
Wien also. Wo sonst. Wo das Pathos der Empörung und der Rotwein im Plastikbecher sich die Hand geben, um gemeinsam den Kapitalismus, die Bourgeoisie, die falsche Toleranz und – nicht zu vergessen – den Zionismus zu bekämpfen. Dort also ruft Milo Rau, der künstlerische Chefrevoluzzer im Designerrollkragen, die Kunst zum „Widerstand“ auf. Ein schönes Wort, „Widerstand“. Es klingt nach weißen Rosen, nach Stauffenberg, nach heimlich vervielfältigten Flugblättern im Treppenhaus. Nur, dass diesmal der Feind kein Diktator, sondern ein demokratisch gewählter jüdischer Premierminister ist. Fortschritt, so könnte man sagen, bedeutet heute, dass man denselben moralischen Überschwang wie 1944 verspürt – bloß ohne Risiko.
Denn der neue Widerstand braucht keine Kellerverstecke, keine Druckerpresse, keine Gestapo im Nacken. Es reicht ein Aufruf auf einer Webseite, die vermutlich mehr Metadaten sammelt als jedes Geheimdienstarchiv. Der Mutige von heute riskiert höchstens einen Shitstorm von Leuten, die schon seiner Meinung sind. Und so steht Milo Rau also da, im intellektuellen Halbschatten zwischen Theater und Theologie, und ruft die Kunst zum Erwachen auf – ausgerechnet jene Kunst, die seit Jahrzehnten nichts anderes tut, als wach zu sein, wenn es gegen Israel geht.
Das große Schweigen, das so laut schreit
„Die Kunst darf nicht länger schweigen!“ ruft Rau. Man möchte ihm einen Hörtest spendieren. Denn das Schweigen, von dem er spricht, existiert nur in seiner moralischen Akustikfantasie. Die Juden Europas, deren Kinder in Schulen nicht mehr den Davidstern tragen, weil sie sonst zusammengeschlagen werden könnten, kennen kein Schweigen – sie kennen das Dröhnen der Parolen. Das infernalische Getöse der Demonstrationen, die sich als Solidarität tarnen und doch nur altes Ressentiment in neuer Verpackung verbreiten.
„From the river to the sea“ skandieren sie, während die Polizei danebensteht und prüft, ob das juristisch schon Völkermord ist oder noch „Meinungsfreiheit“. Und Milo Rau? Der hört nichts davon. Er lauscht auf andere Frequenzen. Auf die „linguistischen Spielereien“ derjenigen, die darauf hinweisen, dass Begriffe wie „Genozid“ vielleicht ein wenig inflationär verwendet werden. Denn in der Welt der moralischen Großproduktion zählt nicht die Präzision, sondern die Pose.
So vergleicht Rau das vermeintliche Schweigen zur israelischen Politik mit dem Schweigen zur Schoah. Ein rhetorischer Trick, der so alt ist, dass man ihm fast wieder Charme zusprechen möchte, wäre er nicht so infam. Die Gleichsetzung des Überlebensstaates der Juden mit dem Vernichtungsprogramm ihrer Mörder – das ist kein Irrtum, das ist Stilmittel. Ein dramaturgischer Kniff, der funktioniert, weil er das Publikum dort packt, wo es am liebsten leidet: am eigenen Schuldgefühl.
Der Luxus der moralischen Entrüstung
Es ist leicht, sich empört zu geben, wenn die Konsequenz der Empörung nichts kostet. Das Feuilleton applaudiert, die Szene nickt, die Einladungen zu Podiumsdiskussionen trudeln ein. „Mutig“ nennt man das dann. Mutig, so wie es mutig ist, in Wien gegen Israel zu sein – ungefähr so riskant wie in Teheran gegen die USA.
Die Pose des Künstlers als Prophet ist verlockend, weil sie Erlösung ohne Erkenntnis verspricht. Der neue Widerstand ist vor allem ein Ritual. Er wäscht die Hände rein mit dem Wasser der Empörung. Dass dabei das jüdische Leben in Europa zur Collateralschuld wird, ist Nebensache. Vielleicht auch eine notwendige Unannehmlichkeit auf dem Weg zur moralischen Läuterung.
Man kann es beinahe sehen: die Sektgläser im Pausenraum, die aufgeweckte Kulturszene, die sich gegenseitig für ihre „differenzierte Kritik“ beglückwünscht. Differenziert, weil sie sich nicht mit Fakten, sondern mit Gefühlen beschäftigt. Man „fühlt“ sich solidarisch mit den Unterdrückten, auch wenn man die Unterdrücker dabei verwechselt.
Von Ureinwohnern, Ursprüngen und Ur-Irrtümern
Und dann, im zweiten Teil des Dramas, wird es ethnologisch. Da treten plötzlich jene auf, die glauben, die Geschichte des Nahen Ostens beginne mit der Erfindung des Begriffs „Palästinenser“. Menschen, die an DNA-Tests glauben, solange diese ihre eigene Identität bestätigen, und sie für israelische Propaganda halten, sobald sie etwas anderes zeigen.
