europas

Doch als der Wind der Unzufriedenheit Ende der 1970er über den Iran fegte – getrieben von sozialer Ungleichheit, Repression und kultureller Entfremdung – war es nicht der Westen, der auf Demokratisierung drängte. Stattdessen zog man sich langsam zurück, versuchte, mit allen Optionen zu liebäugeln und ließ ein Vakuum entstehen, das nur darauf wartete, gefüllt zu werden.

Dass ausgerechnet Frankreich Ayatollah Khomeini großzügig Exil bot, war keine historische Randnotiz, sondern ein geopolitisch folgenschwerer Akt. In einem kleinen Vorort südlich von Paris saß der künftige Revolutionsführer, hielt Audienzen ab, ließ revolutionäre Manifeste auf Tonband aufnehmen und koordinierte von dort die Erhebung gegen den Schah. Die westlichen Medien – fasziniert von der romantischen Idee einer „Volksrevolution“ – stilisierten Khomeini zum Heilsbringer. Die Menschen im Iran, von Zensur und politischer Repression geprägt, griffen nach jedem Symbol des Wandels – ohne zu ahnen, dass sie nicht Freiheit, sondern einen neuen Totalitarismus bekommen würden.

Und was tat der Westen? Er ließ Khomeini gewähren. Frankreich verweigerte dem Schah Asyl, hieß Khomeini willkommen. Washington schwankte zwischen Desinteresse und naivem Kalkül, dass man auch mit dem neuen Regime würde verhandeln können. Die Machtübernahme der Mullahs war kein Betriebsunfall – sie war das Ergebnis westlicher Fehleinschätzung, symbolischer Schwäche und moralischer Inkonsequenz.

Ein Gottesstaat als Exportprodukt: Vom Iran zur globalen Destabilisierung

Seit 1979 herrscht im Iran kein frei gewähltes System, sondern ein theokratischer Machtapparat, in dem politische Macht sich über religiöse Legitimität definiert – kontrolliert von einem „Obersten Führer“, der über allem steht: über Gesetzen, über dem Parlament, über dem Volk. Khomeinis Rückkehr war keine Befreiung – sie war der Beginn einer umfassenden Islamisierung des Staates, der Justiz, der Bildung, der Geschlechterrollen. Frauen wurden entrechtet, Andersdenkende verfolgt, ganze Generationen ideologisch umerzogen.

Aber die Tragödie endet nicht an den iranischen Grenzen. Das islamistische Regime exportierte seine Revolution – ideologisch, strategisch, terroristisch. Von der Hisbollah im Libanon bis zu Milizen im Irak, von antisemitischer Rhetorik bis zur Leugnung des Holocaust: Das Mullah-Regime ist kein lokales Phänomen, sondern eine regional und global destabilisierende Kraft. Und es darf nicht vergessen werden: Dieses Regime existiert nicht, weil die Perser es wollten – sondern weil der Westen zu lange zugesehen, zu spät verstanden und zu oft relativiert hat.

Erinnerung gegen das Vergessen: Warum historische Verantwortung heute zählt

Es geht nicht darum, den Westen als alleinigen Schuldigen zu dämonisieren. Aber es geht darum, Verantwortung nicht in der Gegenwart zu beginnen, sondern in der Vergangenheit zu suchen. Der Iran war einst ein Land mit demokratischem Potential, einer weltoffenen Gesellschaft, einer reichen Kultur und intellektuellen Vielfalt. Dass dieses Land heute von einem klerikalen Machtapparat kontrolliert wird, der das eigene Volk unterdrückt und international mit Terror sympathisiert, ist kein unvermeidliches Schicksal – es ist ein historisch mitverschuldetes Ergebnis.

Man kann die Geschichte nicht ungeschehen machen. Aber man kann – und muss – sie erinnern. Der Westen hat nicht nur die Revolution ermöglicht, er hat sie durch Ignoranz, Eigennutz und Symbolpolitik befördert. Wer heute Freiheit für Iranerinnen und Iraner fordert, muss auch den Mut haben, in den eigenen Spiegel zu schauen.

Denn: Niemals vergessen – dass ein terroristisches Mullah-Regime im Iran existiert, hat mit dem Westen zu tun. Nicht, weil das persische Volk es gewollt hätte. Sondern weil es verraten wurde. Von denen, die wussten – und nichts taten.

„Gedanken und Gebete“

Das ritualisierte Verstummen in Satzform

Kaum sind die Sirenen verklungen, kaum ist der Tatort mit Flatterband in behördlicher Pietät eingeschnürt, kaum haben die Fernsehsender ihre Eilmeldungsschleifen mit „Was wir bisher wissen“ und „Hier sehen Sie die ersten Bilder“ gefüttert, da beginnt auch schon das alte Theater. Mit der Präzision eines mittelmäßigen Uhrwerks, das man alle paar Wochen nachstellen muss, setzen die Stimmen der politischen Akteure ein – erst zögerlich betroffen, dann betroffen zögerlich, und schließlich im Kanon leerformelhafter Solidaritätsbekundung. „Unser Mitgefühl gilt den Angehörigen“, murmeln sie, als würden sie es nicht zum hundertsten Mal sagen, als wäre es nicht ein Refrain, den sie wie ein schlechtes Mantra herunterleiern, bei dem der Sinn mit jedem Sprechen weiter verdunstet. Was hier stattfindet, ist kein Mitfühlen, sondern das sprachliche Gegenteil: eine sprachlich perfekt getarnte Form der inneren Emigration.

Es ist, als wären Politikerstatements nach einem Amoklauf das politische Äquivalent zur automatischen Antwortmail: „Ich bin momentan nicht erreichbar, aber mein Gewissen hat eine Benachrichtigung erhalten.“ Es ist alles da – das Betroffenheitskorsett, die unvermeidliche Floskel vom „unfassbaren Geschehen“, die scheinheilige Mahnung zur Besonnenheit, als ob Empörung selbst schon Gewalt wäre, und natürlich, ganz am Ende, der Joker: „Jetzt ist nicht die Zeit für politische Debatten.“ Wann dann, möchte man brüllen, wenn nicht jetzt?

