„Antisemitismus betrifft nicht ‚Semiten‘. Er betrifft Juden. Punkt.“

Wenn Worte lügen, weil Menschen es wollen – oder: Der semantische Ablenkungszirkus

Kaum fällt irgendwo das Wort „Antisemitismus“, schon kreist über dem Diskurs der erste Geier: der „Semiten“-Relativierer. Mit der Gründlichkeit eines Germanistikstudenten im dritten Semester und der Chuzpe eines schlechten Zauberers mit zu großem Ego zieht er seinen alten Trick aus dem rhetorischen Ärmel: „Aber Moment mal, Araber sind doch auch Semiten!“ – ein Satz, der so klingt, als hätte man den Duden mit einem Wikipedia-Eintrag verwechselt und dann beides in die rhetorische Waschmaschine geworfen. Das Resultat: ein zerschlissenes Stück Pseudoaufklärung, das weder wärmt noch schützt, aber blendet. Und genau das ist der Zweck: Es soll nicht aufklären, es soll umleiten. Es ist die semantische Nebelgranate für alle, die sagen wollen: „Ich bin kein Antisemit, ich kritisiere nur Israel.“ Oder: „Man wird ja wohl noch sagen dürfen…“

Doch Worte sind keine Naturgesetze. Sie entwickeln sich, mutieren, leben. Der „Antisemitismus“ ist ein Paradebeispiel dieser semantischen Evolution – und zwar in eine sehr eindeutige Richtung: Judenhass. Kein Sprachhass. Kein Kulturhass gegen Vokallängen und Verbwurzeln. Sondern Hass gegen Juden. Punkt. Wer also „Antisemitismus“ heute auf Sprachfamilien zurückführt, ist entweder böswillig oder bildungsfern – oder, und das ist das gefährlichste Drittel dieser Dreifaltigkeit: beides zugleich.

Wilhelm Marrs teuflische Taufpatenschaft – oder: Wie man einem Hass eine Aura von Wissenschaft verleiht

Die Geburtsstunde des Begriffs war kein Unfall, kein Zufallsprodukt der akademischen Linguistik, sondern ein sprachstrategischer Dolchstoß: Wilhelm Marr, ein Mann mit einem Namen wie eine schlecht gelaunte Zigarrensorte und einem noch schlechteren Menschenbild, erfand den Begriff „Antisemitismus“ im 19. Jahrhundert nicht etwa, um Araber vor Rassismus zu schützen – nein, er wollte Juden nicht einfach nur kritisieren, er wollte ihnen die Existenzberechtigung absprechen. Und damit das nicht nach dumpfem Hass klang, sondern nach modernem Denken, nach Ratio, nach Wissenschaft – verpackte er den Judenhass in den wohlklingenden Mantel eines Ismus. „Antisemitismus“ war der Versuch, Vorurteil als Erkenntnis zu verkaufen, Ideologie als Diagnose, Hass als Rationalität.

Das war kein sprachlicher Irrtum. Es war ein kalkulierter Coup. Und er hat gewirkt – bis heute. Deshalb ist es nicht nur falsch, sondern obszön, wenn Menschen 150 Jahre später so tun, als sei der Begriff irgendwie unklar. Als könne man ihn interpretieren, wie es gerade politisch passt. Wer das tut, betreibt keine Sprachkritik, sondern Realitätsverweigerung mit pseudolinguistischem Anstrich – und steckt sich dabei selbst die Narrenkappe auf.

Die semantische Ausrede des Jahrhunderts – oder: Wie man mit einem Satz Antisemitismus entschuldet

Das Märchen, dass Araber keine Antisemiten sein könnten, weil sie ja selbst Semiten seien, ist nicht nur logisch inkonsistent, es ist auch moralisch perfide. Denn es tut so, als ob Ethnizität einen Persilschein gegen Hass böte. Als ob man nicht antisemitisch sein könne, weil man arabisch ist – so wie ein Mann nicht sexistisch sein kann, weil er eine Mutter hat. Oder ein Bayer kein Rassist, weil er im Urlaub mal Couscous gegessen hat.

Tatsache ist: Antisemitismus ist kein Gen, keine Nationalität, kein Sprachmerkmal – er ist eine Ideologie. Und Ideologien kennen keine Ethnie. Wer Juden dämonisiert, delegitimiert, isoliert, diffamiert oder pauschal für die Miseren der Welt verantwortlich macht, ist Antisemit. Und zwar unabhängig davon, ob er Arabisch, Jiddisch oder Schwäbisch spricht. Der Hass auf Juden ist kein Monopol der Rechten, kein exklusiver Club für Hitlergrüßer. Er ist ein virusartiger Bazillus, der überall andockt: im linken Diskurs, im rechten Rand, im islamistischen Furor, in der katholischen Weihrauchwolke oder auf der veganen Demo gegen Israel.

Und ja, auch Juden selbst können antisemitisch argumentieren. Wer das nicht glauben mag, kennt weder die Psychologie des Selbsthasses noch die Mechanik des ideologischen Stockholm-Syndroms. Dass jemand selbst Teil einer Gruppe ist, schützt nicht davor, deren Diffamierung zu betreiben. Es gibt schwarze Rassisten, homosexuelle Homophobe, und – man glaubt es kaum – Juden, die antisemitisch denken. Es ist tragisch. Aber es ist real. Die Welt ist kein moralisches Rechenexempel. Sie ist ein Zoo aus Widersprüchen – und Antisemitismus kennt keine Eintrittskarte.

Wenn Solidarität zur Bühne der Selbstinszenierung wird – oder: Die Sawsan-Chebli-Methode

Ein besonders illustratives Beispiel für diesen semantisch-moralischen Zirkustrick lieferte die SPD-Politikerin Sawsan Chebli, als sie öffentlich bekundete, dass Antisemitismus „vor allem auch Muslime“ bedrohe. Man möchte kurz seufzen, dann die Stirn runzeln und schließlich fragen: In welchem Paralleluniversum eigentlich? Diese Formulierung ist kein Ausdruck von Solidarität – sie ist ein rhetorisches Ablenkungsmanöver im Gewand der Empathie. Denn die Wahrheit ist: Antisemitismus bedroht in erster Linie – und vor allem – Juden. Das ist sein Wesen. Alles andere ist Etikettenschwindel.

Dass Muslime in vielen Gesellschaften Diskriminierung erleben – keine Frage. Dass antimuslimischer Rassismus bekämpft gehört – selbstverständlich. Aber die Gleichsetzung, die Chebli suggeriert, ist nicht nur analytisch falsch, sie ist moralisch unanständig. Sie verwässert den spezifischen Charakter antisemitischer Ideologie, indem sie ihn in einem großen Topf der Diskriminierungs-Allgemeinheit auflöst – als wäre Antisemitismus bloß eine von vielen Spielarten der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit. Dabei ist er mehr: Er ist der archetypische Hass, der ewige Sündenbock-Mechanismus, der sich über Jahrhunderte in Köpfe und Kulturen eingebrannt hat wie ein tödliches Meme.

Wer diesen Hass relativiert, um sich selbst als Co-Opfer zu inszenieren, der betreibt keinen Dialog – der betreibt Diebstahl. Und zwar den Diebstahl an jüdischer Geschichte, jüdischem Leid und jüdischer Realität.

Der Unterschied zwischen Kritik und Dämonisierung – oder: Warum Israel nicht der Trickfilm-Bösewicht ist

Natürlich darf man Israel kritisieren. Natürlich darf man die Politik der israelischen Regierung ablehnen, problematisieren, infrage stellen – so wie jede andere Regierung auch. Aber wenn man das tut, indem man Israel das Existenzrecht abspricht, jüdische Menschen weltweit für israelische Entscheidungen verantwortlich macht oder Verschwörungstheorien über zionistische Weltherrschaft verbreitet, dann ist das nicht Kritik. Dann ist das Antisemitismus in Gestalt einer Karikatur.

Man erkennt ihn daran, dass plötzlich mit zweierlei Maß gemessen wird. Dass ein jüdischer Staat für Maßstäbe verurteilt wird, die man keinem anderen Land der Welt aufzwingt. Dass Menschen auf deutschen Straßen skandieren, sie wollen Juden ins Meer treiben – aber es als legitime Kritik bezeichnen. Es ist das alte Muster in neuer Maske: Dämonisierung statt Analyse, Mythos statt Fakten. Und am Ende dieses perfiden Spiels steht immer dasselbe Ziel: Juden müssen verschwinden. Nicht nur aus Gaza, nicht nur aus Israel – sondern aus dem Diskurs, aus der Gesellschaft, aus dem Sichtfeld.

Der Ernst der Lage – und der Luxus der Ignoranz

Während in deutschen Fußgängerzonen Männer mit Davidstern sich nicht trauen, ihre Kinder zur Schule zu bringen, während Synagogen unter Polizeischutz stehen müssen wie Bankschließfächer in Krisenzeiten, während jüdische Schüler ihre Herkunft verschweigen aus Angst vor Schlägen – während all das Realität ist, führen andere Debatten über Sprachfamilien. Über die Etymologie von „Semit“. Über Araber, die sich betroffen fühlen. Es ist ein intellektueller Offenbarungseid, diese Nebelkerzenpolitik. Sie ist das Privileg derer, die nie betroffen sind. Wer antisemitische Gewalt nicht fürchtet, kann sich solche Haarspaltereien leisten. Wer Angst hat, zur falschen Zeit am falschen Ort als Jude erkannt zu werden, kann das nicht.

Fazit: Der Hass ist eindeutig. Die Wortklauberei nicht.

Antisemitismus betrifft Juden. Nicht „Semiten“. Nicht „Kritik“. Nicht „alle irgendwie auch“. Er betrifft konkret, historisch, systematisch – Juden. Punkt. Wer das relativiert, betreibt kein sprachliches Feintuning. Er betreibt Verharmlosung. Und wer in der Debatte über Antisemitismus nicht Juden in den Mittelpunkt stellt, sondern sich selbst, der hat Solidarität mit Narzissmus verwechselt. Der Ernst der Lage duldet kein rhetorisches Schattenboxen. Kein semantisches Feuilletongetue.

Denn Antisemitismus ist kein „Missverständnis zwischen Sprachgruppen“. Er ist der älteste Hass der Welt. Und er zielt – immer noch, immer wieder, und immer dreister – auf Juden.

Nur auf Juden. Punkt. Schluss. Aus.

Zwischenbilanz: Wer über Antisemitismus diskutiert und dabei das Wort „Semiten“ betont, will nicht verstehen. Sondern verschleiern. Und das ist keine Sprachkritik. Das ist Beihilfe.

Wenn Argumente fehlen …

… hilft nur noch das Verbieten – Die SPD auf der Suche nach sich selbst (und einem Gegner, den man nicht schlagen muss)

Der demokratische Notausgang – oder: Wenn die Opposition zu groß wird, muss sie halt weg

Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands, einst Gralshüterin des demokratischen Sozialstaats, Retterin der Arbeiterklasse, Erfinderin des Rentenpunkts und Geburtshelferin des Kaffeekränzchens im Ortsverein, hat ein neues Lieblingsspielzeug entdeckt: das Parteiverbotsverfahren. Mit einem Pathos, das an eine Theateraufführung in der Endprobenphase erinnert, ruft sie: „Wehret den Anfängen!“, während sie längst nicht mehr gegen Anfänge, sondern gegen Wahlergebnisse ankämpft. Die AfD ist stark? Die AfD ist gefährlich? Die AfD ist… demokratisch gewählt? Umso schlimmer! Wenn der Pöbel falsch wählt, muss die Elite halt einschreiten. Denn was wäre eine Demokratie anderes als ein System, in dem nur die richtigen Parteien zugelassen sind?

Natürlich – man gibt sich dabei staatsmännisch. Man spricht von „wehrhafter Demokratie“, von „Verfassungsfeinden“, von der „Verantwortung gegenüber der Geschichte“. Doch in Wahrheit klingt es eher wie das politische Äquivalent zum verärgerten Kind auf dem Spielplatz: „Wenn du nicht nach meinen Regeln spielst, dann spielst du gar nicht mehr mit!“ Ein demokratischer Souverän, der sich durch die Existenz einer Oppositionspartei bedroht fühlt, hat vielleicht weniger ein Problem mit der Partei – als mit dem eigenen Selbstverständnis.

