„Antisemitismus betrifft nicht ‚Semiten‘. Er betrifft Juden. Punkt.“

Wenn Worte lügen, weil Menschen es wollen – oder: Der semantische Ablenkungszirkus

Kaum fällt irgendwo das Wort „Antisemitismus“, schon kreist über dem Diskurs der erste Geier: der „Semiten“-Relativierer. Mit der Gründlichkeit eines Germanistikstudenten im dritten Semester und der Chuzpe eines schlechten Zauberers mit zu großem Ego zieht er seinen alten Trick aus dem rhetorischen Ärmel: „Aber Moment mal, Araber sind doch auch Semiten!“ – ein Satz, der so klingt, als hätte man den Duden mit einem Wikipedia-Eintrag verwechselt und dann beides in die rhetorische Waschmaschine geworfen. Das Resultat: ein zerschlissenes Stück Pseudoaufklärung, das weder wärmt noch schützt, aber blendet. Und genau das ist der Zweck: Es soll nicht aufklären, es soll umleiten. Es ist die semantische Nebelgranate für alle, die sagen wollen: „Ich bin kein Antisemit, ich kritisiere nur Israel.“ Oder: „Man wird ja wohl noch sagen dürfen…“

Doch Worte sind keine Naturgesetze. Sie entwickeln sich, mutieren, leben. Der „Antisemitismus“ ist ein Paradebeispiel dieser semantischen Evolution – und zwar in eine sehr eindeutige Richtung: Judenhass. Kein Sprachhass. Kein Kulturhass gegen Vokallängen und Verbwurzeln. Sondern Hass gegen Juden. Punkt. Wer also „Antisemitismus“ heute auf Sprachfamilien zurückführt, ist entweder böswillig oder bildungsfern – oder, und das ist das gefährlichste Drittel dieser Dreifaltigkeit: beides zugleich.

Wilhelm Marrs teuflische Taufpatenschaft – oder: Wie man einem Hass eine Aura von Wissenschaft verleiht

Die Geburtsstunde des Begriffs war kein Unfall, kein Zufallsprodukt der akademischen Linguistik, sondern ein sprachstrategischer Dolchstoß: Wilhelm Marr, ein Mann mit einem Namen wie eine schlecht gelaunte Zigarrensorte und einem noch schlechteren Menschenbild, erfand den Begriff „Antisemitismus“ im 19. Jahrhundert nicht etwa, um Araber vor Rassismus zu schützen – nein, er wollte Juden nicht einfach nur kritisieren, er wollte ihnen die Existenzberechtigung absprechen. Und damit das nicht nach dumpfem Hass klang, sondern nach modernem Denken, nach Ratio, nach Wissenschaft – verpackte er den Judenhass in den wohlklingenden Mantel eines Ismus. „Antisemitismus“ war der Versuch, Vorurteil als Erkenntnis zu verkaufen, Ideologie als Diagnose, Hass als Rationalität.

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Das war kein sprachlicher Irrtum. Es war ein kalkulierter Coup. Und er hat gewirkt – bis heute. Deshalb ist es nicht nur falsch, sondern obszön, wenn Menschen 150 Jahre später so tun, als sei der Begriff irgendwie unklar. Als könne man ihn interpretieren, wie es gerade politisch passt. Wer das tut, betreibt keine Sprachkritik, sondern Realitätsverweigerung mit pseudolinguistischem Anstrich – und steckt sich dabei selbst die Narrenkappe auf.

Die semantische Ausrede des Jahrhunderts – oder: Wie man mit einem Satz Antisemitismus entschuldet

Das Märchen, dass Araber keine Antisemiten sein könnten, weil sie ja selbst Semiten seien, ist nicht nur logisch inkonsistent, es ist auch moralisch perfide. Denn es tut so, als ob Ethnizität einen Persilschein gegen Hass böte. Als ob man nicht antisemitisch sein könne, weil man arabisch ist – so wie ein Mann nicht sexistisch sein kann, weil er eine Mutter hat. Oder ein Bayer kein Rassist, weil er im Urlaub mal Couscous gegessen hat.

Tatsache ist: Antisemitismus ist kein Gen, keine Nationalität, kein Sprachmerkmal – er ist eine Ideologie. Und Ideologien kennen keine Ethnie. Wer Juden dämonisiert, delegitimiert, isoliert, diffamiert oder pauschal für die Miseren der Welt verantwortlich macht, ist Antisemit. Und zwar unabhängig davon, ob er Arabisch, Jiddisch oder Schwäbisch spricht. Der Hass auf Juden ist kein Monopol der Rechten, kein exklusiver Club für Hitlergrüßer. Er ist ein virusartiger Bazillus, der überall andockt: im linken Diskurs, im rechten Rand, im islamistischen Furor, in der katholischen Weihrauchwolke oder auf der veganen Demo gegen Israel.

Und ja, auch Juden selbst können antisemitisch argumentieren. Wer das nicht glauben mag, kennt weder die Psychologie des Selbsthasses noch die Mechanik des ideologischen Stockholm-Syndroms. Dass jemand selbst Teil einer Gruppe ist, schützt nicht davor, deren Diffamierung zu betreiben. Es gibt schwarze Rassisten, homosexuelle Homophobe, und – man glaubt es kaum – Juden, die antisemitisch denken. Es ist tragisch. Aber es ist real. Die Welt ist kein moralisches Rechenexempel. Sie ist ein Zoo aus Widersprüchen – und Antisemitismus kennt keine Eintrittskarte.