Wenn die Sprache in den Ruhestand geht

Die Politiker, die nun vor Kameras stehen, wirken wie schlecht gecastete Nebenfiguren in einem endlosen Remake einer sehr schlechten Serie. Dieselben Sätze, dieselben Stirnfalten, dieselbe ernste Stimme mit dem feierlichen Timbre eines sonntäglichen Wetterberichts. Man erwartet fast, dass sie beim dritten Satz aus der Rolle fallen, kurz aufblicken und sagen: „Waren Sie eigentlich gestern auch im Tatort überrascht, dass der Kommissar der Mörder war?“ – so wenig hat ihre Rede mit der Wirklichkeit zu tun. Die Sprachhülsen, in die sie ihr vermeintliches Mitgefühl pressen, erinnern mehr an Produktbeschreibungen eines besonders langweiligen Staubsaugers: effektiv, effizient, emotionslos.

Es ist ein rhetorischer Tanz auf dünnem Eis, bei dem niemand zu stolpern scheint – nicht, weil sie so sicher wären, sondern weil sie nie wirklich gegangen sind. Ihre Worte schreiten nicht voran, sie schleichen. Und sie schleichen nicht in die Zukunft, sondern zurück in eine Vergangenheit des Vergessens. Diese Statements sind sprachgewordene Ausweichmanöver, syntaktische Fluchtversuche aus einer Realität, der sie sich politisch längst entzogen haben.

Gedanken, Gebete – und sonst?

Und dann kommt er, der Höhepunkt der Hilflosigkeit, als wäre es ein sakrales Manöver zur Selbstentschuldigung: „Unsere Gedanken und Gebete sind bei den Opfern.“ Ein Satz, der in seiner theologischen Anmaßung von einer solchen Seelenruhe kündet, dass man meinen könnte, er sei eigens dafür erfunden worden, die eigene Untätigkeit zu verklären. Als ob das Gebet im politischen Kontext mehr sei als ein rhetorisches Sedativum für die Öffentlichkeit, als ob ein frommer Gedanke ein Kind reanimieren könnte, das gerade noch von einem Projektil durchsiebt wurde.

Nein, das Gebet ist hier nicht Ausdruck von Glaube, sondern die letzte Bastion der Verantwortungslosigkeit. Ein Gedankenversprechen an ein Publikum, das längst gelernt hat, zwischen Satz und Handlung zu unterscheiden. Denn während der Innenminister noch salbungsvoll – sollte der Täter noch am Leben sein – von „der vollen Härte des Rechtsstaats“ faselt, wird am nächsten Tag im Parlament der Gesetzesantrag zur Verschärfung des Waffenrechts vertagt – aus Rücksicht auf „die aktuell angespannte emotionale Lage“. Ironie ist keine rhetorische Figur mehr. Sie ist politische Praxis.

Die politische Waschmaschine – mit Schleudergang

In den Stunden nach einem Amoklauf mutieren politische Parteien zu PR-Agenturen mit eingebautem Weichzeichner. Die Pressestellen laufen heiß, Textbausteine werden zu Textfassaden gestapelt, und jede Empörung über strukturelles Versagen wird mit dem Argument „nicht instrumentalisieren!“ abgewehrt, als wäre die Debatte über Ursachen bereits ein Missbrauch der Toten. Es ist ein rhetorisches Perpetuum mobile: Der Täter war „psychisch labil“, die Waffen „legal erworben“, die Polizei „schnell vor Ort“, und die Stadt, das Land oder die ganze Gesellschaft „steht unter Schock“. Und während man all das aufzählt, hofft man, dass die Aufmerksamkeitsspanne des Publikums kürzer ist als die Halbwertszeit einer Entrüstung.

Manchmal, in besonders transparenten Momenten, bricht dann doch ein Funken Wahrheit durch: wenn ein Lokalpolitiker in der dritten Talkshow des Abends ins Mikro lallt, man müsse „die sozialen Netzwerke in den Griff bekommen“, während der Täter seine Tatwaffe aus dem heimischen Schrank gezogen hat, den Papa ihm legal überlassen hatte – „zur sportlichen Nutzung“, versteht sich. An diesem Punkt ist die Satire nicht tot. Sie ist einfach zu faul, sich noch aufzuregen.

Der Revolutionssimulator

Wenn westliche Aktivisten Weltpolitik auf Instagram spielen

Man erkennt sie an den palästinensischen Halstüchern, den eilig zurechtgefilterten Selfies vom letzten „Free Palestine“-Marsch und den hochmoralischen Captions, die meist mehr Ausrufezeichen als Argumente enthalten. Es ist eine neue Generation des Engagements, in der man nichts wissen muss, um alles zu fühlen – und zwar sehr laut. Die westliche Aktivistenszene, urban, jung, virtuos im Kuratieren von Empörung, lebt in einem moralischen Paralleluniversum, in dem Grautöne bereits als Verrat gelten. Die Welt ist klar aufgeteilt: Israel = Apartheidstaat, Palästinenser = ewige Opfer. Wer das nicht so sieht, hat entweder „nichts verstanden“ oder „Zionistenpropaganda“ geschluckt, was im Aktivistensprech ungefähr so klingt wie „vom Teufel besessen“.

Die realen Gegebenheiten vor Ort interessieren nicht – es geht um Haltung, um Sichtbarkeit, um die Performanz des Widerstandes. Gaza ist für viele dieser moralisch überakuten Kosmopoliten weniger ein geographischer Ort als ein mythischer Sehnsuchtsraum der eigenen Radikalisierungsfantasien. Dort, im fernen Nahen Osten, kämpfen angeblich Menschen für ihre Freiheit – stellvertretend auch für den westlichen Aktivisten, der sich in Berlin-Neukölln oder in einem veganen Wiener WG-Zimmer mit Bambusvorhängen und „Critical Whiteness“-Lektüre die Nächte um die Ohren schlägt, um empörte Threads zu schreiben. Die Tatsache, dass diese Freiheitskämpfer queere Menschen auf offener Straße von Dächern werfen, Frauen unter Schleierzwang stellen und jegliche Opposition im Keim ersticken, wird dabei elegant übergangen. Ein bisschen Patriarchat, ein bisschen Scharia – wer wird denn so kleinlich sein! Es geht schließlich ums Prinzip!

Der ironische Höhepunkt ist erreicht, wenn diese Aktivisten, die sich in ihrer Freizeit gegen jede Form toxischer Männlichkeit, Gewalt und Autoritarismus aussprechen, ausgerechnet Organisationen wie die Hamas verteidigen – eine Bande reaktionärer, gewalttätiger Gotteskrieger, die von Gendergerechtigkeit etwa so viel halten wie ein Steinzeitmensch von Solarenergie. Aber hey: Dekolonialer Widerstand! Das klingt gut, das klebt gut auf Buttons, das verkauft sich gut auf Podien, auf denen man sich gegenseitig mit einer Mischung aus moralischem Größenwahn und gefährlichem Halbwissen bestärkt.