Verbotene Früchte schmecken besser – oder: Wie man der AfD das Gütesiegel ausstellt, das sie nie hätte bekommen dürfen

Doch halt – bevor wir uns allzu sehr in Empörung suhlen, lohnt ein kurzer Blick auf die Geschichte ähnlicher Unternehmungen. Man erinnere sich an die NPD, deren Verbotsverfahren krachend scheiterten – nicht etwa, weil man sie für harmlos hielt, sondern weil sich der Staat selbst in die Tasche gelogen hatte, indem er die halbe Parteistruktur mit V-Leuten infiltrierte, bis niemand mehr wusste, ob dort noch echte Nazis saßen oder nur bezahlte Schauspieler mit Hang zu alten Marschliedern. Und nun also die AfD – eine Partei, deren gefährliche Ideen leider nicht im stillen Kämmerlein brüten, sondern im Scheinwerferlicht der Wahllokale gewählt werden. Ein missglücktes Verbotsverfahren würde ihr nicht schaden, sondern nützen: Es würde ihr das lang ersehnte juristische „Unbedenklichkeitszeugnis“ verleihen – ausgestellt von jenen, die sie eigentlich bekämpfen wollten.

Der PR-Effekt wäre gewaltig: „Sie haben es versucht – und sie durften bleiben!“ Die AfD könnte sich in ihrer Lieblingsrolle suhlen: als Märtyrerin des Systems, als Opfer der Altparteien, als letzte Bastion der Meinungsfreiheit gegen die Gleichschaltung der Gesinnungspolizei. Die SPD wiederum stünde da wie ein angezählter Boxer, der zum Tiefschlag greift – nicht, weil er gewinnen will, sondern weil er keine andere Idee mehr hat. Und das Volk? Das lacht nicht. Es wählt.

Die Demokratie als Einbahnstraße – oder: Doppelmoral für Fortgeschrittene

Man stelle sich vor – rein hypothetisch natürlich –, Viktor Orbán würde ankündigen, die größte Oppositionspartei Ungarns verbieten zu wollen, weil sie „verfassungsfeindlich“ sei. Der Aufschrei in deutschen Redaktionsstuben wäre ohrenbetäubend. Der SPIEGEL brächte eine Titelgeschichte mit brennenden Wahlurnen, die taz schriebe von der „Zerschlagung der Opposition“ und Annalena Baerbock würde in einem Interview mit CNN erklären, wie wichtig freie Wahlen und Meinungsvielfalt für eine funktionierende Demokratie seien. Doch in Deutschland? Da läuft der gleiche Film – nur mit umgekehrten Vorzeichen. Und plötzlich ist der Eingriff in den politischen Wettbewerb ein Akt demokratischer Selbstverteidigung. Wie bequem, wenn Moral und Opportunismus Hand in Hand spazieren gehen!

Die gleiche SPD, die sich weltweit für demokratische Standards einsetzt, die in Thailand das Verbot oppositioneller Bewegungen beklagt und in Polen jeden Angriff auf die Justiz anprangert, hat offenbar ein bemerkenswert selektives Verhältnis zur eigenen Prinzipientreue. Denn sobald die eigene Wählergunst schwindet wie der letzte Schnee im März, werden Prinzipien zu Variablen und Demokratie zu einer Rechenaufgabe: Wahl + falsche Partei = Verbot. Wer braucht denn noch mühsame Überzeugungsarbeit, politische Visionen oder charismatische Figuren, wenn man auch einfach den politischen Wettbewerb auf dem Verwaltungsweg abwickeln kann?

Der Tod der politischen Fantasie – oder: Wenn das Programm nur noch aus Empörung besteht

Was man an dieser Diskussion vor allem merkt: Der SPD fehlt nicht nur das Geld, die Vision und der Nachwuchs – ihr fehlt auch die Fantasie. Es ist, als hätte man sich jahrelang an der Idee abgearbeitet, irgendwie „gegen rechts“ zu sein – ohne je zu definieren, wofür man eigentlich selbst steht. Die Programmatik der Partei, sofern sie überhaupt noch existiert, liest sich wie ein mittelguter Koalitionsvertrag zwischen Gewissensbissen und Verzweiflung. Man verspricht soziale Gerechtigkeit, hat aber Hartz IV erfunden. Man will Klimaschutz, trägt aber Kohlekraft mit. Man spricht von Frieden und liefert Waffen. Wenn das der politische Kompass ist, ist es kein Wunder, dass sich die Wähler lieber verirren, als ihm zu folgen.

Und so entsteht ein gefährlicher Teufelskreis: Die Menschen laufen zur AfD, weil sie den etablierten Parteien nicht mehr trauen – und die etablierten Parteien versuchen, die AfD zu verbieten, weil sie den Menschen nicht mehr trauen. Das Misstrauen ist gegenseitig. Und das Vertrauen? Das bleibt auf der Strecke. Was bleibt, ist ein schiefer Dialog auf beiden Seiten des Grabens – und ein Wahlvolk, das sich zunehmend zwischen zwei Übeln entscheiden muss. Die SPD bietet dabei leider nur das kleinere Übel – und will nun das größere Übel per Gesetz aus dem Weg räumen. Ein kläglicher Versuch, die Realität zu überlisten.

Demokratie ist, wenn trotzdem gewählt wird – und nicht, wenn keiner mehr zur Wahl steht

Natürlich, man kann den Aufstieg der AfD kritisch sehen. Man muss sogar. Doch der Weg, ihn zu stoppen, führt nicht über das Verbot, sondern über das bessere Angebot. Wer Menschen überzeugen will, muss mit Ideen kommen, nicht mit Paragrafen. Wer den demokratischen Wettbewerb verteidigen will, darf ihn nicht verbieten, sobald er verliert. Und wer sich über autoritäre Tendenzen in anderen Ländern beklagt, sollte nicht selbst mit den Werkzeugen arbeiten, die er bei anderen geißelt.

Die SPD steht vor einer historischen Entscheidung: Will sie zurückfinden zu einer Partei, die für etwas steht – oder sich endgültig in einen Verwaltungsapparat verwandeln, der Demokratie als Risiko betrachtet? Die Angst vor der AfD ist verständlich. Aber Angst war noch nie ein guter Ratgeber. Und schon gar kein guter Demokrat.

Epilog: Das letzte Mittel ist oft das falsche

Am Ende bleibt die bittere Erkenntnis: Wer in einer Demokratie nur noch durch das Verbot des Gegners bestehen kann, hat sie eigentlich schon verloren. Und wer glaubt, die politische Realität per Gerichtsurteil verändern zu können, sollte sich nicht über Politikverdrossenheit wundern. Demokratie ist nicht der Sieg der Guten über die Schlechten – sondern der Wettstreit der Argumente. Wer ihn nicht mehr führen kann, sollte schweigen. Oder, ganz revolutionär: ein besseres Programm schreiben.

Zwischenfazit: Demokratie kann unbequem sein. Aber sie bleibt die beste Idee, die wir je hatten – solange wir sie nicht selbst verbieten.

Der Traum von Europa

oder: Wie man mit offenen Grenzen in geschlossene Gesellschaften taumelt

Die Erschöpfung des Abendlands – Europa zwischen Werteexport und Werteverzicht

Es war einmal ein Kontinent, der sich selbst für die Krone der Zivilisation hielt, für den goldenen Mittelweg zwischen Dionysos und Descartes, zwischen Aufklärung und Avocado-Toast, zwischen Kant und Kaffeesatzlesen. Europa, das war das Flaggschiff der Freiheit, das Mutterschiff der Menschenrechte, das rollende Museum der Moral. Ein alter, weißhaariger Herr mit Pfeife und Prinzipien, der von sich glaubte, die Welt verstanden zu haben – und sie daher missionieren zu dürfen.

Doch siehe da: Der Herr ist müde geworden. Die Pfeife verloschen, die Prinzipien verblichen, der Kanon kultureller Selbstvergewisserung in sich zusammengefallen wie ein schlecht aufgestellter Liegestuhl. Europa, einst streitbar und stolz, schaut heute betreten zu Boden, wenn es um seine eigenen Werte geht, flüstert leise von Toleranz, während es schweigt zu Intoleranz. Der Kulturrelativismus – ursprünglich gedacht als noble Geste des Respekts gegenüber dem Anderen – ist längst zum Biedermäntelchen einer moralisch zahnlosen Selbstverleugnung verkommen.

Denn was bedeutet es heute, Europäer zu sein? Ein Herkunftslabel? Eine Staatsbürgerschaft? Eine postnationale Befindlichkeitsgemeinschaft, die sich lieber mit Gendertoiletten beschäftigt als mit der Frage, wie viel Islamisierung die Demokratie eigentlich verträgt, ohne dass sie zur Karikatur ihrer selbst wird?

Gold oder Glaube – Martin Schulz und die romantische Migrationserzählung

Martin Schulz, jener tragikomische Berufs-Europäer mit der Eloquenz eines Lateinlehrers im Rausch der Weltethik, sagte 2016 in jener legendären Rede, Flüchtlinge brächten „etwas mit, das wertvoller ist als Gold“: den Glauben an Europa. Was für ein Satz! Was für ein Pathos! Man hätte fast den Eindruck gewinnen können, die Züge, die damals über die Balkanroute rollten, seien keine Nottransporte, sondern Epiphanien. Jeder Migrant ein Prophet. Jeder Ankommende ein europäischer Erlöser in Turnschuhen.

Doch der Realität ist das Pathos selten bekommen. Denn: Wer bringt da eigentlich was mit – und vor allem: wohin? In die Vororte von Paris, wo die Republik längst resigniert hat? In die Problemviertel deutscher Städte, in denen das Grundgesetz zwar offiziell gilt, aber in der Praxis oft das islamische Ehrgefühl regiert? Oder vielleicht in die Berliner Schulen, wo Lehrer sich mitunter weniger vor Matheversagen als vor Vätern mit Allah-Komplex fürchten?

Es mag Menschen geben, die mit ehrlichem Herzen nach Europa kamen – vor Krieg geflüchtet, von Freiheit geträumt. Aber es ist nicht minder wahr: Viele kamen auch mit Erwartungen, die sich nicht mit westlicher Offenheit decken, sondern sie schamlos ausnutzen. Sozialstaat ja, Säkularismus nein. Meinungsfreiheit ja, Karikaturen nein. Frauenrechte ja, aber bitte nur für die anderen. Und so verwandelt sich der europäische Traum nicht selten in ein Schlafwandeln zwischen Multikulti-Romantik und Integrationsverweigerung.

Vom Tugendstolz zur Tugendstarre – Wie Europa sich selbst neutralisiert

Es war einst die Stärke Europas, Gegensätze zu integrieren – Götter und Glaube, Monarchie und Markt, Rockmusik und Rousseau. Heute jedoch gleicht der Kontinent einem Allergiker, der auf jede Form von Abgrenzung mit einem Schock reagiert. Grenzen? Xenophob. Leitkultur? Rassistisch. Kritik am Islam? Islamophob, natürlich. Die kollektive Angst, „rechts“ zu wirken, hat die politische Linke in eine Art ethisch-therapeutischen Selbstkastrationszustand versetzt, in dem man sich selbst am liebsten in Diversity-Flyern und moralischer Selbstbeweihräucherung auflöst.

In dieser Stimmung sind offene Grenzen kein Ausdruck von Großmut mehr, sondern von Gleichgültigkeit. Gleichgültigkeit gegenüber jenen, die bereits hier leben – und jenen, die kommen. Denn Integration ist kein naturwüchsiger Prozess, sondern harte Arbeit – auf beiden Seiten. Doch während der eine Teil sich bemüht, Multikulturalität mit Sozialpädagogik zu kitten, nutzt der andere die Freizügigkeit Europas als Einbahnstraße zur Anspruchsmentalität.

Das Resultat: Der naive Glaube an die Friedensfähigkeit aller Kulturen wird regelmäßig von der Realität erschüttert – sei es durch Silvesternächte in Köln, antisemitische Ausfälle auf Schulhöfen oder islamistische Anschläge, die mit zynischer Präzision immer wieder beweisen, dass auch im pluralistischen Paradies Hölle wohnen kann. Doch statt daraus zu lernen, beruhigt man sich mit Ritualen: Kerzen, Hashtags und der ewige Satz „Das hat nichts mit dem Islam zu tun“.

V. Die Doppelmoral der Liberalität – Wenn Toleranz zur Intoleranz gegenüber Kritik wird

Der vielleicht größte Treppenwitz dieser Entwicklung ist die Umkehrung des Diskurses: Diejenigen, die auf Missstände hinweisen, gelten als Gefährder. Wer fragt, wie viel Islam eine offene Gesellschaft verträgt, wird nicht ernstgenommen, sondern eingebrannt in die Bannflamme des Verdachts. Rassismus! Populismus! Rechte Hetze! – so tönt es aus den Echokammern der Besserwisserei, die sich selbst für die letzte Bastion der Humanität hält, während draußen auf der Straße das Klima der Einschüchterung wächst.

Und so darf ein Kopftuch Symbol der Emanzipation sein, solange es in den narrativen Kontext der „kulturellen Vielfalt“ passt. Eine Moschee ist ein Ort der Spiritualität, auch wenn dort in der Freitagspredigt über „Ungläubige“ gewettert wird. Kritik? Verstöße gegen das „gesellschaftliche Klima“, wie ein Hausmeister der Meinungsfreiheit, der bei jedem Windstoß sofort die Fenster schließt.