Man erklärt uns also, die Palästinenser seien „die Ureinwohner“. Ein Begriff, der in Europa sofort alle reflexhaften Schuldrezeptoren aktiviert. „Ureinwohner“ – das klingt nach Kolonialismus, nach Gerechtigkeit, nach Häuptling und Trommel. Man übersieht dabei geflissentlich, dass diese Erzählung historisch ungefähr so tragfähig ist wie ein IKEA-Regal im Erdbebengebiet.
Denn wer genau soll das sein, dieser „Ureinwohner“? Der Ägypter aus Gaza, der Syrer aus Hebron, der Libanese aus Nablus? Es ist eine faszinierende Leistung des 20. Jahrhunderts, aus einem geographischen Adjektiv – „palästinensisch“ – eine nationale Identität zu destillieren. Ein Identitätskonzentrat, das heute in jedem Diskurs als moralischer Klebstoff dient.
Doch in Wahrheit ist das, was man „Palästina“ nennt, seit Jahrtausenden eine Durchgangszone, ein archäologisches Palimpsest aus Sprachen, Göttern und Eroberern. Juden, Griechen, Römer, Araber, Kreuzfahrer, Osmanen, Briten – ein Stammbuch der Geschichte. Wer hier von „Ureinwohnern“ spricht, sollte auch erklären, wer die „Einwohner zweiter Generation“ waren.
Die Ironie der Geschichte
Ironischerweise zeigt sich gerade in dieser Dauerverwirrung, wie erfolgreich die römische Politik war, die Region nach den Feinden der Juden zu benennen. „Syria Palaestina“ sollte das jüdische Erbe tilgen – und siehe da: zweitausend Jahre später zitieren westliche Akademiker diesen Namen, um den Juden ihr Land abzusprechen. Die Antike hätte ihre helle Freude an dieser Tragikomödie der Wiederholungen.
Die Philister, auf die sich „Palästina“ ursprünglich bezieht, waren übrigens keine Araber, sondern Griechen. Aber das stört niemanden. Geschichte wird heute nicht mehr gelesen, sondern gefühlt. Und Gefühle sind bekanntlich der effizienteste Ersatz für Wissen.
Ein Volk, das keines war – und jetzt eines ist
Niemand bestreitet das Recht der Palästinenser, sich als Volk zu definieren. Völker entstehen nicht durch DNA, sondern durch gemeinsame Erzählung. Aber es ist eine bittere Ironie, dass gerade jene, die dieses Konstrukt so vehement verteidigen, anderen das Recht auf nationale Identität absprechen – den Juden.
Das Narrativ der „Ureinwohnerschaft“ ist kein historisches, sondern ein politisches Werkzeug. Es dient dazu, Besitzverhältnisse umzukehren, Schuld umzuverteilen, und Geschichte zur Waffe zu machen. Es ist, als wolle man die Landkarte der Antike mit den Maßstäben des postkolonialen Seminars korrigieren.
Dass viele Palästinenser Familiennamen tragen, die schlicht „der Ägypter“, „der Syrer“ oder „der Jemenit“ bedeuten, stört den Diskurs wenig. Denn Diskurse haben keine Gedächtnisse, sie haben nur Überzeugungen.
Das moralische Perpetuum mobile
Was bleibt also von all dem Pathos? Ein kulturpolitisches Perpetuum mobile, angetrieben von Schuld, gespeist von Ignoranz, und geschmiert von Eitelkeit. Die Kunst, die angeblich aufhören soll zu schweigen, schreit längst – nur in die falsche Richtung.
Statt Differenzierung herrscht Deklamation. Statt Erkenntnis – Erregung. Und während die Feuilletons über „Dekolonialisierung“ philosophieren, müssen jüdische Kinder in Europa überlegen, ob sie ihren Namen nennen dürfen.
Man könnte es zynisch nennen. Oder einfach: konsequent. Denn die europäische Kultur hat eine lange Tradition darin, das Jüdische erst zu verehren, dann zu verjagen, und schließlich im Nachhinein wieder zu verklären – solange es nicht stört.
Schluss mit lustig? Aber natürlich nicht.
Die Tragödie hat längst den Charakter einer Komödie angenommen. Eine Farce, in der die Moral die Hauptrolle spielt, aber niemand den Text versteht. Der Intendant ruft zum Widerstand, das Publikum klatscht, und irgendwo dazwischen geht das, was einmal Wahrheit hieß, leise von der Bühne ab.
Doch keine Sorge: Es wird weiter Widerstand geben – gegen das Falsche, versteht sich. Gegen Komplexität. Gegen Zweifel. Gegen die Zumutung, dass Israel nicht die Metapher für europäische Sünden sein will.
Und am Ende, wenn der Applaus verhallt ist, bleibt vielleicht ein einziger Gedanke:
Die Kunst soll nicht schweigen, gewiss. Aber manchmal wäre ein Moment des Nachdenkens lauter als jedes Manifest.