Die Waffe dieser Szene ist nicht der Diskurs, sondern der Shitstorm. Wer differenziert, wird gecancelt. Wer widerspricht, ist rechts. Wer auf die Fakten hinweist – etwa, dass die Hamas in ihrer Charta die Vernichtung des jüdischen Volkes fordert –, hat „internalisierte Islamophobie“. Der Debattenraum wird zur Echokammer, zur ideologischen Druckkammer, in der jeder Widerspruch als Mikroaggression gilt, jeder Hinweis auf Realität als koloniale Gewalt.

Und wenn dann – alle paar Wochen – wieder Bilder brennender Häuser durch die Feeds rauschen, setzt eine ritualisierte Empörungsperformance ein: Profile werden mit Flaggen bestückt, Linktrees mit Petitionen gefüllt, Hashtags getrommelt wie bei einem digitalen Voodooritual. Doch kaum versiegt der Strom der Aufmerksamkeit, kehrt man zurück zum Brunch, zur Achtsamkeit, zum Yoga mit Mantra – um beim nächsten Raketenhagel wieder lautstark „Ceasefire now!“ zu rufen, ohne auch nur einmal zu fragen, wer da zuerst geschossen hat. Die westliche Aktivistenszene lebt vom Konflikt, aber nicht in ihm – ihr Engagement ist so risikofrei wie ein Netflix-Abo, aber mit deutlich mehr moralischer Selbstgefälligkeit.

Die Moral im Nebel

Wie aus Barbarei Widerstand wird und aus Recht ein Verbrechen

Wenn ein demokratischer Staat – sagen wir: Israel – ein Schiff stoppt, das trotz vorheriger Warnung versucht, eine Blockade zu durchbrechen, und die Passagiere danach freundlich mit Wasser, Brot und einer Rückfahrkarte in ihre jeweiligen Heimatländer verabschiedet, dann schreit man in den klimatisierten Redaktionsstuben Europas auf: „Piraterie! Kidnapping! Ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit!“
Wenn aber eine islamistische Terrororganisation – sagen wir: die Hamas – nachts in Häuser einbricht, Kinder, Frauen und Alte verschleppt, sie in stickigen Tunneln zwischen Sprengfallen und rostigen Kühlschränken monatelang als lebendige Schutzschilde missbraucht, dann ist das: „Ein Akt des Widerstands.“ Widerstand? Gegen wen – die Menschheit?

Willkommen im moralischen Paralleluniversum des postfaktischen Gutmenschentums, wo Realität nur stört, wenn sie nicht ins Weltbild passt.

Die Heuchelei als Lebensform: Eine postmoderne Symphonie in Moll

Man stelle sich vor, der Rot-Kreuz-Konvoi, der Geiseln in Gaza besucht, müsste sich erst mit einem Kalaschnikow-Quiz bei Kerzenlicht beweisen, bevor er zu den eingesperrten Senioren vorgelassen wird. Erste Frage: „Wie heißt der Oberterrorist mit Vornamen?“ Zweite: „Nennen Sie drei Möglichkeiten, wie man ein Baby als Deckung benutzen kann.“ Wer alle drei richtig hat, darf ins Tunnelabteil Nummer 7.
Was für die Weltöffentlichkeit dennoch als mutmaßlicher Teil des „Widerstandes“ durchgeht, wäre in jedem anderen Konflikt ein Fall für den Internationalen Strafgerichtshof – aber wehe, man schlägt das im Zusammenhang mit Palästinensern vor. Dann ist man sofort „islamophob“, „kolonial rassistisch“ oder einfach nur „Teil des Problems“.

Man sollte eigentlich Satire daraus machen, aber die Realität ist schneller. Kafka wäre neidisch – und vermutlich sprachlos.

Kollateralmoral: Wenn Bomben intelligent sind, aber die Debatte dumm bleibt

Die IDF wirft Flugblätter ab, warnt per SMS und Anruf, baut Fluchtkorridore – alles, um Zivilisten zu schonen. Hamas? Baut Tunnel unter Krankenhäusern, feuert Raketen aus Kindergärten. Die Welt? Empört sich über Israel. Die Rakete zählt nicht, wenn sie von einer „unterdrückten“ Hand kommt. Die Bombe schon, wenn sie von einem demokratisch gewählten Parlament genehmigt wurde.
Die moralische Buchhaltung der internationalen Gemeinschaft ist ein bisschen wie Wirecard – nur mit weniger Konsequenz. Hauptsache, das Feindbild bleibt intakt: Der kleine David ist plötzlich ein Goliath mit Atombombe, der sich gefälligst nicht gegen Steinschleudern und Tunnelkrieger wehren darf.

Die Ästhetik der Täterverklärung

Nichts liebt der europäische Intellektuelle mehr als einen bewaffneten Unterdrückten, vorausgesetzt, er ist weit genug weg und trägt ein Kopftuch. Am besten eines mit Symbolwert. Die Kalaschnikow wird dann zur Feder der Entrechteten, der Sprengstoffgürtel zum Notizbuch der Geschichte.
Dabei müsste man nur einmal – ganz mutig – die Parolen der Hamas auf Englisch übersetzen und in einem Berliner Seminar für Postkoloniale Literatur verlesen. Spätestens beim Aufruf zur Vernichtung aller Juden würde selbst der dekonstruktivistischste Derrida-Jünger rot werden. Und das nicht aus Scham, sondern aus Irritation über die sprachliche Direktheit. Ironie ist hier keine Strategie, sondern fehl am Platz.

Die Geisel als PR-Gimmick

Die Entführung Unschuldiger wird im Hamas-Narrativ zur Trophäe. Im internationalen Diskurs aber leider auch. Sobald eine Geisel mit schwerem Trauma freikommt, beginnt das Wettrennen der Relativierung: War sie wirklich so schlimm behandelt worden? Gab es vielleicht Gemüse zu essen? Durfte sie lesen? War der Tunnel wenigstens gut belüftet?
Diese Fragen werden mit einem dermaßen perversen Unterton gestellt, dass man glauben könnte, die Tunnel seien Spa-Anlagen mit eingeschränkter Lichtversorgung. Dass es sich um ein brutales Menschenschinderregime handelt, das seine eigene Bevölkerung als Ressource missbraucht, bleibt lieber unausgesprochen. Das würde die feine Balance der westlichen Empörungsethik stören.

