
In einer Zeit, in der das deutsche Bildungssystem bereits an der Integration des Digitalen scheitert wie ein W-LAN-Router in der Turnhalle, wirkt der neueste Vorstoß konservativer Sicherheitspolitik wie ein tragikomischer Versuch, dem Schulalltag endlich wieder Ernsthaftigkeit zu verleihen – mit Betonung auf Ernst. Roderich Kiesewetter, laut Visitenkarte ein Verteidigungspolitiker, laut Interview eher eine Kreuzung aus Airbag und Alarmglocke, fordert Krisentraining an Schulen. Nicht etwa, weil der nächste Mathetest für viele Kinder bereits eine Form von Katastrophenerfahrung darstellt, sondern weil Russland – so seine Einschätzung – in ein bis zwei Jahren möglicherweise NATO-Gebiet angreift. Inklusive Hausaufgabenkontrolle, versteht sich.
Dass Kinder heute kaum noch wissen, wer Konrad Adenauer war, dafür aber die emotionale Biographie von Influencern rezitieren können, scheint nicht das Problem zu sein. Nein, das eigentliche Versäumnis besteht laut Kiesewetter darin, dass sie sich im Falle eines Luftangriffs nicht korrekt verhalten würden. Dass sie im Angesicht geopolitischer Verwerfungen weder mit Sandsack noch mit stoischer Miene aufwarten können. Dass sie – wie er es nennt – „besonders anfällig“ sind. Also keine Soldaten, sondern halt nur: Kinder.
Resilienzunterricht statt Religionsunterricht: Beten hilft nicht mehr
Der Begriff der Resilienz, ursprünglich aus der Psychologie kommend und dort als gesunde Widerstandskraft gegen traumatische Erlebnisse gefeiert, wird nun also aus dem kuscheligen Kontext von Achtsamkeit und Feelgood-Coaching herausgerissen und in die martialische Wirklichkeit überführt. Was früher als „innere Stärke“ galt, heißt heute: Wie verhalte ich mich bei Luftalarm? Was in der Vergangenheit vielleicht mit einer pädagogischen Wanderung durch den nahegelegenen Wald erledigt war („Natur stärkt die Seele“), soll jetzt offenbar durch Planspiele ersetzt werden: Wo finde ich den nächsten Bunker? Wie entziffere ich NATO-Funkfrequenzen? Und was ist der Unterschied zwischen Atombunker und Fahrradkeller?
In den nordischen Ländern – so die neidische Anmerkung Kiesewetters – sei man da weiter. Dort gibt es Notfallrationen, Evakuierungspläne, Sirenen-Apps. Vielleicht auch ein Schulfach „Geopolitisches Überleben für Fortgeschrittene“. In Deutschland hingegen traut man Kindern nicht mal zu, ohne Helmpflicht auf dem Schulweg unterwegs zu sein. Der Ruf nach „mehr Resilienztraining“ wirkt da wie ein verzweifelter Versuch, der Jugend wenigstens noch irgendetwas beizubringen – wenn schon keine Rechtschreibung, dann eben Kriegsvorbereitung.
Bildungspolitik als Theaterprobe fürs Schlachtfeld
Man stelle sich vor: der Stundenplan des Jahres 2026.
08:00 – Mathematik (Grundrechenarten und ballistische Flugbahn)
09:00 – Deutsch (Erörterung: Sollten Drohnen genderneutral benannt werden?)
10:30 – Politik (Die NATO: Geschichte eines kollektiven Nervenzusammenbruchs)
12:00 – Kriegsvorbereitung (Praktikum: Tarnen, Täuschen, TikTok meiden)
14:00 – Ethik (Moral in der Atomruine – eine Fallstudie)
Der Klassenraum wird zur Bunkerattrappe. Die Pausenglocke klingt wie Fliegeralarm. Und die Schulpsychologin wird zur Feldärztin mit Seelsorgeoption. Das klingt grotesk? Ja, aber nicht grotesker als die Idee, dass dieselbe Politikergeneration, die es nicht schafft, Lehrpläne zu digitalisieren oder Lehrermangel zu beheben, nun über Nacht das Land auf den Verteidigungsfall vorbereiten möchte. Was kommt als Nächstes? Bundesjugendspiele mit Scharfschützeneinlage?
Natürlich, wir leben in Zeiten der Unsicherheit. Natürlich ist es nicht falsch, über Zivilschutz nachzudenken. Aber die perverse Logik, nach der Kinder nun an vorderster Front der politischen Symbolik geparkt werden – weil man sich nicht traut, Erwachsenen zumutet, Vorräte anzulegen oder sich mit geopolitischen Realitäten auseinanderzusetzen – ist nichts anderes als eine weitere Form der Verantwortungsdelegation. Die Jugend wird zur Projektionsfläche für das, was die Politik selbst nicht zu leisten vermag: Klarheit, Mut, Vorbereitung. Und dann wundert man sich, warum die Fridays-for-Future-Generation lieber demonstriert als Dienst tut.
Pädagogik im Camouflage-Mantel
Dabei ist es nicht das erste Mal, dass Schulen zur Vorhut politischer Experimente gemacht werden. Schon die Pisa-Schocks der 2000er hatten mehr mit politischer Symbolik zu tun als mit echter Reform. Die Inklusionsdebatte wurde von oben verordnet, ohne Ressourcen. Und jetzt also das: Militarisierte Pädagogik, weil irgendwo die Sirenen heulen könnten.
Wer als Kind in einem Schulsystem aufwächst, das ihm beibringt, jederzeit mit dem Schlimmsten zu rechnen, lernt nicht Resilienz – er lernt Angst. Wer Krisentraining mit Lebenskompetenz verwechselt, verlegt das Bildungsideal vom Denken ins Ducken. Und wer Schüler*innen zur Verteidigungslinie der Innenpolitik macht, braucht sich nicht wundern, wenn die nächste Generation nicht rebelliert, sondern resigniert.
Krieg als Horizont der Bildungsdebatte
Kiesewetter ist dabei nicht das Problem – er ist nur das Symptom einer politischen Klasse, die ihre eigene Ratlosigkeit in martialischen Formulierungen versteckt. Weil echte Prävention teuer, komplex und unpopulär ist, gibt man lieber psychologische Ratschläge: Die Kinder sollen bitte stabil bleiben, während man selbst keine Stabilität zustande bringt. Die Schulen sollen Katastrophenräume werden, weil die Politik keine Vision für friedliche Bildung hat. Und alle sollen sich vorbereiten – aber niemand fragt, worauf eigentlich.
Denn am Ende dieses Weges steht nicht die Resilienz, sondern die Resignation. Wenn Bildung nicht mehr bedeutet, die Welt zu verstehen, sondern sich vor ihr zu fürchten, dann ist nicht der Schüler gefährdet, sondern die Demokratie.
Das Gegenteil von Krieg ist nicht Frieden, sondern Bildung
Vielleicht wäre es an der Zeit, den Spieß umzudrehen. Statt Resilienztraining: Rhetorikkurse für Politiker. Statt Fluchtrouten im Schulflur: Debatten über Außenpolitik in der Mittelstufe. Statt Tarnfarbe auf dem Lehrplan: der Mut, Schüler ernst zu nehmen, ohne sie gleich zu Soldaten der Resilienz zu machen.
Denn Resilienz beginnt nicht bei Sandsäcken. Sie beginnt bei Sinn. Und wenn das Bildungssystem der Ort sein soll, an dem junge Menschen lernen, dieser Welt standzuhalten, dann sollte man ihnen vielleicht beibringen, wie man denkt – nicht nur, wie man duckt.