Es ist, als hätte man den Begriff der Toleranz ausgehöhlt, bis nur noch ein moralisches Vakuum übrig blieb – in dem alles möglich ist, außer kritischer Debatte. Europa hat seine liberale DNA nicht verloren – es hat sie mutwillig wegsediert, um sich nicht mit dem zu konfrontieren, was „schwierig“ sein könnte. Aus Angst, falsch zu handeln, tut man lieber gar nichts. Und aus Angst, das Eigene zu behaupten, sagt man lieber: Alles ist gleich wert. Auch das Gegenteil.

Der Preis der Offenheit – Und was passiert, wenn der Westen sich auflöst

Was also ist der Preis dieser postmodernen Selbstentgrenzung? Vielleicht: Der schleichende Verlust des Vertrauten. Der öffentliche Raum, in dem plötzlich der Ramadan mehr Präsenz zeigt als Weihnachten. Die Debatten, in denen die Angst vor „falschen Assoziationen“ schwerer wiegt als die Faktenlage. Die Selbstverleugnung, die zur Identitätsersatzhandlung wird: Wer keine gemeinsame Kultur mehr definieren will, der klammert sich eben an CO₂-Werte, Veggie-Days und Drag-Queens im Kindergarten.

Europa – so scheint es – will gefallen, aber nicht führen. Es will bewahren, aber nichts mehr fordern. Es will Weltretter sein, ohne Hausmeister der eigenen Ordnung. Der Migrationspakt ersetzt die Grenzkontrolle, und „Willkommenskultur“ den gesunden Menschenverstand. Doch eine Gesellschaft, die sich selbst nicht definiert, wird definiert – von außen. Und wer keine Bedingungen stellt, der bekommt Bedingungen gestellt.


Epilog: Der europäische Traum – oder: Wenn man beim Träumen vergisst, aufzuwachen

Martin Schulz sprach vom „Traum von Europa“. Es ist ein schöner Satz, wirklich. Poetisch. Idealistisch. Ein Satz für Sonntagsreden und PowerPoint-Präsentationen in Brüssel. Aber vielleicht ist es genau das Problem: Europa träumt – und vergisst zu wachen. Es träumt von Einheit und bekommt Spaltung. Es träumt von Vielfalt und erlebt Parallelgesellschaften. Es träumt von Integration, aber praktiziert Assimilationsverzicht.

Es träumt – und verliert. An Substanz. An Sicherheit. An Selbstbewusstsein.

Was bleibt? Ein Kontinent im Koma seiner eigenen Ideale. Und eine Bevölkerung, die sich fragt, wann aus offenen Grenzen offene Rechnungen wurden.

Zwischenruf: Europa, wach auf. Bevor du aus deinem Traum nicht mehr erwachst.

Warum der Verstand ein einsamer Spaziergänger ist – aber der einzige, der den Weg kennt

Zur Verteidigung der liberalen Demokratien, der individuellen Rechte, der moralischen Klarheit und der Systeme, die für die Menschen funktionieren

Die Tyrannei der Trendmeinung – oder: Wenn der Zeitgeist zum Diktator wird

Es ist ein sonderbarer Zustand unserer Zeit, dass jene, die für Aufklärung kämpfen, als Reaktionäre beschimpft werden, während jene, die brüllen, kreischen und fordern, sich für die Speerspitze der Vernunft halten. Die liberale Demokratie, einst das stolze Ergebnis jahrhundertelanger Entwicklung, von Athen bis Weimar, von Locke bis Habermas, wird mittlerweile behandelt wie ein antiquiertes Möbelstück: sperrig, bürgerlich, moralisch unbequem. Die Mehrheit, so scheint es, hat den Charme autoritärer Vereinfachung entdeckt – sie liebt das Dröhnen der Parolen mehr als das Säuseln der Argumente. Und wer in diesem Konzert der Selbstgewissheiten leise Zweifel äußert, der steht ganz schnell auf der falschen Seite der Geschichte – was auch immer das heißen soll in einer Ära, die Geschichte nur noch als Hashtag konsumiert.

Aber halt, lasst uns innehalten. Denn vielleicht ist es gerade in Zeiten, in denen das Geschrei überhandnimmt, notwendig, sich in die leise Einsamkeit der Vernunft zurückzuziehen. Vielleicht liegt die Wahrheit, wie so oft, nicht im Tumult der Masse, sondern im stillen Widerstand des Individuums. Die liberale Demokratie, dieses zart gebaute Konstrukt, das nicht schreit, sondern fragt, nicht befiehlt, sondern erlaubt, nicht verordnet, sondern schützt – sie ist heute die letzte Bastion gegen den Sog kollektiver Enthemmung. Und gerade weil sie kein Spektakel ist, kein Rauschmittel, kein moralischer Erweckungsschub, wird sie von der Erregungsgesellschaft mit Argwohn betrachtet. Sie ist langweilig, sagen sie. Bürokratisch. Verkomplizierend. Ja – und genau das ist ihre Tugend: Sie schützt vor der Dummheit in Bewegung.

Die Wurzel des Westens: Freiheit – nicht Wohlstand, nicht Sicherheit, nicht moralische Pose

Was macht die liberale Demokratie eigentlich aus? Es ist nicht der Wohlstand, obwohl dieser gerne als Argument missbraucht wird. Es ist auch nicht die Sicherheit, die sie garantiert – sie tut das oft schlecht, mit vielen Fehlern, verspätet und unvollkommen. Es ist auch nicht ihre moralische Reinheit – oh nein, sie ist schmutzig, voller Kompromisse, Intrigen, fauler Deals und halbherziger Maßnahmen. Aber sie hat etwas, das all diese Makel nicht nur aufwiegt, sondern heiligt: Sie respektiert das Individuum. Und das ist, man muss es leider wiederholen, in der Geschichte der Menschheit eine absolute Ausnahme.

Denn die Masse liebt keine Individuen. Sie duldet sie bestenfalls. Viel lieber hat sie Helden, Führer, Tribunen, Erlöser. Der einzelne Mensch mit seiner sperrigen Meinung, seiner unbequemen Biografie, seinen Widersprüchen – er stört. In der liberalen Demokratie aber ist genau dieser Mensch das Maß aller Dinge. Nicht der historische Auftrag. Nicht das Blut der Ahnen. Nicht der Wille des Volkes. Sondern der Einzelne – mit seinen Rechten, seinem Gewissen, seiner Freiheit. Und wer sich einmal klargemacht hat, wie radikal diese Idee ist, wird verstehen, warum sie so oft angegriffen wird. Sie ist unbequem. Sie lässt sich nicht harmonisieren. Sie verhindert die große Erzählung – und das macht sie für Ideologen aller Couleur zum Feindbild.

Die Rechte des Einzelnen: Kein Luxus, sondern Bollwerk gegen den kollektiven Irrsinn

In Zeiten moralischer Hysterie, in denen man Menschen nicht mehr nach dem fragt, was sie sagen, sondern nur noch nach dem, wofür sie stehen (oder zu stehen scheinen), wirkt der Begriff der individuellen Rechte fast archaisch. Dabei sind sie das Letzte, was uns vor dem Absturz in die Gesinnungshölle schützt. Die Menschenrechte – diese viel belächelten, oft ignorierten, gelegentlich instrumentalisieren, aber immer noch einzigartigen Errungenschaften – sie sind keine Feelgood-Maßnahmen. Sie sind keine Luxusartikel. Sie sind ein Schutzschild gegen die menschliche Natur.

Denn der Mensch ist, nüchtern betrachtet, nicht gut. Er ist zur Empathie fähig, ja. Aber er ist auch zur Grausamkeit fähig, zur Hetze, zum Mord, zur Gleichgültigkeit. Die Menschenrechte sagen: Es ist egal, was du denkst, was du glaubst, was du fühlst. Du darfst nicht gefoltert werden. Du darfst deine Meinung äußern. Du darfst leben. Punkt. Das ist keine Einladung zur Beliebigkeit – das ist ein Bekenntnis zur Selbstbeschränkung. Und genau deshalb ist sie so revolutionär. Eine Gesellschaft, die das akzeptiert, gibt zu: Wir sind nicht moralisch überlegen, aber wir sind lernfähig. Das ist nicht romantisch. Aber es ist menschlich.

Moralische Klarheit – und warum sie heute so verdächtig wirkt

Wir leben in einem Zeitalter der Relativierung – jeder Standpunkt ist ein Beitrag, jede Haltung ein Narrativ, jede Wahrheit ein Konstrukt. Wer in dieser Landschaft von moralischer Klarheit spricht, gilt schnell als naiv, dogmatisch oder, noch schlimmer: westlich. Dabei ist die Klarheit, die wir meinen, nicht die der Bekenntnisse, sondern die der Prinzipien. Nicht „Wir sind die Guten“, sondern: „Was ist gut, unabhängig von uns?“ Es geht nicht um Selbstbeweihräucherung. Es geht um universelle Maßstäbe. Und ja, die gibt es – oder zumindest müssen wir so tun, als ob es sie gäbe, wenn wir nicht vollständig im moralischen Morast versinken wollen.

Denn wer alles relativiert, relativiert auch die Gräueltaten. Wer alles versteht, verzeiht am Ende alles. Und wer alles entschuldigt, der schützt niemanden mehr. Die liberale Demokratie sagt: Es gibt Dinge, die gehen nicht. Punkt. Kein „aber“, kein „man muss den Kontext sehen“, kein „andere waren auch nicht besser“. Nein. Es gibt rote Linien. Und das ist keine Arroganz, das ist Zivilisation. Wer das für überheblich hält, hat das Wesen der Barbarei noch nie am eigenen Leib gespürt – oder sich zu sehr an ihren Soundtrack gewöhnt.

Systeme, die funktionieren – und warum das so unsexy klingt

„Funktionieren“ – wie langweilig. Wie technokratisch. Wie deutsch. In einer Welt, die nach Visionen dürstet, klingt der Begriff wie eine Entschuldigung für Mittelmaß. Aber vielleicht ist es an der Zeit, das Funktionieren wieder zu feiern. Denn ein System, das funktioniert, schützt mehr Menschen, als ein System, das begeistert. Die liberale Demokratie verspricht keine Erlösung, sie kennt keine endgültige Gerechtigkeit, sie predigt keine Utopie – und genau das macht sie so unermüdlich wirksam. Sie ist ein Mechanismus zur Korrektur, ein Feedbacksystem für Fehler, ein Werkzeug zur friedlichen Transformation. Kein Wunderwerk. Kein Gottesstaat. Kein irdisches Paradies. Nur ein Gerüst – aber was für eines!

Wir müssen aufhören, unsere politischen Systeme nach Erregungswert zu bewerten. Die Frage ist nicht: „Erfüllt es mich?“ Sondern: „Hält es mich am Leben, in Freiheit, mit Rechten?“ Die liberale Demokratie ist das politische Äquivalent zur Zentralheizung – man merkt erst, wie genial sie ist, wenn sie ausfällt. Und wenn die Diktatur wieder an die Tür klopft, nicht mit Stiefeln, sondern mit Tweets, nicht mit Panzern, sondern mit Meinungsumfragen, dann erkennt man den Wert eines funktionierenden Systems. Vielleicht. Hoffentlich.

Epilog: Die Klarheit der Einsamkeit – oder warum Vernunft immer ein Einzelgänger ist

Die „richtige Seite der Geschichte“ – was für ein Ausdruck! So triefend vor moralischer Selbstgewissheit, so blind für die dialektische Bosheit der Realität. Die richtige Seite der Geschichte war schon immer einsam. Sie war in Gefängniszellen. Im Exil. In Fußnoten. In zerrissenen Tagebüchern. Die Menge hat sich selten geirrt – sie hat sich fast immer geirrt. Nicht weil sie böse ist, sondern weil sie laut ist. Und Lärm ist der natürliche Feind der Klarheit.

Wer heute für liberale Demokratie, für individuelle Rechte, für moralische Prinzipien einsteht, tut dies oft gegen den Trend. Gegen die Empörten. Gegen die Erweckten. Gegen die Applaudierer der Revolution. Aber vielleicht ist genau das die Aufgabe unserer Zeit: Nicht recht zu haben – sondern Recht zu bewahren. Nicht mitzubrüllen – sondern zu bestehen. Nicht mitzugehen – sondern zu stehen.

Denn Vernunft war nie populär. Aber sie ist – in all ihrer spröden, unglamourösen, langweiligen Art – das Einzige, was uns noch retten kann.

Zwischenbilanz: Moralische Klarheit. Demokratischer Trotz. Einsamer Mut. Weitergehen.