Die verkehrte Welt ist kein Ort, sondern ein Zustand

Man kann nicht auf der einen Seite verlangen, dass sich Israel wie ein Schweizer Uhrwerk an jedes moralische Detail hält, während man auf der anderen Seite die Hamas behandelt wie eine wilde Naturgewalt, die halt tut, was Naturgewalten tun: töten, zerstören, entführen.
Doch wer einem Akteur alle Verantwortung abspricht, spricht ihm letztlich auch die Menschlichkeit ab – und damit auch jede Hoffnung auf Wandel. Vielleicht ist das die bitterste Pointe der ganzen Geschichte: dass ausgerechnet jene, die am lautesten „Menschlichkeit!“ fordern, sie dort am wenigsten erwarten, wo sie am nötigsten wäre.

Aus der Rolle fallen und aus der Falle rollen

Das große Schauspiel der Rollen: Wir alle sind Gefangene unseres eigenen Theaters

Es ist eine unverrückbare Wahrheit der Moderne, dass der Mensch als soziales Wesen, um nicht zu sagen: als sozialer Zombie, in Rollen gezwängt wird – jene urkomischen, absurden, manchmal grotesk bis kafkaesk anmutenden Masken, die man ihm mit mehr oder weniger schmeichelhafter Vehemenz aufzwingt. Die Rolle als Mitarbeiter, als Elternteil, als Bürger, als Freund, als dieses oder jenes – ein eng gestricktes Korsett der Erwartung, das mit eisernem Griff jede freie Bewegung erschlägt, ehe sie überhaupt beginnen kann. „Bleib in deiner Rolle!“, so das unverblümte Kommando, das durch die Kultur hallt wie der Kettensägenmarsch eines militanten Konformismus. Es ist der tyrannische Imperativ, der jede Individualität niederzwingt, jede kühne Spur des Andersseins unter dem Teppich der Durchschnittlichkeit verschwinden lässt.

Wer sich diesem Rollenspiel widersetzt, der fällt aus der Rolle – und damit aus der vermeintlichen Sicherheit, die sie vorgaukelt. Doch Vorsicht: Das Ausfallen gilt hier nicht als Freiheit, sondern als Abweichung, als Störung, als Fall in die soziale Bedeutungslosigkeit, manchmal gar in den persönlichen Ruin. Die Rolle ist eine Falle, und der große Schwindel der Gesellschaft besteht darin, jene Rolle als Schutzraum zu verkaufen, als sicheren Hafen in einem Sturm namens Leben, obwohl sie in Wahrheit nichts weiter ist als ein Gefängnis mit Stofftapeten.

Aus der Rolle fallen: Der Tabubruch der Selbstentfremdung

Wenn jemand aus der Rolle fällt, gerät er in eine prekäre Lage, die man in unserer Zeit mit fast schon psychopathologischer Verachtung abstraft. Man wird zum „Problemfall“ erklärt, zum „Schrägstrich“ im fein säuberlich kalkulierten sozialen Gefüge. Wer sich weigert, das Skript der Gesellschaft stur runterzuspielen, wird schnell zum Unruhestifter, zum Unangepassten, zum Risiko für den kollektiven Gemütsfrieden. Die Rolle zu verlassen, bedeutet, das Narrativ zu sprengen – und damit nicht selten den eigenen Lebensplan.

Doch ist das Fallen aus der Rolle nicht zugleich der vielleicht letzte Akt der Selbstbestimmung? In einer Welt, die nach Konformität lechzt wie der Verdurstende nach Wasser, mutet jeder Ausbruch wie eine kleine Revolution an, ein triumphaler Sieg des freien Geistes über die allgegenwärtige Anpassungsmaschinerie. Und gerade darin liegt die bittere Ironie: Der soziale Preis für diese Freiheit ist hoch – sehr hoch. Man wird zum Außenseiter, zum Objekt des Spottes, zum lebenden Beweis, dass das System Fehler hat, die es nur ungern offenlegt.

Die Rolle zu verlassen, heißt auch, sich selbst zu ent-täuschen. Man erkennt, dass die vermeintliche Identität, die man jahrelang gepflegt hat, nur eine Fassade war, ein von außen verordneter Dresscode. Dieses Fallen ist ein befreiender wie schmerzvoller Prozess, der mit einem Verlust beginnt – dem Verlust der Illusion von Stabilität und Zugehörigkeit. Es ist ein intellektueller und existenzieller Sprung ins kalte Wasser, den nur wenige wagen, und der für viele mit bitteren Einsamkeiten und scharfen Konflikten endet.

Aus der Falle rollen: Die Kunst der unerwarteten Wendung

Doch hier endet die Geschichte nicht in fatalistischem Fatalismus. Aus der Rolle zu fallen bedeutet nicht zwangsläufig, in die Falle zu tappen. Im Gegenteil: Es ist die Einladung, aus der Falle zu rollen, sich also aus der eingefahrenen Denk- und Handlungsspirale zu befreien, die jede freie Bewegung erstickt. Die Falle heißt Anpassung, Stillstand, das konforme Rad im Hamsterrad. Das Rollen hingegen ist Bewegung, Veränderung, das Sich-Lösen von Fesseln – ein Verdrängen der Engstirnigkeit durch die Kraft des Humors, der Satire, des scharfsinnigen Zynismus.

Die Überlebensstrategie liegt nicht im heldenhaften Kampf gegen die Machtstrukturen allein, sondern im eleganten Entgleiten, im geschmeidigen Ausweichen – dem kunstvollen Roll-away, das der Verhärtung der Strukturen ihre Starrheit nimmt und das starre System sozusagen mit einem Augenzwinkern narrt. Dieses Rollen aus der Falle heraus ist eine subversive Lebenskunst, die das Steife und Dogmatische auflockert und Raum für neue Perspektiven schafft.

Dabei ist das Rollen kein simpler Akt des Weglaufens oder Vermeidens, sondern eine aktive, bewusste Entscheidung für die Ambivalenz des Lebens, für das Chaos und die Freiheit jenseits der Norm. Es ist die Ironie, dass gerade im Abfallen aus der Rolle, im Roll-away aus der Falle, eine neue Form von Stabilität erwachsen kann – nicht die trügerische Sicherheit des Sockels, sondern die lebendige Balance eines fahrenden Zirkusakrobaten, der den Boden unter den Füßen ständig neu entdeckt.