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Wenn Solidarität zur Bühne der Selbstinszenierung wird – oder: Die Sawsan-Chebli-Methode

Ein besonders illustratives Beispiel für diesen semantisch-moralischen Zirkustrick lieferte die SPD-Politikerin Sawsan Chebli, als sie öffentlich bekundete, dass Antisemitismus „vor allem auch Muslime“ bedrohe. Man möchte kurz seufzen, dann die Stirn runzeln und schließlich fragen: In welchem Paralleluniversum eigentlich? Diese Formulierung ist kein Ausdruck von Solidarität – sie ist ein rhetorisches Ablenkungsmanöver im Gewand der Empathie. Denn die Wahrheit ist: Antisemitismus bedroht in erster Linie – und vor allem – Juden. Das ist sein Wesen. Alles andere ist Etikettenschwindel.

Dass Muslime in vielen Gesellschaften Diskriminierung erleben – keine Frage. Dass antimuslimischer Rassismus bekämpft gehört – selbstverständlich. Aber die Gleichsetzung, die Chebli suggeriert, ist nicht nur analytisch falsch, sie ist moralisch unanständig. Sie verwässert den spezifischen Charakter antisemitischer Ideologie, indem sie ihn in einem großen Topf der Diskriminierungs-Allgemeinheit auflöst – als wäre Antisemitismus bloß eine von vielen Spielarten der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit. Dabei ist er mehr: Er ist der archetypische Hass, der ewige Sündenbock-Mechanismus, der sich über Jahrhunderte in Köpfe und Kulturen eingebrannt hat wie ein tödliches Meme.

Wer diesen Hass relativiert, um sich selbst als Co-Opfer zu inszenieren, der betreibt keinen Dialog – der betreibt Diebstahl. Und zwar den Diebstahl an jüdischer Geschichte, jüdischem Leid und jüdischer Realität.

Der Unterschied zwischen Kritik und Dämonisierung – oder: Warum Israel nicht der Trickfilm-Bösewicht ist

Natürlich darf man Israel kritisieren. Natürlich darf man die Politik der israelischen Regierung ablehnen, problematisieren, infrage stellen – so wie jede andere Regierung auch. Aber wenn man das tut, indem man Israel das Existenzrecht abspricht, jüdische Menschen weltweit für israelische Entscheidungen verantwortlich macht oder Verschwörungstheorien über zionistische Weltherrschaft verbreitet, dann ist das nicht Kritik. Dann ist das Antisemitismus in Gestalt einer Karikatur.

Man erkennt ihn daran, dass plötzlich mit zweierlei Maß gemessen wird. Dass ein jüdischer Staat für Maßstäbe verurteilt wird, die man keinem anderen Land der Welt aufzwingt. Dass Menschen auf deutschen Straßen skandieren, sie wollen Juden ins Meer treiben – aber es als legitime Kritik bezeichnen. Es ist das alte Muster in neuer Maske: Dämonisierung statt Analyse, Mythos statt Fakten. Und am Ende dieses perfiden Spiels steht immer dasselbe Ziel: Juden müssen verschwinden. Nicht nur aus Gaza, nicht nur aus Israel – sondern aus dem Diskurs, aus der Gesellschaft, aus dem Sichtfeld.

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Der Ernst der Lage – und der Luxus der Ignoranz

Während in deutschen Fußgängerzonen Männer mit Davidstern sich nicht trauen, ihre Kinder zur Schule zu bringen, während Synagogen unter Polizeischutz stehen müssen wie Bankschließfächer in Krisenzeiten, während jüdische Schüler ihre Herkunft verschweigen aus Angst vor Schlägen – während all das Realität ist, führen andere Debatten über Sprachfamilien. Über die Etymologie von „Semit“. Über Araber, die sich betroffen fühlen. Es ist ein intellektueller Offenbarungseid, diese Nebelkerzenpolitik. Sie ist das Privileg derer, die nie betroffen sind. Wer antisemitische Gewalt nicht fürchtet, kann sich solche Haarspaltereien leisten. Wer Angst hat, zur falschen Zeit am falschen Ort als Jude erkannt zu werden, kann das nicht.

Fazit: Der Hass ist eindeutig. Die Wortklauberei nicht.

Antisemitismus betrifft Juden. Nicht „Semiten“. Nicht „Kritik“. Nicht „alle irgendwie auch“. Er betrifft konkret, historisch, systematisch – Juden. Punkt. Wer das relativiert, betreibt kein sprachliches Feintuning. Er betreibt Verharmlosung. Und wer in der Debatte über Antisemitismus nicht Juden in den Mittelpunkt stellt, sondern sich selbst, der hat Solidarität mit Narzissmus verwechselt. Der Ernst der Lage duldet kein rhetorisches Schattenboxen. Kein semantisches Feuilletongetue.

Denn Antisemitismus ist kein „Missverständnis zwischen Sprachgruppen“. Er ist der älteste Hass der Welt. Und er zielt – immer noch, immer wieder, und immer dreister – auf Juden.

Nur auf Juden. Punkt. Schluss. Aus.

Zwischenbilanz: Wer über Antisemitismus diskutiert und dabei das Wort „Semiten“ betont, will nicht verstehen. Sondern verschleiern. Und das ist keine Sprachkritik. Das ist Beihilfe.

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