Die Rückkehr der Kriegsgeräte aus der Hölle

Antipersonenminen feiern ihr Comeback

Ach, wie haben wir uns damals gefreut, als die Ottawa-Konvention unterzeichnet wurde. Ein Meilenstein, rief man, ein Sieg der Zivilisation über die Barbarei, ein Zeichen, dass selbst Kriege Regeln kennen können – zumindest auf dem Papier. Und nun, in einer historischen Pirouette, die jeden Diplomaten zum Schwindeln bringen müsste, kündigen Staaten wie Finnland, Polen und die baltischen Brüder ihre Bereitschaft an, sich wieder zu bewaffnen mit jenen teuflischen Instrumenten, die jahrzehntelang ganze Landstriche in unsichtbare Friedhöfe verwandelten. Antipersonenminen – einst geächtet, nun wieder hoffähig, vielleicht sogar bald wieder „strategisch nützlich“.

Wohlgemerkt: Es geht hier nicht um Fantasien oder dunkle Gedankenspiele, sondern um konkrete Austrittsabsichten aus einem internationalen Abkommen, das einst zu den großen zivilisatorischen Selbstvergewisserungen der Nachkriegsordnung gehörte. Man will wieder minen dürfen. Wie eine ehemalige Raucherin, die nicht nur wieder zur Zigarette greift, sondern auch gleich die WHO verklagt. Die Argumentation ist dabei ebenso klassisch wie zynisch: Verteidigung sei alles, Moral sei relativ, und überhaupt – Minen seien heute viel „moderner“ und könnten sich ja selbst abschalten. Hightech trifft Höllentechnik, digitaler Humanismus mit Zeitzünder.

Sicherheit durch Streusplitter: Der ethische Offenbarungseid in Tarnfarbe

Natürlich wird auch hier nicht von „verstümmelnden Tretminen“ gesprochen – man sagt lieber „bodenbasierte Abschreckungsinstrumente mit selektivem Wirkungsspektrum“. Worte, die klingen, als habe ein Think-Tank versucht, einem blutigen Fakt die Unschuld zurückzuschreiben. Wer dagegen protestiert, wird belehrt: Man befinde sich nun einmal in einem neuen geopolitischen Zeitalter. Und in diesem Zeitalter, so der neue Konsens, sei es legitim, selbst das moralisch Undenkbare wieder denkbar zu machen, solange es im Namen der Abschreckung geschieht.

Dass diese Art von Logik in den 90er Jahren als menschenverachtend galt, ist heute nur noch eine sentimentale Fußnote in Geschichtsbüchern, die kaum noch jemand liest. Heute gilt, was „militärisch notwendig“ ist – ein Begriff, der sich in etwa so klar definieren lässt wie „Kunst“ oder „Gott“. Und wenn eine baltische Regierung erklärt, dass man Minen nur auf eigenem Territorium einsetzt, zum Schutz vor möglichen Eindringlingen, dann klingt das fast vernünftig – bis man sich erinnert, dass genau diese Art von Verteidigung einmal ganze Kindergenerationen das Leben oder die Beine gekostet hat. Aber das war ja, wie gesagt, früher. Heute haben wir ja bessere Minen.

Europa, du hast dich schwer bewaffnet – und keinen Plan

Diese Entwicklungen sind nicht einfach nur alarmierend – sie sind symptomatisch für eine sicherheitspolitische Entgleisung, bei der sich moralische Prinzipien dem realpolitischen Dampfhammer beugen wie Grashalme im Sturm. Und das Tragische ist: Kaum jemand wagt es, laut zu widersprechen. Die einen schweigen aus strategischer Rücksicht, die anderen aus innenpolitischem Kalkül. Und wieder andere reden sich ein, man könne „punktuell“ austreten und trotzdem „grundsätzlich“ dem Geist der Konvention treu bleiben. Als wäre Abrüstung ein Buffet, aus dem man sich das herauspickt, was gerade passt.

Dabei bedeutet der Rückschritt in Sachen Antipersonenminen nicht nur eine gefährliche politische Symbolik – er ist eine konkrete, menschenverachtende Entscheidung mit langfristigen Konsequenzen. Denn Minen verschwinden nicht, nur weil ein Krieg endet. Sie bleiben, sie warten, sie töten – Jahre später, wahllos, absurd, grausam. Und doch feiern sie in Europa, der selbsternannten Hochburg des Völkerrechts, gerade ihr unheilvolles Comeback. Es ist, als hätte jemand beschlossen, die Apokalypse scheibchenweise zu legalisieren – juristisch sauber, militärisch begründet und politisch pragmatisch.

Zynischer Schlussgedanke: Vielleicht geben wir dem Krieg bald den Friedensnobelpreis

Was bleibt, ist das flaue Gefühl, dass etwas fundamental falsch läuft. Dass Europa, dieser einstige Kontinent der Aufklärung, gerade dabei ist, sich selbst zu entzaubern – nicht aus Not, sondern aus Kalkül. Dass Verträge gebrochen werden, weil sie „nicht mehr zeitgemäß“ sind. Dass Moral geopfert wird, weil sie angeblich nicht effizient ist. Und dass wir alle zusehen, wie das Rad der Geschichte rückwärtsläuft – diesmal nicht aus Dummheit, sondern mit voller Absicht.

Vielleicht wird irgendwann ein künftiger Historiker diese Zeit so beschreiben: „In einer Ära der globalen Umbrüche und planetaren Krisen entschied sich Europa, nicht in Nachhaltigkeit, Diplomatie oder Bildung zu investieren – sondern in Minen. Es wollte sicher sein. Es wurde es nicht.“

Aber Hauptsache, der Verteidigungshaushalt stimmte.

Von der Friedensdividende zur Panzerdividende

Die Rückkehr des militärisch-industriellen Deliriums

Es war einmal, in jenem fernen, fast märchenhaften Jahrzehnt nach dem Fall der Mauer, als Europa sich einbildete, Geschichte sei etwas für Museen, Kriege etwas für ferne Kontinente, Panzer Relikte aus dem Kalten Krieg und Rüstungsausgaben – ein hässliches Wort, beinahe obszön – etwas, das man wie Bananenschalen in den Mülleimer der Geschichte entsorgen könne. Damals sprach man von der Friedensdividende, jenem sagenumwobenen Schatz, der sich aus den eingesparten Milliarden speisen sollte, die man nun statt in Marschflugkörper in Kindergärten, Universitäten, Solarpaneele und subventionierte Opernkarten stecken wollte. Doch der Traum endete, wie es sich für europäische Träume gehört, in einer Bürokratie. Und wie das bei Träumen nun einmal ist: Wenn man sie zu oft vertagt, kehren sie als Albtraum zurück.

Jetzt, anno 2025, ist die Lage wieder ernst – oder, wie man in Brüssel sagt, „komplex“ – und plötzlich sprechen die Verteidigungsminister wieder wie Generäle, die Think-Tanks röcheln vor Begeisterung, und überall tauchen Zahlen auf, die einst nur in der Astrophysik vorkamen. 100 Milliarden hier, 300 Milliarden dort – und das nur als „Startsignal“, nicht etwa als Endpunkt. Rüstung ist wieder sexy. Und nichts ist in Europa gefährlicher als ein Thema, das plötzlich sexy wird. Was in Mode ist, wird verteidigt – notfalls mit Waffengewalt.

Wer Wohlstand will, muss Krieg denken: Die neue Logik der Abschreckung

Was tun wir nicht alles für unser Sicherheitsgefühl! Früher waren es Videoüberwachung und Kampfhunde, heute sind es Raketenabwehrsysteme, Tarnkappentechnologie und Leopard-Panzer, die durch industrielle Wälder galoppieren wie mechanisierte Einhörner des Fortschritts. Wer heute sagt, dass Frieden durch Diplomatie gesichert werden könne, gilt als Romantiker. Wer hingegen empfiehlt, den Staatshaushalt zugunsten der Rüstungsindustrie umzugestalten, wird eingeladen, im Bundestag eine Expertenanhörung zu leiten – oder gleich in den Aufsichtsrat von Rheinmetall.

Wir haben gelernt, dass Wohlstand eine Nebenwirkung von Hochrüstung sein kann – wenn auch nicht für alle. Für die Einen bedeutet sie Dividenden, für die Anderen Butterverzicht. Denn wenn das nächste Sozialprogramm eingestampft wird, damit irgendwo in Litauen ein Nato-Depot klimaneutral beheizt werden kann, dann ist das kein Kollateralschaden, sondern geopolitische Vernunft. Wer sich beklagt, dass das Geld für Schulen fehlt, hat eben den Ernst der Lage nicht verstanden. Bildung schützt nicht vor Hyperschallraketen – auch wenn der Gedanke schön wäre. Und während Krankenschwestern mit Applaus bezahlt werden, erhalten Drohnenhersteller staatlich garantierte Abnahmeversprechen. Willkommen in der Realität 2.0.

Abschreckung ist das neue Mitgefühl: Die Moral der Militärs

Selbstverständlich wird das Ganze in moralisch einwandfreier Verpackung geliefert. Niemand spricht vom „Wettrüsten“, sondern von „Abschreckungsfähigkeit“ und „strategischer Resilienz“. Wörter, die klingen wie aus der Managementberatung für aggressive Staaten. Man will ja nicht Krieg führen, man will ihn verhindern – mit möglichst vielen Waffen. Je mehr Panzer wir haben, so die neue Dialektik der Sicherheit, desto weniger müssen wir sie einsetzen. Ein logischer Fehlschluss, der in etwa so klingt wie: Je mehr Atommüll wir produzieren, desto sauberer wird die Umwelt – denn wir strahlen ja nur präventiv.

Die europäische Öffentlichkeit wird unterdessen konditioniert, als ginge es um ein neues Fitnessprogramm: Die Wehrhaftigkeit muss gestärkt, die Sicherheit trainiert, die Landesverteidigung „mental verankert“ werden. Das klingt dann nach einer Art Yoga für Patrioten. Und wer fragt, ob man nicht auch in Frieden investieren könnte, wird milde belächelt – oder mit ernstem Blick darauf hingewiesen, dass Pazifismus in Zeiten hybrider Bedrohungen naiv sei, wie ein Kind, das sich vor einem Sturm unter einem Regenschirm versteckt.

Satire oder Realität? Man weiß es nicht mehr so genau

Der Umstand, dass europäische Demokratien bereitwillig jene Summen mobilisieren, für die man noch vor fünf Jahren belächelt worden wäre, während sie gleichzeitig um jeden Euro für den Mindestlohn feilschen, ist keine Ironie der Geschichte. Es ist ihre Fortsetzung mit anderen Mitteln – nämlich buchhalterischen. Die Zahlenspiele, die früher dem Sozialetat galten, gelten nun dem Rüstungshaushalt. Man spricht von „langfristiger Investition“, „wirtschaftlicher Dynamisierung“ und „europäischer Souveränität“. Alles sehr vernünftig. Nur fragt sich niemand, wieso europäische Souveränität immer dann als besonders gefährdet gilt, wenn es darum geht, neue Kampfjets zu bestellen – nicht aber, wenn Krankenhäuser schließen.

Wer sich dieser Logik verweigert, steht schnell im Verdacht, „realitätsfern“ oder gar „russlandfreundlich“ zu sein. Denn wie jeder weiß: Kritik an europäischer Hochrüstung ist faktisch Beihilfe zur Destabilisierung. In einem Klima, in dem Satire kaum noch als solche erkannt wird, weil die Realität sie längst überholt hat, bleibt nur die Flucht nach vorn – ins Absurde. Man stelle sich eine Talkshow vor, in der Verteidigungspolitiker fordern, Panzer möge man künftig CO₂-neutral konstruieren, um beim Töten wenigstens das Klima zu schonen. Oh, Moment. Die gibt es ja bereits.

Fazit: Der Frieden ist nicht tot – er riecht nur etwas nach Schmieröl

Europa rüstet auf – mit Inbrunst, Überzeugung und einer fast obszönen Ernsthaftigkeit, die nur durch gelegentliche Appelle zur „humanitären Dimension der Verteidigungspolitik“ gebrochen wird. Die Tatsache, dass all dies in Demokratien geschieht, ist kein Trost, sondern Teil des Problems. Denn Demokratie bedeutet nicht automatisch Weisheit – manchmal bedeutet sie auch: Zustimmung zur kollektiven Angstverwertung. Und Angst ist ein verdammt guter Ratgeber, wenn man Panzer verkaufen will.

Wir sollten uns also wirklich überlegen, ob wir in einem Europa leben wollen, das seine Vorstellung von Sicherheit aus dem Pentagon bezieht, seinen Sozialstaat opfert, um Raketenabwehr zu kaufen, und glaubt, Frieden sei etwas, das man mit genügend Kaliber sichern kann. Vielleicht ist es noch nicht zu spät, sich zu erinnern: Dass Sicherheit nicht nur eine Frage der Rüstung ist – sondern auch der Gerechtigkeit. Und der Vernunft.

Aber Vernunft ist bekanntlich nicht wehrfähig.