Fazit: Die paradoxe Freiheit des Ausbruchs

Die Überlebensstrategie „Aus der Rolle fallen und aus der Falle rollen“ ist ein Rezept für jene, die sich nicht mit der üblichen Verdummung durch Anpassung zufriedengeben wollen. Es ist ein Aufruf, die Komfortzone der vorgefertigten Identitäten hinter sich zu lassen und das Leben als permanentes Experiment zu begreifen – voller Stolpersteine, aber auch voller Überraschungen.

Diese Strategie ist radikal, unbequem und gefährlich, aber zugleich die vielleicht einzige Möglichkeit, in einer zunehmend entfremdeten Welt wirklich lebendig zu bleiben. Denn was ist Leben anderes als ein fortwährender Prozess des Rollens? Ein permanentes Fallen und Wiederaufstehen? Die Rolle mag Sicherheit suggerieren, doch die wahre Freiheit liegt im Bruch mit der Rolle – im mutigen, rebellischen, humorvollen Fallen und Rollen.

Denn nur wer aus der Rolle fällt, kann aus der Falle rollen. Und nur wer aus der Falle rollt, hat Chancen, das Leben nicht als Gefängnis, sondern als Spielfeld zu begreifen.

Wenn Sie jetzt sagen: „Zu viel Theorie, zu wenig Praxis!“, dann seien Sie gewarnt – genau so hat die Rolle, aus der Sie fallen sollten, Sie fest im Griff. Also: raus aus dem Theater, runter von der Bühne, ab ins Rollen!

Die Unspürbarkeit des Mangels

Vom Verschwinden kleiner Summen oder: Wie man lernt, den Geldbeutel zu ignorieren

Es ist eine dieser Sätze, deren geistige Unbedarftheit wie ein mit Samthandschuhen geprügelter Hohn durch die Fernsehgeräte in die Wohnzimmer der Republik flackert: 30, 50 oder gar 80 Euro im Monat seien, so dozierte ÖVP-Budgetsprecher Andreas Hanger jüngst mit dem staatsmännischen Timbre eines Mannes, der noch nie bei der Supermarktkasse zwischen Käse und Katzenfutter abwägen musste, „kaum spürbar“. Kaum spürbar also – wie ein leiser Windhauch auf der Nasenspitze, ein kaum wahrnehmbares Vibrieren in der Hosentasche, wenn der Dispokredit sich meldet. Welch Triumph der Ironie, dass ausgerechnet ein Vertreter jener Partei, deren soziale Bodenhaftung sich etwa auf Flughöhe einer Golfplatzterrasse bewegt, darüber referiert, wie spürbar Mangel für die breite Bevölkerung ist. Aber vielleicht ist das ja das neue politische Messaging: Den Leuten erklären, dass das, was sie fühlen, gar nicht real sei – ein wenig wie einem frierenden Menschen zu erklären, dass Kälte nur ein Konstrukt sei. Willkommen im Zeitalter des monetären Gaslightings.

Die Arithmetik der Eliten: Wenn 80 Euro zu Taschengeld verkommen

80 Euro – eine Summe, die mancherorts den Unterschied zwischen einem überlebbaren Monat und dem Bankgespräch über Ratenstundung bedeutet. Für andere, so scheint es, ist sie der Preis einer überwürzten Hotelküche, eines halben Golfnachmittags oder des dritten Glases Pinot Noir in einer Parlamentskantine, in der die Realität draußen bleiben muss wie ein ungeimpfter Obdachloser im Coworking Space. Aber ach, in den luftigen Höhen der Regierungsbüros, wo Excel-Tabellen die Empathie ersetzen und Budgetposten statt Brot das Volk nähren sollen, ist der Geldwert eine Frage der Perspektive: Für den einen das Trinkgeld der Macht, für die andere das fehlende Geld für das Schulheft des Kindes. Und vielleicht ist es ja auch nur ein semantisches Missverständnis – „kaum spürbar“ könnte ja bedeuten: kaum noch erträglich spürbar. Ein kleiner Unterschied mit gewaltiger Wirkung.

Vom bürgerlichen Zynismus in Nadelstreifen

Natürlich, Hanger ist kein Einzelfall – er ist Symptom. Ausdruck einer politischen Kaste, die sich selbst längst zur Elite erklärt hat und daher auch deren Weltbild adaptiert hat: Ein Land, das sich in Bruttoinlandsprodukt pro Kopf bemisst, nicht in geplatzten Mietzahlungen und Aldi-Bons. Diese Art von Politiker – der bürgerliche Technokrat mit weichgewaschener Sprache und harter Agenda – ist das Ergebnis jahrzehntelanger neoliberaler Erziehungsarbeit. Man erkennt sie daran, dass sie bei Begriffen wie „Leistungsträger“ zu nicken beginnen und bei „Armutsgrenze“ nervös ihre Akten sortieren. Hanger spricht also nicht als Mensch, der 80 Euro nicht braucht – sondern als Funktion einer Ideologie, die nur das anerkennt, was sich statistisch rechtfertigen lässt. Armut? Ein Rechenfehler. Angst? Eine Befindlichkeit. Realität? Eine PR-Frage.

Humor als letzte Waffe gegen die postfaktische Entblödung

Aber man muss es ihnen lassen: Eine gewisse Chuzpe, ja fast schon Komik liegt in dieser kognitiven Selbstentleibung. Wie ein Kellner, der erklärt, dass der Gast den Hunger gar nicht wirklich spürt, oder ein Arzt, der mit leerem Blick über die Existenz von Schmerzen philosophiert. Man möchte fast applaudieren, so überzeugend wird hier Ignoranz als Sachverstand verkauft. Vielleicht sollte man das Kabinett künftig nicht mehr als „Regierung“ bezeichnen, sondern als Ensemble einer satirischen Großinszenierung. Hanger in der Rolle des realitätsfernen Budgetkaspers, der dem Volk seine wirtschaftliche Lage als Luxusproblem auslegt – das hätte sogar Karl Kraus gefallen. Vielleicht ist das die einzig gesunde Reaktion auf diesen politischen Zynismus: nicht Wut, sondern galliges Lachen. Denn wer die Realsatire erkennt, muss nicht mehr über sie verzweifeln – nur noch darüber schreiben.

