Es ist in der Tat eine merkwürdige Eigenart unserer Zeit, dass wir in einem Zeitalter leben, in dem Empörung selbst zur Währung geworden ist, eine Währung, deren Kurs steigt, je lauter man sie vorträgt, deren Wert sich nach der Anzahl der Zeilen richtet, die man in Tweets, Artikeln, Reden und harmlosen Bücherschränken der Welt über die eigene Sensibilität verstreut – und so hat sich die Gesellschaft, die sich gerne als moralisch überlegen preist, dazu hinreißen lassen, zu behaupten, das größte Problem, das drängendste, das alles überschattende Übel unserer Zeit, sei nicht der Zerfall der Bildung, nicht das Elend in Altenheimen, nicht die Ausbreitung der Armut oder die feinsinnigen Mechanismen der Vereinzelung, sondern – verzeih mir den atemlosen Klang des Begriffs – Islamophobie, jenes Wort, das wie ein Chamäleon auf den Wänden der Debatte wandert, mal real, mal imaginär, mal Opfer, mal Täter, und das, je öfter man es ausspricht, desto gewichtiger, desto bedrohlicher wird, als hätte man ein Katastrophenszenario aus Buchstabensuppe gekocht, um es dann mit moralischer Entrüstung zu servieren.
Und hier beginnt das eigentliche Kabinettstück, die Farce, die sich hinter der hehren Rhetorik verbirgt, nämlich die Frage, die keiner stellen darf, ohne augenblicklich auf die Stufe der Häretiker versetzt zu werden: Wenn die Furcht vor der Furcht vor dem Islam tatsächlich die alles bestimmende Krise unserer Gesellschaft ist, warum dann – frage ich in aller Keckheit – wird ein Kirchenportal mit Betonpollern und schwer bewaffneten Wächtern gesichert, wird eine Synagoge wie ein Hochsicherheitstrakt behandelt, während eine Moschee, ein öffentliches Fastenbrechen, ein kleinerer Ramadanmarkt, ach, selbst der beiläufige Duft von Datteln und Harissa auf dem Bürgersteig kaum Aufmerksamkeit erregt, kaum einen Hauch von Schutz oder gar Präsenz der Staatsgewalt erfährt, als handle es sich um ein unbeschriebenes Blatt der Sicherheitspolitik, das man besser nicht berührt, aus Angst, es könnte die eigene politische Korrektheit verschmutzen.
Die Architektur der selektiven Sorge
Und hier, genau hier, offenbart sich die subtilste Ironie der europäischen Selbstvergewisserung: Man hat eine Gesellschaft geschaffen, deren moralische Architektur sich selbst genügt, die auf Hochglanzpolitur glänzt und aus Prinzipien besteht, die so wohltönend klingen, dass jeder, der sie anzweifelt, sofort in den Kreis der Verdammten getreten wird – doch hinter dieser Fassade lauert die bemerkenswerte Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis, zwischen dem, was man laut ausspricht, und dem, was man tatsächlich schützt. Die einen werden wie Kronjuwelen gesichert, nicht etwa aus Sorge um ihr spirituelles Wohl, sondern weil ihr Schutz eine symbolische Versicherung ist gegen das, was man nicht wagt zu benennen, während die anderen öffentlich gelobt, ja gefeiert, aber faktisch ignoriert werden – als wäre ihre Existenz ein moralisches Artefakt, das man bewundert, solange es keinen Widerstand leistet.
Die Gesellschaft hat sich, man muss es nüchtern feststellen, in eine paradoxe Haltung manövriert: Sie erklärt sich selbst zur moralischen Supermacht, während sie ihre Schutzmaßnahmen nach willkürlicher Sympathie verteilt, nach politischer Opportunität, nach der Lautstärke der Empörung und nicht nach der tatsächlichen Bedrohungslage. Und so entsteht eine Welt, in der Sicherheit und Fürsorge nicht mehr an realen Bedürfnissen orientiert sind, sondern an performativer Moral – ein Theaterstück, in dem die Hauptrolle dem eigenen Gewissen und die Statisten der Realität vorbehalten sind.
Der neue Klerus der Korrektheit
Und was ist mit dem neuen Klerus der Korrektheit, der Heerscharen von Redaktionsstuben, Ministerien, NGO-Büros und Kulturforen, die mit der Inbrunst früherer Priester die Liturgie der Vielfalt zelebrieren, wer oh wer wagt es, ihnen in den Weg zu treten, wer wagt es, die Gebote der moralischen Reinheit zu hinterfragen, ohne sofort exkommuniziert zu werden, abgestempelt als „rechts“, „islamophob“, „Teil des Problems“ – die Liturgie, die sich selbst überhöht, doch nur funktioniert, solange sie keine realen Kosten verursacht, solange die Gefahr der Konfrontation vermieden wird, solange man Vielfalt predigen kann, ohne sie zu verteidigen, solange man Solidarität proklamieren kann, ohne sie zu leben.
Denn hier liegt der Clou, die tragikomische Pointe: Die neue moralische Ordnung ist am wirksamsten, wenn sie sich selbst schützt, wenn sie die gefährlichen Aspekte der Realität ausblendet, wenn sie die Moschee bewundert, aber nicht sichert, wenn sie das Fastenbrechen feiert, aber keine Betonsperren errichtet, wenn sie den Weihnachtsmarkt wie eine Festung behandelt, obwohl niemand ernsthaft von ihm bedroht wird, außer vielleicht von der eigenen Angst vor der eigenen Toleranz.
Der Weihnachtspoller und das Ramadanplakat
Die Differenz, so banal sie erscheinen mag, zwischen einem Weihnachtsmarkt, der von Betonpollern flankiert wird, und einem Ramadanfest, das mit Werbebannern begrüßt wird, ist ein Lehrstück in semiotischer Gymnastik und politischer Choreografie. Das eine gilt als heimatlich, aber potenziell verdächtig, das andere als fremd, aber heiliger, unangreifbarer, als hätte die moralische Überlegenheit Europas den Zauberstab über die Realität gehalten und jene, die man schützen müsste, unsichtbar gemacht. Und doch kann man diese Farce nur mit einem bitteren Schmunzeln betrachten, ja, man muss sie betrachten, sonst zerbricht man an der Inkohärenz der eigenen Zeit, an der seltsamen Logik einer Gesellschaft, die ihre eigenen Schutzmaßnahmen als Beweis ihrer Zivilisiertheit versteht, und gleichzeitig in Ehrfurcht vor der Gefahr erstarrt, die sie nicht zu benennen wagt.
Der Humor der Verdrängung
Nüchterne Analysen, sicherheitspolitisch, soziologisch, religionspsychologisch – sie würden alles erklären, aber die Pointe zerstören, die bitter-satirische Poesie der Diskrepanz. Und so bleibt uns nur das Lachen, das scharfe, ironische Lachen, über das Paradox, dass man in einer Gesellschaft, die sich selbst für tolerant hält, am meisten Angst vor der Toleranz hat. Ein Land, das sich vor seiner eigenen Angst fürchtet, muss die Oberflächen seiner Moral umso glatter polieren, muss Kirchen mit Maschinenpistolen schützen und den Diskurs mit Paragrafen, und in beiden Fällen wissen wir, dass die Gefahr real ist, aber dass niemand sie beim Namen nennen darf, dass der Schutz selbst zu einem Akt der moralischen Selbstbeweihräucherung geworden ist, und dass die Ironie dieser Situation, so bitter sie ist, gleichzeitig ihre Komik und ihre Poesie birgt.