Die wortlose Zivilisation

Wie die Finnen das Schweigen zur höchsten Form der Kommunikation erhoben

In einer Welt, die sich selbst in belanglosen Floskeln ersäuft, die das Schweigen für ein soziales Vergehen hält und jede Lücke im Gesprächsfluss sofort mit sprachlichem Verpackungsmüll stopft wie ein hysterischer Gastgeber, der fürchtet, seine Gäste könnten den Mangel an Canapés für einen Angriff auf ihre Menschenwürde halten, gibt es ein kleines, widerspenstiges Volk im Norden Europas, das mit stoischer Beharrlichkeit seine kollektive Sprachverweigerung kultiviert hat: die Finnen. Ja, jene stillen Titanen der Zurückhaltung, die mit der Seelenruhe eines zugefrorenen Sees jede Form des Small Talks in Grund und Boden schweigen – nicht aus Verachtung, sondern aus einer viel subtileren, viel raffinierteren Form der Ablehnung: vollkommener Gleichgültigkeit. Es ist ein kulturelles Statement, ein nonverbales Manifest, ein heroisches Plädoyer für die stille Würde des menschlichen Daseins, und, seien wir ehrlich, ein gewaltiger Mittelfinger an all die schwatzenden Gesellschaften da draußen, die glauben, Kommunikation beginne mit dem Wetter und ende mit dem Fußballergebnis von gestern.

Denn was ist Small Talk anderes als die sprachliche Version von Instantkaffee? Schnell gemacht, geschmacklos, aber irgendwie notwendig, weil man sonst nicht weiß, wohin mit sich. Während der Durchschnittseuropäer mit einer fast pathologischen Energie belanglose Gespräche darüber führt, wie „die Temperaturen dieses Jahr aber wirklich verrückt spielen“ oder dass „der Bus heute schon wieder zu spät war“, sitzen die Finnen da wie die letzten Überlebenden einer stoischen Philosophie, die nie aufgeschrieben wurde, weil: Warum schreiben, wenn man schweigen kann? Ihre Sprache kennt kein Wort für Small Talk – und das ist kein Versäumnis, sondern ein Sieg. Während andere Völker noch damit beschäftigt sind, Wörter für neue Emojis zu erfinden, lehnen die Finnen bereits grundsätzlich die Notwendigkeit ab, über Dinge zu sprechen, die keinen Erkenntnisgewinn bringen.

Wenn Schweigen Gold ist, dann sind die Finnen Multimillionäre der Zwischenmenschlichkeit

Natürlich, der Durchschnittstourist – sagen wir, ein Deutscher mittleren Alters, der glaubt, dass gute Kommunikation darin besteht, jede Begegnung mit einem enthusiastischen „Na, auch hier?“ einzuleiten – wird an einem finnischen Esstisch vermutlich einen nervösen Zusammenbruch erleiden. Es ist ein bestürzendes Erlebnis, zum ersten Mal in einer Gruppe Finnen zu sitzen, die kollektiv beschlossen hat, nicht zu sprechen. Kein peinliches Schweigen. Kein betretenes Hüsteln. Kein Zwang, die Leere mit dem akustischen Äquivalent von Schaumstoff zu füllen. Nur pure, konzentrierte, fast meditative Ruhe, so dicht, dass man sie schneiden könnte – wenn man denn das Bedürfnis hätte, aber genau das hat man nicht. Denn nach dem ersten Schock erkennt man: Das Schweigen ist nicht leer. Es ist voll. Voller Gedanken, voller Respekt, voller Raum zum Atmen. Es ist die Demokratisierung der Kommunikation: Jeder darf denken, niemand muss reden.

Es ist eine Stille, die so mächtig ist, dass sie einem die eigene Geschwätzigkeit wie ein schmutziges Laster vorkommen lässt. Als hätte man sein ganzes Leben im permanenten akustischen Auswurfmodus gelebt und erst jetzt begriffen, dass der Mensch nicht geschaffen ist, um pausenlos zu senden, sondern vor allem, um zu empfangen. Die Finnen haben das begriffen. Sie haben nicht nur den Small Talk abgeschafft, sondern ihn regelrecht verachtet, ohne ihn jemals aktiv bekämpfen zu müssen – was, zugegeben, auch daran liegt, dass aktive Bekämpfung wieder eine Form von Überkommunikation wäre. Stattdessen lassen sie ihn einfach versanden in einem kulturellen Niemandsland, wo ihn niemand vermisst.

Gesellschaftliche Eleganz durch Zurückhaltung: Warum kein Gespräch manchmal das beste Gespräch ist

Und genau darin liegt die wahre Ironie: Während westliche Kommunikationsgurus in TED-Talks ihre Nasenhaare darüber philosophieren, wie wichtig „aktive Gesprächsführung“ und „soziale Resonanz“ seien, sitzen in einer Sauna bei Turku drei Männer nebeneinander, nackt wie die Wahrheit, schwitzend wie die Apokalypse – und sagen nichts. Minutenlang. Manchmal stundenlang. Und doch herrscht unter ihnen eine tiefere Verbindung als zwischen zwei Berufsnetworkern auf einem Berliner Start-up-Festival. Denn sie wissen: Wenn du wirklich etwas zu sagen hast, sag es. Wenn nicht – halt die Klappe.

Und da sind wir bei der eigentlichen Stärke der finnischen Gesprächskultur: Sie hat nichts mit sozialer Kälte zu tun, sondern mit intellektueller Hygiene. Die Finnen filtern das Relevante vom Lärm, mit der Akribie eines Bibliothekars, der jede Floskel wie ein beschädigtes Buch zurückweist. In einer Welt, in der schon das Teilen von Gedanken ein öffentliches Event geworden ist, verteidigen sie ihr Recht auf gedankliche Privatheit wie einen Schatz. Während anderswo Menschen in Panik geraten, wenn fünf Sekunden Stille im Zoom-Call entstehen, nutzen die Finnen diese Zeit, um nachzudenken. Und das Ergebnis ist nicht selten: ein präziser, klarer, durchdachter Satz – das kommunikative Äquivalent zu einem perfekt geschliffenen Diamanten.

Der stille Affront: Warum finnisches Schweigen die westliche Kommunikationsideologie sprengt

Für Außenstehende mag dieses kollektive Verstummen manchmal wirken wie ein Angriff auf die Gesprächsgrundlagen der Zivilisation. Ist nicht Reden die Grundlage menschlichen Zusammenlebens? Ist Schweigen nicht ein Zeichen von Misstrauen oder Desinteresse? Mitnichten. In Finnland ist das Gegenteil der Fall: Wer schweigt, vertraut darauf, dass der andere schweigen kann, ohne sich zurückgewiesen zu fühlen. Es ist eine radikale Umkehrung der westlichen Ideale – kein Reden als Ausdruck von Intimität. Keine Worte als Zeichen maximaler Nähe.

Das Schweigen ist hier kein Vakuum, sondern ein Zustand. Eine Form der Präsenz, die nicht durch Wörter verdünnt wird. Und vielleicht, nur vielleicht, ist es genau das, was uns fehlt in einer Welt, die sich selbst im Geschwätz verliert. Vielleicht sollten wir uns nicht fragen, wie wir mehr miteinander reden können – sondern warum wir das überhaupt ständig tun müssen. Vielleicht liegt die Zukunft nicht im besseren Gespräch, sondern im besseren Schweigen. In einem Schweigen, das nicht leer ist, sondern bereit.


Wenn Sie also das nächste Mal in Helsinki an einem Esstisch sitzen und niemand mit Ihnen spricht – dann seien Sie stolz. Sie wurden akzeptiert. Sie sind angekommen. Und wenn Sie sich unbeholfen fühlen, weil niemand über das Wetter redet – dann denken Sie daran: Es ist in Ordnung. Es ist sogar großartig. Denn vielleicht ist die höchste Form menschlicher Reife nicht das Gespräch – sondern das Wissen, wann man es nicht führen muss.

Wenn Menschenrechte auf Terrorstaaten treffen

Von der westlichen Doppelmoral, der Feigheit vor klarer Sprache und der bitteren Notwendigkeit, Unrecht auch Unrecht zu nennen

Ja, es gibt ein Völkerrecht. Ja, es gibt ein Kriegsrecht. Und ja – es gibt vor allem eines: Menschenrechte. Keine diplomatisch auslegbaren Formalien, keine kulturell verhandelbaren Traditionen. Menschenrechte sind unteilbar. Punkt. Wer dieses Fundament verlässt, verlässt nicht nur die Sphäre der Zivilisation, sondern stellt sich aktiv gegen sie. Und damit beginnt eine Debatte, die sich nicht länger hinter Multilateralismus und moralischer Äquidistanz verstecken darf – denn wer Freiheit und Würde wirklich verteidigt, darf zu bestimmten Formen der Gewalt nicht schweigen.

Es gibt auf diesem Planeten Staaten, die in ihrer gesamten Struktur, ihrer Verfasstheit und ideologischen Ausrichtung eine radikale Absage an genau diese Menschenrechte sind. Regime, die sich nicht nur durch die alltägliche Unterdrückung ihrer Bevölkerung definieren, sondern ihr ideologisches Fundament auf dem Hass gegen andere aufbauen – nicht zuletzt auf der Auslöschung Israels, des einzigen jüdischen Staates der Welt und gleichzeitig der einzigen stabilen Demokratie im Nahen Osten. Wer das immer noch als „komplex“ oder „vielschichtig“ relativiert, hat sich längst auf die Seite der Komplizen begeben.

Von Symbolpolitik zu blankem Terror

Wir reden hier nicht von politischen Differenzen oder kulturellen Spannungen. Wir reden von einem religiös-ideologischen System, das Frauen zu Tode prügelt, weil ihnen ein Kopftuch verrutscht. Das homosexuelle Menschen öffentlich an Baukränen erhängt. Das Kritiker in Schauprozessen verurteilt, foltert und verschwinden lässt. Dessen „Revolutionsgarden“ mit gutem Grund auf Terrorlisten westlicher Staaten stehen, weil sie seit Jahrzehnten Auftragsmorde, Sprengstoffattentate und Milizen finanzieren – nicht nur in der Region, sondern weltweit.

Dieses Regime nutzt Gewalt nicht als Mittel, sondern als Selbstzweck. Es ist kein Staat mit autoritären Zügen – es ist eine strukturierte Herrschaftsform des permanenten Ausnahmezustands. Die Islamische Republik Iran ist kein „Staat wie jeder andere“, sondern ein totalitärer Machtapparat, der alle Institutionen – Militär, Justiz, Medien, Wirtschaft – auf die systematische Unterdrückung der eigenen Bevölkerung und die Expansion seiner Ideologie ausrichtet. Seine „Revolutionsgarden“ sind nicht nur eine Art Geheimpolizei. Sie sind Terrortruppe, Sittenwächter, Großunternehmer und Schattenregierung in einem. Man kann diese Formation, bei aller historischen Vorsicht, mit der SS vergleichen – nicht, weil alles gleich ist, sondern weil die Mechanismen der Einschüchterung, der Kontrolle, der Gewaltanwendung und der ideologischen Disziplinierung strukturell ähnlich funktionieren.

Die rote Linie ist längst überschritten

Wer angesichts dessen immer noch ernsthaft davon spricht, dass man „alle Seiten verstehen“ müsse, betreibt eine gefährliche Form der moralischen Neutralität. Denn das ist keine Grauzone mehr. Das ist Schwarz und Weiß. Wer sich über tote Zivilisten empört, aber bei systematischer staatlicher Lynchjustiz den Mund hält, betreibt nicht Menschenrechtspolitik, sondern Meinungsgymnastik.

Und ja: Es ist legitim – moralisch wie völkerrechtlich – sich gegen ein Regime zur Wehr zu setzen, das nicht nur das Existenzrecht eines anderen Staates leugnet, sondern aktiv daran arbeitet, diesen Staat zu zerstören. Ein Regime, das Raketen auf Zivilisten abfeuert, Terrorgruppen finanziert und seine Bevölkerung als menschliche Schutzschilde missbraucht, muss, im Ernstfall, militärisch gestoppt werden. Auch das ist Menschenrechtspolitik – nämlich dort, wo die internationale Gemeinschaft ihren Schutzauftrag ernst nimmt.

Zynismus? Nein. Notwendigkeit.

Natürlich klingt das hart. Natürlich will niemand Bomben. Aber in einer Welt, in der man sich täglich entscheiden muss, ob man die Täter schont oder die Opfer schützt, ist Schweigen eine Parteinahme – und zwar die falsche. Das bedeutet nicht, dass man leichtfertig Kriege führen soll. Es bedeutet: Wenn alle zivilen Mittel ausgeschöpft sind, wenn das Unrecht sich nicht reformieren lässt, sondern aus seiner Natur heraus auf Zerstörung ausgerichtet ist – dann gehört es gestoppt. Notfalls mit Waffengewalt.