Epilog für 80 Euro: Eine kleine Summe mit großer Symbolkraft

Und so bleibt die Frage: Was sind schon 80 Euro? Eine Frage, die sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln beantworten lässt. Für die einen: der Lebensinhalt einer Woche. Für die anderen: der Preis ihrer Arroganz. Am Ende steht weniger die Summe im Raum als die entlarvende Haltung, mit der sie abgetan wird – ein Schlag ins Gesicht, verpackt in höflicher Sprache, lackiert mit dem Tonfall des allwissenden Politsprechers. „Kaum spürbar“ ist kein finanzielles Urteil – es ist ein moralischer Offenbarungseid. Und wer das nicht spürt, hat vielleicht wirklich den Kontakt zur Wirklichkeit verloren. Oder er verdient schlicht zu viel, um sich noch an Menschen zu erinnern, für die 80 Euro mehr bedeuten als die nächste Flasche Lobbyisten-Champagner.

Der General der Peinlichkeit

oder: Wie Friedrich Merz die Bundeswehr zur Supermacht machen will

Die Kasernenfarce – Bewachtes Nichts im militärischen Niemandsland

Man muss es sich wirklich auf der Zunge zergehen lassen, wie eine zu lange liegengebliebene Panzerkeksration: Da steht er, Friedrich Merz, seines Zeichens Kanzler einer Republik im fortgeschrittenen Stadium der sicherheitspolitischen Schizophrenie, und kündigt an, Deutschland solle künftig die „konventionell stärkste Armee Europas“ unterhalten. Die Pointe? Seine künftige Supermacht hat sich zur privaten Hausbewachung degradiert. Jährlich 660 Millionen Euro, mehr als ein halbes BND-Budget, fließen in private Sicherheitsfirmen – damit unsere tapferen Verteidiger der Freiheit nicht selbst vor ihren Kasernentoren frieren müssen. Soldaten, die einst dem Warschauer Pakt entgegenstarrten, stehen heute hinterm Fenster und winken dem Wachdienst von Securitas zum Schichtwechsel.

Merz will Panzer rollen lassen, während Bundeswehrgelände vom Rentner mit Mütze bewacht wird. Und wenn es ernst wird? Dann ruft man wohl die Wachschutz-Hotline. Willkommen in der „wehrhaften Demokratie“ des 21. Jahrhunderts: 80.000 Berufssoldaten, aber kein Vertrauen, dass sie eine Schranke bedienen können.

Wehrhaft wie eine Bockwurst – Das kollektive Trauma der Großmachtfantasien

Natürlich – das alles ist nicht neu. Es ist nicht einmal originell. Denn der Wunsch, Deutschland zur militärischen Vormacht zu machen, hat Geschichte. Eine düstere, eine blutige, eine pathologisch selbstüberschätzte Geschichte. Zweimal wurde dieses Land vom Größenwahn übermannt, zweimal folgte der Totalschaden. Und nun steht Merz da wie ein Manager, der seine dritte Insolvenz mit einem neuen Businessplan erklärt: Diesmal wird alles anders! Diesmal klappt das!

In Berlin geht man scheinbar davon aus, dass historische Amnesie eine Tugend ist. Die Realitäten werden ausgeblendet wie ein hässlicher Teppich im Gästezimmer: Dass die Bundeswehr an Materialmangel, struktureller Korruption und bürokratischer Paralyse leidet. Dass ein Drittel der Waffenlager leer sind, und der Rest aus D-Mark-Zeiten stammt. Aber Merz will investieren! Milliarden! In Drohnen, Munition, Uniformen mit Taschen, in einen Traum aus Titan.

Nur: Wer glaubt ihm das noch? Das gleiche politische Establishment, das beim BER, der Maut, dem Digitalministerium und dem Maskendeal versagte, will jetzt das europäische Militärmonopol errichten. Man möchte lachen, wenn es nicht so teuer wäre.

Supermacht Deutschland? Zwischen Wehrsportgruppe und Waffenstillstand

Man kann sich lebhaft vorstellen, wie sich die versprochene Superarmee der Zukunft anfühlen würde: Eine Digitalpanzerdivision, bei der sich das WLAN automatisch mit dem Truppennachschub synchronisiert – außer es regnet. Soldaten mit neuen Kampfstiefeln, die nach zwei Märschen platzen. Kampfjets ohne Ersatzteile. Und dann wäre da noch das Personalproblem: Wer genau soll all das bedienen? Die Bundeswehr findet nicht genug Bewerber, selbst mit „Work-Life-Balance in Uniform“. Vielleicht hofft man auf Quereinsteiger von Amazon Logistics.

Derweil schmilzt die außenpolitische Glaubwürdigkeit dahin wie die Patronenlager im Hochsommer. Die NATO belächelt die deutschen Ambitionen, osteuropäische Staaten rüsten längst alleine auf, und Paris spielt auf Zeit – wie immer, wenn Berlin über Krieg redet. Man muss es mit bitterem Spott sagen: Deutschland kann heute keinen einzigen Tag Krieg führen, ohne nach 72 Stunden um Leihmunition zu bitten.

Und Merz? Der will Europa führen. Wie ein Finanzberater, der das Haushaltsbuch mit dem NATO-Doppelbeschluss verwechselt.

Die Bundeswehr als Management-Case – Kapitalismus mit Kalaschnikow

Was hinter all dem steckt, ist nicht nur politischer Größenwahn, sondern neoliberaler Irrsinn in Tarnfleck. Eine marktkonforme Armee, gelenkt von Excel-Tabellen und Public-Private-Partnerschaften. Sicherheitspolitik als Unternehmensberatung. Die Bundeswehr als DAX-Konzern mit Raketenabteilung. Friedrich Merz, der Rüstungspapst von BlackRock-Gnaden, könnte die Brigade künftig wie einen Hedgefonds managen. Verlustfrei. Nachhaltig. ESG-konform.

Wird der nächste Krieg dann klimaneutral geführt? Mit CO₂-Kompensation für jede abgefeuerte Granate? Vielleicht baut man den Leo 3 gleich mit veganem Leder und USB-C-Anschluss. Die neue Verteidigungslinie: Ethikrat plus Rüstungsethik. Hauptsache, der Krieg bleibt „wirtschaftlich sinnvoll“. Orwell hätte seine helle Freude.

Und am Ende? Ein Zapfenstreich für die Realität

Am Ende dieses kabarettreifen Szenarios steht ein Land, das sich selbst nicht mehr ernst nimmt. Eine Regierung, die aufrüstet, während sie abrüstet. Eine Armee, die stolz ist, noch existieren zu dürfen. Und ein Kanzler, der glaubt, mit Pathos könne man Panzer reparieren. Vielleicht wird er sich eines Tages hinstellen, auf einer Parade, zwischen Leopard und Lügen, und mit zittriger Stimme verkünden: „Wir haben Europa sicher gemacht.“

Aber sicher wovor?
Vor sich selbst?
Vor der Wiederholung?
Vor der Wahrheit?