Wer das zynisch findet, hat wahrscheinlich noch nie mit einer Frau gesprochen, die nach ihrer Verhaftung in Teheran vergewaltigt wurde, um sie zu „läutern“. Wer das polemisch nennt, war nie in den Kellern von Evin. Wer das einseitig nennt, hat den Begriff der Menschenrechte nicht verstanden.

Klartext ist keine Hetze. Er ist überfällig.

Es geht nicht um Kulturkampf. Es geht nicht um Islamfeindlichkeit. Es geht um ein Regime, das seine Religion als Werkzeug der Versklavung missbraucht und das Völkerrecht mit Füßen tritt. Wer das nicht mehr auszusprechen wagt, weil es unbequem ist, hat sich längst von der Realität verabschiedet – und von der Verantwortung, die mit Freiheit einhergeht.

Wir brauchen keine Appeasement-Politik im Namen falsch verstandener Diplomatie. Wir brauchen eine neue Ehrlichkeit: Wer Menschenrechte ernst nimmt, darf auf staatlich organisierten Terror nicht mit Floskeln antworten – sondern mit Konsequenz.

Die Magie der leeren Kassen

Es gehört zu den intellektuellen Kabinettstückchen spätmoderner Politik, aus Nichts etwas zu machen – oder genauer: so zu tun, als sei dieses Nichts etwas, und zwar etwas Gutes. So wird ein Fonds ohne Geld nicht als das entlarvt, was er ist – ein kalter Witz auf Kosten der Bedürftigen –, sondern als „innovatives Instrument zur Armutsbekämpfung“ bejubelt. Welch semantische Artistik! Das ist, als würde man ein Feuer löschen wollen, indem man begeistert über Wassereimer philosophiert, die irgendwo in der Zukunft aufgestellt werden könnten – allerdings leer. Und mit einem großen Loch im Boden. In dieser hohlen Rhetorik spiegelt sich das Credo unserer Zeit: Hauptsache, es sieht nach etwas aus. Dass es funktioniert, ist sekundär – sofern überhaupt relevant. Denn der politische Applaus wird nicht für Ergebnisse vergeben, sondern für die Inszenierung von Absicht.

Verantwortungslosigkeit mit humanitärem Anstrich

Der Staat, dieser einstige Garant sozialer Teilhabe, zieht sich zurück wie ein schlecht gelaunter Gastgeber auf einer Party, die er nie wirklich geben wollte. Stattdessen lässt er Zivilgesellschaft und Spender:innen tanzen, während er am Rand steht und betont verständnisvoll nickt. „Solidarität muss aus der Mitte der Gesellschaft kommen“, heißt es dann beschwörend – ein Satz, so abgegriffen wie ein Ein-Cent-Stück im Supermarktfundbüro. Doch was bedeutet das konkret? Dass Almosen die neuen Steuern sind? Dass die Beseitigung von Kinderarmut davon abhängt, ob Tante Gisela diesen Monat eine Fünf-Euro-Dauerüberweisung einrichtet? Wir erleben eine subtile, aber effektive Form neoliberaler Verantwortungsexorzismus: Der Staat simuliert Fürsorge und lädt gleichzeitig die Armen dazu ein, geduldig auf private Milde zu hoffen. Eine postmoderne Form des Bettelns – institutionell aufgehübscht.

Funktionärinnenförderung mit Feigenblatt-Charme

Natürlich fällt bei all dem Getöse auch etwas ab – nur eben nicht für die Armen. Sondern für eine ganz besondere Klasse: die Bürokratie der Wohlmeinenden. In neuen Stabsstellen, Koordinierungszentren und „Kompetenznetzwerken Armut“ entstehen mit großem Eifer Positionen für Menschen, die nicht arm sind, aber sehr gern über Armut sprechen. Es sind die Hohepriesterinnen der strategischen Betroffenheit, ausgestattet mit Gender-Studies-Abschlüssen, Flipcharts und Drittmittelakquise-Talent. Ihre Mission? Nicht, Armut zu beseitigen – das wäre viel zu ambitioniert und würde obendrein die eigene Existenzgrundlage gefährden –, sondern sie zu verwalten, zu analysieren, zu dokumentieren. Die Armut wird so zum Dauergast in PowerPoint-Präsentationen und zum argumentativen Goldesel für ein Milieu, das sich seiner moralischen Überlegenheit so sicher ist wie der Banker seiner Boni. Was bleibt, ist ein perfekt dokumentiertes Elend – und eine neue Förderlinie für das nächste Panel.

Placebo mit Beipackzettel: Nebenwirkungen nicht ausgeschlossen

Die psychologische Funktion solcher Maßnahmen ist nicht zu unterschätzen: Sie sind das Baldrian für das schlechte Gewissen der saturierten Mitte. „Wir tun doch was!“, heißt es beschwichtigend – und damit ist dann auch schon alles gesagt. Der Fonds (ohne Fonds) ist wie ein homöopathisches Mittel gegen systemische Schieflagen: Der Wirkstoff ist nicht nachweisbar, aber der Glaube daran lindert subjektives Unbehagen. Leider lassen sich Mietschulden, Stromsperren oder Lebensmittelknappheit nicht mit Glaubenssätzen heilen. Doch in einer Welt, in der Politik zunehmend an die Logik von PR-Agenturen angepasst wird, zählen nicht Ergebnisse, sondern Erzählungen. Armut wird zur Storyline, zur gefühligen Kulisse für das eigene Gutmenschentum – konsumierbar, gefällig, folgenlos. Wer hingegen nach echter Umverteilung ruft, wird behandelt wie ein unangenehmer Verwandter beim Familienfest: Man hört höflich zu, doch innerlich plant man schon die Flucht.

Was es bräuchte – und was wir stattdessen bekommen

Armut lässt sich nicht mit Empathie-Seminaren oder Stuhlkreisen zur „Lage sozial benachteiligter Gruppen“ bekämpfen. Es braucht Geld. Öffentliche Investitionen. Mut zur klaren Prioritätensetzung. Und die radikale Ehrlichkeit, dass man dabei nicht allen gefallen wird. Doch genau diese Ehrlichkeit fehlt – und mit ihr der politische Wille. Stattdessen ergehen sich Parlamente in euphemistischer Rhetorik, die an die Textbausteine von Imagebroschüren erinnert. „Partizipative Teilhabeprozesse“ – was klingt wie ein Lippenbekenntnis mit Hochschulabschluss, ist oft nur eine Umschreibung für das systematische Überhören der Betroffenen. Denn wer arm ist, soll gefälligst dankbar schweigen – oder sich bestenfalls als authentisches Aushängeschild in einer Förderbroschüre ablichten lassen. Die Inszenierung braucht Gesichter – aber bloß keine Stimme.

Die Zukunft der Armut – gut verwaltet, schlecht bekämpft

So bleibt am Ende die nüchterne Diagnose: Armut ist kein Betriebsunfall, sondern strukturell gewollte Realität in einem System, das lieber Armut managt, als Reichtum zu besteuern. Der Fonds ohne Geld wird so zum Symbol einer Zeit, die mehr Energie darauf verwendet, soziale Missstände zu kaschieren als sie zu beseitigen. Vielleicht werden spätere Generationen diesen Moment rückblickend als das erkennen, was er ist: ein moralisches Armutszeugnis, hübsch gerahmt mit politischen Worthülsen. Und während irgendwo eine weitere Fachstelle für „resiliente Armutsprävention“ eröffnet wird, warten die Betroffenen weiter – auf Hilfe, auf Respekt, auf Gerechtigkeit. Doch immerhin: Die PowerPoint-Präsentationen laufen.

Die Freiheit trägt jetzt Jogginghose

Freiheit war einmal ein stolzes Wort, getragen auf den Schultern von Dichtern, Revolutionären und amerikanischen Präsidenten mit gut frisierten Locken. Heute trägt sie Kapuzenpulli, schielt aufs Smartphone, hasst Werbung und lebt vegan. Sie streamt Serien über dystopische Gesellschaften, in denen alles überwacht wird – und klickt danach ein Cookie-Banner weg, ohne mit der Wimper zu zucken. Freiheit 2025 – das ist nicht mehr das große Pathos der Barrikaden, sondern das kleine Zucken der Zustimmung unter den Nutzungsbedingungen von Meta, während man sich eine App installiert, die einem sagt, wann man atmen darf.

Denn während die Ewigbesorgten immer noch mit argwöhnisch gerunzelter Stirn in die Vergangenheit schielen, als Hitler noch Schnauzbart trug und die Welt in Schwarzweiß zerfiel, merkt keiner, dass heute niemand mehr Bücher verbrennt – sondern sie einfach durch Content ersetzt, der in einem Ozean aus Bequemlichkeit ersäuft. Die neue Zensur? Kein Index, keine Streichung – nur die schiere Bedeutungslosigkeit inmitten algorithmisch ausgekotzter Belanglosigkeiten.

Totalitarismus ist jetzt ein Abo-Modell

Wenn früher der Faschismus im Gleichschritt marschierte, marschiert heute der Neototalitarismus im Laufschritt hinter einem iPhone 17 her. Er hat kein Manifest mehr, sondern eine AGB. Er braucht keine Geheimpolizei, wenn er einen Empfehlungsalgorithmus hat. Er verbietet nicht – er personalisiert. Wer braucht Orwell, wenn er Netflix hat? Die beste Propaganda ist jene, die sich selbst binge-watched.

Wir leben in einer Ära der freiwilligen Knechtschaft, in der man sich über Zensur aufregt, während man TikTok-Filter durchprobiert, die das eigene Gesicht in das eines Einhorns verwandeln. Nichts wird verboten – es wird optimiert. Die Freiheit stirbt nicht an einem Putsch, sondern an einem Software-Update. Niemand verbietet dir, zu denken – aber wenn du es tust, bekommst du keine Likes.

Und wehe dem, der denkt, er sei frei, weil er sich zwischen zehn Sorten Craft-Bier entscheiden kann. Die Wahl zwischen Hefeweizen und Helles ist keine Demokratie. Freiheit ist nicht, ob du vegane oder bio-vegane Mandelmilch trinkst. Freiheit ist, nicht gezwungen zu sein, dazu eine Meinung zu haben.

Cancel Culture, Safe Spaces und andere Wohlfühl-Diktaturen

Früher wurden Dissidenten eingesperrt, heute werden sie entfolgt. Die neue Form der Repression kommt mit einem Regenbogenprofilbild und einer Triggerwarnung. Satire darf alles – außer jemanden verletzen, provozieren oder zum Denken anregen. Freiheit der Rede ist ein schönes Ideal, solange sie nicht die Komfortzone anderer durchbricht – denn was einst Mut zur Wahrheit war, ist heute Mikroaggression.

Die Diktatur 2025 trägt keinen Stahlhelm, sondern ein empathisches Lächeln. Sie kommt nicht mit dem Gewehr, sondern mit dem Anspruch auf Inklusivität. Der neue Totalitarismus will dich nicht brechen – er will dich umarmen. Er will, dass du dich wohlfühlst, in Watte gewickelt und begleitet von emotional validierten Buzzwords. Nur: Wer alle schützt, entmündigt auch alle. Und wer ständig vor Unfreiheit warnt, weil ein Tweet gelöscht wurde, hat offenbar nie erlebt, was wirkliche Repression bedeutet.

Die Gesichter der neuen Unfreiheit

Während der autoritäre Mensch des 20. Jahrhunderts mit Uniform und Gewehr ausstaffiert war, kommt sein Erbe heute aus dem Serverraum und trägt ein ethisch trainiertes Sprachmodell in der Cloud. Die künstliche Intelligenz weiß alles – und versteht nichts. Sie zensiert nicht, sie „moderiert“. Sie löscht nicht, sie „filtert toxisches Verhalten“. Die Maschine meint es nur gut – genau wie ihre Entwickler, die Gerechtigkeit in Codezeilen gießen wollen, während die Hälfte der Welt noch damit kämpft, überhaupt Strom zu haben.

Und währenddessen? Lässt sich der Mensch entmündigen – freiwillig. Wer denkt noch selbst, wenn ein Bot einem schon sagt, was „kontextuell angemessen“ ist? Warum ein Urteil fällen, wenn ein Score für dich entscheidet, ob dein Dating-Profil „vertrauenswürdig“ ist? Die neue Freiheit ist eine mitgelieferte Option – standardmäßig deaktiviert.

Was bleibt von der Freiheit? Ein Meme mit Reichweite

Die Freiheit 2025 hat keine Guillotine zu fürchten – sie stirbt am Fluch der Irrelevanz. Sie wird nicht abgeschafft, sondern unterwandert, zerlegt, trivialisiert, monetarisiert. Sie ist nicht mehr der Aufschrei des Widerstands, sondern ein YouTube-Video mit 3.000 Klicks, ein TikTok-Statement mit Filtergesicht und Hashtag: #resistance.