Vielleicht bleibt uns ja nur noch, uns augenzwinkernd abzuwenden, während draußen der Wachmann das Kasernentor schließt.

Die Revolution frisst ihre Influencer

Es war einmal, in einer Welt, die sich für unendlich entwicklungsfähig hielt, in der jede Idee, die dreist genug war, um sich „progressiv“ zu nennen, sofort auf T-Shirts gedruckt, in TED-Talks verwurstet und als Diversity-Workshop für Rüstungskonzerne gebucht wurde – da glaubte man, der Fortschritt sei eine Einbahnstraße in Richtung Licht. Was für eine herrliche Illusion. Der Fortschritt, der mit flatternden Regenbogenfahnen, genderneutralem Marketing und neoliberaler Feel-Good-Rhetorik Einzug hielt, hat inzwischen einen zynischen Beigeschmack bekommen – ein bisschen wie Sojamilch in altem Espresso: gut gemeint, aber irgendwie… faul. Während der Kapitalismus sich die Kleider des Humanismus überzieht, verkommt die Idee des „Progressiven“ zum Ornament an der Fratze eines Systems, das mit jedem likebaren Post auf Social Media ein weiteres Stück seiner autoritären Zähne fletscht.

Die Dialektik der Data Governance oder: Brave New Büroschlaf

Was einst als Emanzipation von alten Machtstrukturen gefeiert wurde – man denke an das Internet, diesen digitalen Garten Eden für Utopisten mit WLAN – mutierte in erstaunlicher Geschwindigkeit zu einem totalen Panoptikum freiwilliger Selbstüberwachung. Man äußert heute seine Meinung frei – aber mit einem nervösen Blick auf den Algorithmus. Der Kapitalismus liebt die progressive Maske: je mehr Optionen, desto besser. Aber wehe, jemand klickt auf die falsche. Da ist sie wieder, die unsichtbare Hand des Marktes, diesmal jedoch nicht als ökonomisches Prinzip, sondern als „Content Moderation“, gesteuert von Firmen, die sich für neutral halten, solange sie das Richtige denken – also das ökonomisch Verwertbare.

„Du darfst alles sagen“, ruft die neue Freiheit, „aber sag es bitte in einer Sprache, die wir verkaufen können.“ Das progressive Versprechen, alle Stimmen zu hören, endet spätestens dann, wenn jemand eine Stimme erhebt, die nicht ins Markendesign passt. Und so findet man sich wieder – nicht in einer offenen Gesellschaft, sondern in einer offenen Planstelle für Konformismus, Feedbackschleifen und Diversity-Consulting.

Die sanfte Diktatur der Zustimmung oder: Cancel me gently

Man wird heute nicht mehr von der Bühne gezerrt – man wird eingeladen, sich selbst zu entfernen. Es ist der feuchte Traum jeder Bürokratie: eine Bevölkerung, die ihre eigenen Formulare ausfüllt, ihre eigenen Gedanken überprüft und ihre eigenen Abweichungen meldet. Der Kapitalismus, längst kein Wolf im Schafspelz mehr, sondern ein Schaf im Hoodie mit moralischer Mission, hat das Disziplinieren delegiert – an eine Armee von Konsumenten, die glauben, sie seien Akteure der Veränderung, während sie in Wahrheit nur Kunden sind, die sich selbst outsourcen.

Progressivität wird nicht mehr an der radikalen Infragestellung von Macht gemessen, sondern an der korrekten Haltung beim Kniefall. Wer „woke“ ist, darf alles sagen – solange es nicht den Produktionsfluss stört. Und wer aus der Reihe tanzt, wird nicht weggesperrt, sondern entmonetarisiert. Das ist die neue Zensur: keine Bücherverbote, sondern Sichtbarkeitsentzug. Keine Folter, sondern Shadowbanning. Eine Dystopie im Kuschelmodus.

Utopie als Corporate Branding, der Regenbogen auf dem Panzer

Dass der Kapitalismus alles frisst, war bekannt. Dass er aber selbst seine größten Kritiker in Limited Editions verwandelt, ist die wahre Meisterleistung. Der Kapitalismus hat Greta Thunberg in eine TikTok-Ästhetik gepresst und die Klimakatastrophe in ein Geschäftsmodell verwandelt. Unternehmen werben mit Nachhaltigkeit, während sie Wälder roden, sie sprechen von mental health, während sie Burnouts optimieren, sie feiern Pride, während sie in Ländern investieren, in denen Homosexualität illegal ist – aber nur außerhalb des Pride-Monats, versteht sich.

Was einst links war – Kritik, Skepsis, Ironie, Widerstand – ist heute Teil der Marketingabteilung. Und die Grenze zwischen Utopie und Verkaufsstrategie ist dünner als die Plastikfolie auf Bio-Gurken. Der Kapitalismus hat verstanden: Wer den Fortschritt besitzen will, muss ihn emotionalisieren. Und so wird jede Rebellion sofort in eine App verwandelt, jede Kritik in eine Keynote, jede Utopie in eine Subscription.

Wenn der Algorithmus links blinkt und rechts abbiegt

Irgendwann – und das Irgendwann ist nicht hypothetisch, sondern längst vergangene Gegenwart – wird das Progressivere zum Autoritären im Kapitalismus, weil es gar nicht anders kann. Denn in einem System, das jede Idee nach ihrer Marktgängigkeit bewertet, wird jede Emanzipation zur Dienstleistung, jeder Widerstand zur Funktion, jede linke Theorie zum Content-Modul im Corporate Curriculum.

Wir sind nicht auf dem Weg in eine neue Gesellschaft – wir sind auf dem Weg in ein Update der alten, mit schönerem Interface. Und während wir uns gegenseitig für unsere progressiven Posts liken, verengt sich der Handlungsspielraum wie ein Pop-up-Fenster mit 17 Cookie-Hinweisen. Willkommen im autoritären Kapitalismus – powered by Inclusion, Diversity & AI.