Und nein – wir sind nicht 1933. Wir haben keine SA auf den Straßen, sondern Content Creator mit Meinungen zu allem und Haltung zu nichts. Die Demokratie wird nicht gestürzt – sie wird zur Reality Show umgebaut. Kandidaten? Influencer. Wahlprogramm? Algorithmisch angepasste Emotionen. Am Ende gewinnt, wer am lautesten schreit – oder wenigstens am besten tanzt.

Freiheit ist kein Vintage-Objekt

Freiheit ist nicht retro. Sie ist kein Museumsstück, das man einmal im Jahr am Tag des Grundgesetzes bestaunt. Sie ist unbequem, fordernd, widersprüchlich – und sie stirbt nicht an Gewalt, sondern an Gleichgültigkeit. Sie braucht keinen Diktator, um unterzugehen – es reicht ein Mensch, der sagt: „Ich hab nichts zu verbergen.“

2025 ist kein neues 1933. Es ist viel subtiler, viel bequemer – und genau deshalb gefährlicher. Der Feind der Freiheit trägt heute keine Uniform mehr. Er trägt ein Lächeln, ein Gerät in der Hand – und klickt auf „Zustimmen“.

Der Messias aus dem Maschinenraum

Wenn einer aus der Tiefe des Gewerkschaftskellers, wo die Neonröhren brummen und das Linoleum die Tränen gescheiterter Tarifverhandlungen aufgesogen hat, aufsteigt in die verstaubte Ehrenloge der sozialdemokratischen Selbstgerechtigkeit, dann hat das schon etwas Erhabenes, beinahe Biblisches: Andi B., der Bürgermeister aus T., der Mann, dessen rhetorisches Arsenal irgendwo zwischen Volkshochschule und Fußballkantine changiert, hat sich erhoben wie ein rot eingefärbter Phoenix aus dem Aschenbecher der Partei. Man kann ihm das fast nicht übelnehmen. Fast. Denn wie so viele, die sich plötzlich als tragische Helden ihrer eigenen Netflix-Serie begreifen, fehlt auch ihm ein entscheidendes Korrektiv: die Erkenntnis der eigenen Begrenztheit. Wo andere zögern, zweifeln, korrigieren, marschiert er – angetrieben von einer Mischung aus Sendungsbewusstsein, verklärtem Klassenkampf und einem unterschätzten Hang zur Selbstüberschätzung – durch Talkshows und Parteitage, als wäre er der letzte aufrechte Sozialist in einer Welt aus neoliberalen Zuckerbäckerfiguren.

Die Inkompetenz der Selbstsicheren

Der Dunning-Kruger-Effekt – dieses herrlich zynische Geschenk aus der psychologischen Forschung, das besagt, dass gerade jene, die am wenigsten wissen, am lautesten verkünden, sie wüssten alles – scheint bei B. nicht nur wirksam zu sein, sondern seine Lieblingsstrategie. Seine Interviews klingen, als hätte man einen Fünftklässler mit einem Che-Guevara-T-Shirt in ein Uniseminar über politische Ökonomie gesetzt: viele große Worte, wenig Substanz, und stets das Gefühl, dass die eigentliche Pointe in einem Revolutionspamphlet aus den 70ern steht. Der Unterschied zwischen Idealismus und Naivität ist schmal, und B. tanzt diesen Drahtseilakt mit einer Selbstsicherheit, die nur jemand haben kann, der nie ernsthaft damit konfrontiert wurde, wie komplex die Welt tatsächlich ist. Seine Behauptung, Marx hätte heute TikTok – ein ungewollt brillanter Einblick in die historische Bildungslücke der Generation Realo-Sozialist – ist sinnbildlich für die intellektuelle Tapferkeit, mit der er gegen Windmühlen kämpft, die längst zu Windrädern mutiert sind.

B.ismus – Die Utopie der Dampfplauderer

Es ist ein Phänomen unserer Zeit, dass gerade jene, die sich als Gegenentwurf zum Establishment stilisieren, die gleiche hohle Rhetorik, das gleiche Selbstlob, die gleiche Rechthaberei kultivieren wie ihre Gegner. B. ist hier keine Ausnahme, sondern Paradebeispiel. Sein „B.ismus“, wie manche seiner Jünger es zärtlich nennen, ist weniger eine politische Richtung als eine performative Dauerempörung, eine Art moralischer Diarrhö, bei der jeder Halbsatz in ein Manifest gegossen wird. Ihm fehlt, was große Politiker einst auszeichnete: Ironie, Maß und die Fähigkeit, eigene Fehler nicht als Verrat, sondern als Chance zur Reflexion zu begreifen. Stattdessen serviert er uns eine dialektisch entkernte Version des Sozialismus, gewürzt mit billigem Pathos und einem verklärten Blick auf eine Arbeiterklasse, die längst E-Scooter fährt und Lieferando nutzt.

Mit dem Herz am linken Rand und dem Kopf in der Wolke

Und doch, bei aller Kritik, liegt in B. auch ein Stück Tragik. Er meint es ja gut. Und das macht es so viel schlimmer. Denn wer gutmeinend ist, aber schlecht informiert, richtet am meisten Schaden an. Die Sozialdemokratie, ohnehin in der Midlife-Crisis ihrer politischen Relevanz, hat mit B. eine Figur geschaffen, die aus den richtigen Gründen das Falsche tut. Sein Hang zu flachen Phrasen über „echte Arbeit“, seine kindliche Begeisterung für Klassenkampfparolen, sein trotziges Pochen auf Werte, die er selbst nicht differenziert durchdringt, all das macht ihn zur Gallionsfigur jener Linken, die lieber in der Vergangenheit schwelgt, als sich der unbequemen Gegenwart zu stellen.

Fazit: Die Tragikomödie eines Funktionärs

Am Ende bleibt B. eine emblematische Figur für eine Zeit, in der moralischer Rigorismus als Ersatz für intellektuelle Tiefe gilt. Er ist kein Scharlatan, kein bewusster Blender. Er ist einfach das, was passiert, wenn Überzeugung ohne Selbstreflexion auf öffentliche Bühne trifft. Der Dunning-Kruger-Effekt ist keine Krankheit – er ist ein Spiegel. Und in diesem Spiegel sehen wir nicht nur B., sondern auch uns: wie wir klatschen, wenn jemand laut ist, statt klug; wie wir Hoffnung verwechseln mit Kompetenz; wie wir vergessen, dass Politik kein Poetry Slam ist. Andi B. ist das traurige, manchmal amüsante, oft peinliche Symptom einer sozialdemokratischen Selbsttäuschung, die sich lieber in Wohlfühl-Rhetorik ergeht, als sich den Mühen der Ebene zu stellen. Und wenn der Applaus verklungen ist, wird selbst der treueste Genosse merken, dass Lautsein nicht dasselbe ist wie Recht haben.

Neulich im Vizekanzleramt

Oder: Wie Andi Babler lernte, zwischen Kommunikation, Medien und Inhalt zu unterscheiden, ohne sich dabei das Rückgrat zu verrenken

Von der großen Politik und kleinen Sprechblasen

Neulich also im Vizekanzleramt. Nicht, dass man dort regelmäßig verkehren würde – die Türsteher sind streng, die Sprache ist verklausuliert und der Kaffee schmeckt wie die politische Mitte: wässrig, bitter, aber leider alternativlos. Doch diesmal war etwas anders. Eine leichte Unruhe vibrierte durch die Gänge, irgendwo zwischen dem Duft von Bürokaffee und dem säuselnden Rauschen eines Shitstorms, der sich gerade erst auf Twitter zu formieren begann. Denn: Der Babler-Andi war da. Und er wurde – man raune es sich zu – „gecoacht“.

Was genau wurde ihm beigebracht? Oder besser gefragt: Wozu überhaupt ein Coaching? Wurde der Babler nun vorbereitet, aufbereitet, abgerichtet, aufgepeppt oder bloß weichgeklopft? Und worum ging es da eigentlich? Um Inhalte? Um Medien? Um Kommunikation? Oder doch bloß um die Verpackung des Nichts in möglichst wortgewaltige Allgemeinplätze?

Die offizielle Version klang natürlich harmlos: „Strategische Kommunikation“. Das ist Politiksprech für „Wir wissen auch nicht, was wir sagen sollen, aber wir üben es trotzdem“. Doch die Optionen, die sich auftun, sind vielfältig – und allesamt gleich beunruhigend.

Die Medienaufbereitung von Kommunikationsinhalten

Diese Variante klingt auf den ersten Blick wie eine praktische Küchentechnik. Man nehme einen rohen Kommunikationsinhalt – sagen wir: „Wir sind gegen Armut“ – und schäle ihn solange, bis er medienkompatibel ist. Nicht zu kantig, nicht zu weich, keine Kanten, die irgendwo anecken könnten. Dann kommt das Ganze in die Heißluftfritteuse des medialen Diskurses, wo es bei 200 Grad Empörung goldbraun knusprig geröstet wird. Fertig ist der Sager.

Aber Moment: Was ist, wenn der Inhalt selbst gar nicht vorhanden ist? Wenn „Kommunikation“ nur eine Hülle ist, in die man notdürftig irgendetwas hineinstopft, das klingt wie Haltung, aber sich anfühlt wie heißer Dampf? Dann wird aus Medienaufbereitung plötzlich das politische Pendant zur Lebensmittelindustrie: viel Verpackung, wenig Nährwert, aber Hauptsache, das Etikett ist bunt.

Babler, der Mann, der einst den Klassenkampf mit dem Feuereifer eines Turnlehrers verkündete, wird hier zum Testobjekt postideologischer Werberhetorik. Aus dem „Kapitalismus ist schuld“ wird „Wir müssen den Menschen wieder zuhören“. Kommunikativer Leberkäse, in veganem Design.

Die Kommunikationsaufbereitung von Medieninhalten

Oder war es vielleicht umgekehrt? Wurde Babler etwa darin geschult, wie man Medieninhalte kommuniziert? Also: Wie man reagiert, wenn wieder einmal ein Interview schiefgeht, ein Facebook-Post viral geht oder ein ORF-Moderator es wagt, eine echte Frage zu stellen?

Hier geht es nicht mehr um Inhalte, sondern um Schadensbegrenzung. Um jene hohe Kunst der Schein-Reflexion, bei der man auf Kritik nicht mit Argumenten, sondern mit einem „Ich verstehe die Sorge der Menschen“ reagiert – einer semantischen Rauchgranate, die jedes Gespräch in Nebel hüllt.

Kommunikationsaufbereitung in diesem Sinne heißt: Nicht reden, um etwas zu sagen, sondern reden, um nichts falsch zu machen. Das klingt banal, ist aber die Essenz moderner PR-Strategien: Risikovermeidung als Weltanschauung. Das revolutionäre Pathos wird ersetzt durch „eine konstruktive Gesprächsbasis“. Die Faust wird zur flachen Hand, bereit für das nächste Versöhnungsfoto.

Die Medienvorbereitung von Kommunikationsinhalten

Ah, das klingt noch technokratischer. Fast schon wie ein Unterkapitel aus einem geheimen Regierungs-Styleguide: „Wie gestalte ich einen Tweet, der aussieht wie eine Pressemitteilung, aber klingt wie eine Einladung zum Heurigen?“ Medienvorbereitung ist die Kunst, einen Satz so zu bauen, dass er in jedes Format passt: als Inseratenzitat, als Tickertext, als Fernseheinblendung.

Und so lernt auch der Babler-Andy: Niemals einen Satz sagen, der länger ist als ein Werbespot. Keine Pointe, die sich nicht in maximal 12 Sekunden erklären lässt. Keine Ideologie, die man nicht zur Not auch als „Narrativ“ verkaufen kann.

Früher hätte man so etwas „Propaganda“ genannt, aber heute ist es „Message Discipline“. Und statt „Parteilinie“ sagt man „strategische Kommunikation“. Klingt besser. Meint dasselbe.

Die Kommunikationsvorbereitung von Medieninhalten

Hier wird es endgültig kafkaesk. Kommunikationsvorbereitung von Medieninhalten – das ist wie eine Gebrauchsanweisung für den Spiegel, bevor man hineinschaut. Man trainiert den Babler auf das Echo, das seine Worte vielleicht erzeugen könnten, wenn sie denn jemand ernst nehmen würde.

Man coacht ihn also nicht für das, was ist, sondern für das, was sein könnte, wenn man es nur klug genug simuliert. Medien als Möglichkeitsraum, Kommunikation als Versuchsanordnung. So wird aus dem Vizekanzleramt ein Theaterlabor der postfaktischen Rhetorik.

Und am Ende?

Am Ende steht da ein Andi Babler, der aussieht wie ein Mann mit Überzeugungen, aber spricht wie ein Formularfeld. Der das Wort „sozial“ häufiger sagt als „Mensch“, aber dennoch keiner weiß, ob er tatsächlich mit irgendwem reden will. Der „Kanzler kann ich auch“ denkt, aber dabei klingt wie ein automatischer Anrufbeantworter, der seine eigenen Inhalte nicht mehr versteht.