Fußfesseln für Millionäre

oder: Wenn der Rechtsstaat auf High Heels durchs Elend stolziert

Sie haben es wieder getan. Ganz leise. Mit samtbezogenen Handschuhen, damit man den Schlag nicht hört. Wieder wurde ein Stück Rechtsstaatlichkeit zu Grabe getragen, und niemand hat den Leichenschmaus bemerkt, weil der Friedhof inzwischen als Parlament durchgeht und der Totengräber im Designeranzug auftritt. Was da im Namen der „Resozialisierung“ durchgewunken wurde, klingt harmlos, fast nach humanitärer Fortschrittsrhetorik, aber in Wahrheit handelt es sich um nichts Geringeres als die endgültige Aushöhlung eines Prinzips, das man früher unter „Gleichheit vor dem Gesetz“ kannte, heute jedoch nur noch im Museum für politische Folklore besichtigen kann. Die Fußfessel – einst als Brücke aus dem Gefängnis ins Leben gedacht – wird jetzt zur goldenen Eintrittskarte für eine neue Kaste der Halbstraflosen: Die Elite-Häftlinge, die Verurteilten mit Vitamin B, mit Bankerfreund, Baugrund und BMW vor dem Haus, die auch in der Schande noch nach Zitrone duften und deren Reuegefühle sich in Fünf-Sterne-Wellnessanlagen vollziehen dürfen, während der Pöbel seine Schuld im Zellenloch abtragen darf, wo weder Fußfessel noch Fußbodenheizung vorgesehen sind.

Wer zahlt, schafft an – auch beim Strafvollzug

Was hier geschieht, ist nicht etwa ein Justizskandal, sondern der gelebte Sarkasmus eines Systems, das sich längst damit abgefunden hat, dass Moral und Gesetz zwei getrennte Bücher führen. Der neue „Resozialisierungspfad“ ist nur für jene begehbar, die sich ihre Schuld mit Kreditkarte leisten können. Eine schöne neue Welt, in der Gerechtigkeit nicht mehr blind ist, sondern kurzsichtig, auf Reichtum fokussiert und von Lobbyisten mit Gucci-Gestell ausgestattet. Wer zahlt, schafft an – auch beim Strafmaß. Wer das Glück hat, in einer Villa mit Alarmanlage und Gartenpool zu wohnen, darf sich über einen formvollendeten Hausarrest mit Aussicht freuen. Wer hingegen in einer Einzimmerwohnung lebt, darf im stinkenden Anstaltsflur über Gerechtigkeit nachdenken. Es ist, als hätte man das Sprichwort „Hinter Schloss und Riegel“ neu interpretiert: Der Schlüssel passt nur noch in goldene Türschlösser.

Grasser, Grasser über alles – oder: Wie man aus 8 Jahren 1 macht

Betrachten wir die Realität anhand eines Einzelfalls, dessen Name inzwischen als Marke für politische Frechheit gelten darf: Grasser. Karl-Heinz, der ewige Sunnyboy der neoliberalen Ära, für den das Wort „Verantwortung“ immer klang wie eine Beleidigung, steht beispielhaft für das, was mit diesem Gesetz nun institutionalisiert wurde: Straffreiheit für Stilvolle, Milde für Millionäre. Acht Jahre Haft, urteilte das Gericht – aber wer geglaubt hat, das bedeute acht Jahre Haft, war entweder naiv, oder kein Jurist. Ein Jahr in echter Haft – der Rest ist Spa-Resozialisierung im Eigenheim mit Wellnessbereich. Die Fußfessel, das Accessoire des modernen Delinquenten mit Netzwerk, ersetzt heute die Häftlingskleidung – maßgeschneidert, GPS-überwacht, aber stets tragbar mit polierter Gürtelschnalle.

Dass Grasser seine Strafe möglicherweise in Form eines „beschäftigten Alltags“ am Golfplatz oder im „Außendienst“ verbüßen darf, ist nicht nur zynisch, es ist das neue Normal. Arbeiten darf er – sofern ein Freund ihn „beschäftigt“. Und da er viele Freunde hat, die noch nie einem Ethik-Kurs beigewohnt haben, ist das kein Problem. Es ist ein Job auf Zuruf, eine Haft im Homeoffice, ein Fegefeuer mit Catering.

Der neue Standesstaat – aus den Ruinen des Rechts gebaut

Mit dieser Neuinterpretation der Strafvollzugsordnung wird nicht etwa das Prinzip der Gnade gepflegt, sondern jenes der Kastengesellschaft. Es entsteht eine neue Form des Standesstaats: oben die Delinquenten mit Einfamilienhaus und Steuerberater, unten die Schuldigen ohne Anwalt, ohne Vitamin B, ohne Lobby. Für die einen bedeutet eine Verurteilung: Karriereknick und Fußfessel. Für die anderen: Existenzvernichtung, Knast und Stigmatisierung fürs Leben. Während Grasser mit GPS-Sender im Garten schlendert, sitzt sein armer Zeitgenosse ohne Freunde, Wohnung oder Golfpartner in der Justizanstalt und faltet Briefkuverts für fünf Euro pro Tag – abzüglich Haftkosten. Er ist nicht nur inhaftiert, sondern auch noch verschuldet durch die Vollstreckung seiner Strafe. Die einen kassieren, die anderen zahlen – selbst im Strafvollzug. Willkommen in der Realsatire.

Zwischen Zynismus und Systemversagen – ein Nachruf auf die Gerechtigkeit

Wir erleben die langsame Transformation eines Rechtsstaates in ein Dekorationsobjekt für Sonntagsreden. Gerechtigkeit ist längst nicht mehr Maßstab, sondern Kulisse. Die politische Klasse täuscht Empörung vor, während sie an der Aushebelung fundamentaler Prinzipien werkt – mit juristischer Präzision und moralischer Flexibilität. Man könnte meinen, es handle sich um ein dunkles Kapitel unserer Demokratie – in Wahrheit ist es bereits das nächste Kapitel, und die nächsten Seiten werden bereits geschrieben. Wer heute die Fußfessel umlegt, dem reichen morgen vielleicht Hausarrest im Ausland oder ein digitales Ehrenwort. Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt – zumindest nicht für die, die sie sich leisten können.

Die Wahrheit ist bitter und spöttisch zugleich: In einem System, in dem der Geldbeutel über die Form der Strafe entscheidet, wird das Recht nicht mehr gesprochen, sondern verhandelt – auf Augenhöhe mit jenen, die sich nie ducken mussten. Die Fußfessel ist nicht mehr Symbol der Integration, sondern der Segregation. Sie trennt – nicht gut von böse, sondern arm von reich. Der Rechtsstaat? Er lebt noch, aber nur auf Widerruf – und mit GPS-Tracking in der Villa am Stadtrand.