Denn das Coaching hat gewirkt. Er kommuniziert. Er mediert. Er verarbeitet. Und niemand weiß mehr, wovon eigentlich.

Und irgendwo in der Parteizentrale wird zufrieden genickt. Mission accomplished.

Wäre da nicht diese leise, boshafte Stimme in uns, die flüstert: Vielleicht sollte man lieber mal wieder Politik aufbereiten – nicht Kommunikation. Aber das, so heißt es, sei „nicht vermittelbar“.

Vom Exil zum Exzess

Die Verantwortung des Westens für das Regime der Mullahs im Iran

Prolog des Vergessens: Die Geburt eines Ungeheuers unter westlicher Aufsicht

Der 1. Februar 1979 war kein Tag wie jeder andere. An diesem Morgen landete ein alter Mann mit strengem Blick, schwarzem Turban und einer Aura messianischer Entschlossenheit auf dem Flughafen Teheran. Sein Name: Ayatollah Ruhollah Khomeini. Seine Herkunft an diesem Tag: Paris. Sein Ziel: die Macht. Seine Methode: eine Revolution, orchestriert aus dem Exil – und flankiert von einem Westen, der lieber zusah, statt zu verstehen. Was folgte, war keine Befreiung, sondern die Einsetzung einer religiösen Diktatur. Und wer glaubt, dass dieses Regime den authentischen Willen des persischen Volkes ausdrückt, verwechselt Ursache und Wirkung.

Denn das islamistische Mullah-Regime, das sich seither im Iran etabliert hat, war weder der unausweichliche Ausdruck eines „islamischen Erwachens“ noch ein rein inneriranischer Prozess. Es war – und das muss in aller Deutlichkeit gesagt werden – auch ein Ergebnis westlicher Kurzsichtigkeit, strategischer Selbsttäuschung und geopolitischer Interessenpolitik. Es war die Geburt eines Monsters unter westlicher Aufsicht.

Vom Schah zur Schande: Wie der Westen erst unterstützte und dann fallen ließ

Die Geschichte beginnt nicht mit Khomeini, sondern mit einem anderen entscheidenden westlichen Eingriff: dem Putsch von 1953. Damals stürzten amerikanische und britische Geheimdienste (CIA und MI6) den demokratisch gewählten Premierminister Mohammad Mossadegh, der es gewagt hatte, die iranische Erdölindustrie zu verstaatlichen. Das war schlecht fürs Empire und schlecht fürs Business – also musste er weg. An seine Stelle wurde der Schah Mohammad Reza Pahlavi mit eiserner Unterstützung der USA wieder eingesetzt. Die Botschaft war klar: Demokratische Selbstbestimmung wird toleriert – solange sie westliche Interessen nicht stört.

Das Schah-Regime entwickelte sich zu einer modernisierenden, aber zunehmend autokratischen Herrschaft, die innenpolitisch durch Unterdrückung, Geheimdienste (SAVAK) und ein Bündnis aus Eliten und Monarchie geprägt war. Der Westen sah zu – oder besser: profitierte, solange Öl floss, Verträge unterzeichnet wurden und der Iran als Bollwerk gegen den Kommunismus fungierte.

Khomeinis Rückflug aus Paris: Die stille Komplizenschaft Europas

Doch als der Wind der Unzufriedenheit Ende der 1970er über den Iran fegte – getrieben von sozialer Ungleichheit, Repression und kultureller Entfremdung – war es nicht der Westen, der auf Demokratisierung drängte. Stattdessen zog man sich langsam zurück, versuchte, mit allen Optionen zu liebäugeln und ließ ein Vakuum entstehen, das nur darauf wartete, gefüllt zu werden.

Dass ausgerechnet Frankreich Ayatollah Khomeini großzügig Exil bot, war keine historische Randnotiz, sondern ein geopolitisch folgenschwerer Akt. In einem kleinen Vorort südlich von Paris saß der künftige Revolutionsführer, hielt Audienzen ab, ließ revolutionäre Manifeste auf Tonband aufnehmen und koordinierte von dort die Erhebung gegen den Schah. Die westlichen Medien – fasziniert von der romantischen Idee einer „Volksrevolution“ – stilisierten Khomeini zum Heilsbringer. Die Menschen im Iran, von Zensur und politischer Repression geprägt, griffen nach jedem Symbol des Wandels – ohne zu ahnen, dass sie nicht Freiheit, sondern einen neuen Totalitarismus bekommen würden.

Und was tat der Westen? Er ließ Khomeini gewähren. Frankreich verweigerte dem Schah Asyl, hieß Khomeini willkommen. Washington schwankte zwischen Desinteresse und naivem Kalkül, dass man auch mit dem neuen Regime würde verhandeln können. Die Machtübernahme der Mullahs war kein Betriebsunfall – sie war das Ergebnis westlicher Fehleinschätzung, symbolischer Schwäche und moralischer Inkonsequenz.

Ein Gottesstaat als Exportprodukt: Vom Iran zur globalen Destabilisierung

Seit 1979 herrscht im Iran kein frei gewähltes System, sondern ein theokratischer Machtapparat, in dem politische Macht sich über religiöse Legitimität definiert – kontrolliert von einem „Obersten Führer“, der über allem steht: über Gesetzen, über dem Parlament, über dem Volk. Khomeinis Rückkehr war keine Befreiung – sie war der Beginn einer umfassenden Islamisierung des Staates, der Justiz, der Bildung, der Geschlechterrollen. Frauen wurden entrechtet, Andersdenkende verfolgt, ganze Generationen ideologisch umerzogen.

Aber die Tragödie endet nicht an den iranischen Grenzen. Das islamistische Regime exportierte seine Revolution – ideologisch, strategisch, terroristisch. Von der Hisbollah im Libanon bis zu Milizen im Irak, von antisemitischer Rhetorik bis zur Leugnung des Holocaust: Das Mullah-Regime ist kein lokales Phänomen, sondern eine regional und global destabilisierende Kraft. Und es darf nicht vergessen werden: Dieses Regime existiert nicht, weil die Perser es wollten – sondern weil der Westen zu lange zugesehen, zu spät verstanden und zu oft relativiert hat.

Erinnerung gegen das Vergessen: Warum historische Verantwortung heute zählt

Es geht nicht darum, den Westen als alleinigen Schuldigen zu dämonisieren. Aber es geht darum, Verantwortung nicht in der Gegenwart zu beginnen, sondern in der Vergangenheit zu suchen. Der Iran war einst ein Land mit demokratischem Potential, einer weltoffenen Gesellschaft, einer reichen Kultur und intellektuellen Vielfalt. Dass dieses Land heute von einem klerikalen Machtapparat kontrolliert wird, der das eigene Volk unterdrückt und international mit Terror sympathisiert, ist kein unvermeidliches Schicksal – es ist ein historisch mitverschuldetes Ergebnis.

Man kann die Geschichte nicht ungeschehen machen. Aber man kann – und muss – sie erinnern. Der Westen hat nicht nur die Revolution ermöglicht, er hat sie durch Ignoranz, Eigennutz und Symbolpolitik befördert. Wer heute Freiheit für Iranerinnen und Iraner fordert, muss auch den Mut haben, in den eigenen Spiegel zu schauen.

Denn: Niemals vergessen – dass ein terroristisches Mullah-Regime im Iran existiert, hat mit dem Westen zu tun. Nicht, weil das persische Volk es gewollt hätte. Sondern weil es verraten wurde. Von denen, die wussten – und nichts taten.

„Gedanken und Gebete“

Das ritualisierte Verstummen in Satzform

Kaum sind die Sirenen verklungen, kaum ist der Tatort mit Flatterband in behördlicher Pietät eingeschnürt, kaum haben die Fernsehsender ihre Eilmeldungsschleifen mit „Was wir bisher wissen“ und „Hier sehen Sie die ersten Bilder“ gefüttert, da beginnt auch schon das alte Theater. Mit der Präzision eines mittelmäßigen Uhrwerks, das man alle paar Wochen nachstellen muss, setzen die Stimmen der politischen Akteure ein – erst zögerlich betroffen, dann betroffen zögerlich, und schließlich im Kanon leerformelhafter Solidaritätsbekundung. „Unser Mitgefühl gilt den Angehörigen“, murmeln sie, als würden sie es nicht zum hundertsten Mal sagen, als wäre es nicht ein Refrain, den sie wie ein schlechtes Mantra herunterleiern, bei dem der Sinn mit jedem Sprechen weiter verdunstet. Was hier stattfindet, ist kein Mitfühlen, sondern das sprachliche Gegenteil: eine sprachlich perfekt getarnte Form der inneren Emigration.

Es ist, als wären Politikerstatements nach einem Amoklauf das politische Äquivalent zur automatischen Antwortmail: „Ich bin momentan nicht erreichbar, aber mein Gewissen hat eine Benachrichtigung erhalten.“ Es ist alles da – das Betroffenheitskorsett, die unvermeidliche Floskel vom „unfassbaren Geschehen“, die scheinheilige Mahnung zur Besonnenheit, als ob Empörung selbst schon Gewalt wäre, und natürlich, ganz am Ende, der Joker: „Jetzt ist nicht die Zeit für politische Debatten.“ Wann dann, möchte man brüllen, wenn nicht jetzt?

Wenn die Sprache in den Ruhestand geht

Die Politiker, die nun vor Kameras stehen, wirken wie schlecht gecastete Nebenfiguren in einem endlosen Remake einer sehr schlechten Serie. Dieselben Sätze, dieselben Stirnfalten, dieselbe ernste Stimme mit dem feierlichen Timbre eines sonntäglichen Wetterberichts. Man erwartet fast, dass sie beim dritten Satz aus der Rolle fallen, kurz aufblicken und sagen: „Waren Sie eigentlich gestern auch im Tatort überrascht, dass der Kommissar der Mörder war?“ – so wenig hat ihre Rede mit der Wirklichkeit zu tun. Die Sprachhülsen, in die sie ihr vermeintliches Mitgefühl pressen, erinnern mehr an Produktbeschreibungen eines besonders langweiligen Staubsaugers: effektiv, effizient, emotionslos.

Es ist ein rhetorischer Tanz auf dünnem Eis, bei dem niemand zu stolpern scheint – nicht, weil sie so sicher wären, sondern weil sie nie wirklich gegangen sind. Ihre Worte schreiten nicht voran, sie schleichen. Und sie schleichen nicht in die Zukunft, sondern zurück in eine Vergangenheit des Vergessens. Diese Statements sind sprachgewordene Ausweichmanöver, syntaktische Fluchtversuche aus einer Realität, der sie sich politisch längst entzogen haben.

Gedanken, Gebete – und sonst?

Und dann kommt er, der Höhepunkt der Hilflosigkeit, als wäre es ein sakrales Manöver zur Selbstentschuldigung: „Unsere Gedanken und Gebete sind bei den Opfern.“ Ein Satz, der in seiner theologischen Anmaßung von einer solchen Seelenruhe kündet, dass man meinen könnte, er sei eigens dafür erfunden worden, die eigene Untätigkeit zu verklären. Als ob das Gebet im politischen Kontext mehr sei als ein rhetorisches Sedativum für die Öffentlichkeit, als ob ein frommer Gedanke ein Kind reanimieren könnte, das gerade noch von einem Projektil durchsiebt wurde.

Nein, das Gebet ist hier nicht Ausdruck von Glaube, sondern die letzte Bastion der Verantwortungslosigkeit. Ein Gedankenversprechen an ein Publikum, das längst gelernt hat, zwischen Satz und Handlung zu unterscheiden. Denn während der Innenminister noch salbungsvoll – sollte der Täter noch am Leben sein – von „der vollen Härte des Rechtsstaats“ faselt, wird am nächsten Tag im Parlament der Gesetzesantrag zur Verschärfung des Waffenrechts vertagt – aus Rücksicht auf „die aktuell angespannte emotionale Lage“. Ironie ist keine rhetorische Figur mehr. Sie ist politische Praxis.

Die politische Waschmaschine – mit Schleudergang

In den Stunden nach einem Amoklauf mutieren politische Parteien zu PR-Agenturen mit eingebautem Weichzeichner. Die Pressestellen laufen heiß, Textbausteine werden zu Textfassaden gestapelt, und jede Empörung über strukturelles Versagen wird mit dem Argument „nicht instrumentalisieren!“ abgewehrt, als wäre die Debatte über Ursachen bereits ein Missbrauch der Toten. Es ist ein rhetorisches Perpetuum mobile: Der Täter war „psychisch labil“, die Waffen „legal erworben“, die Polizei „schnell vor Ort“, und die Stadt, das Land oder die ganze Gesellschaft „steht unter Schock“. Und während man all das aufzählt, hofft man, dass die Aufmerksamkeitsspanne des Publikums kürzer ist als die Halbwertszeit einer Entrüstung.

Manchmal, in besonders transparenten Momenten, bricht dann doch ein Funken Wahrheit durch: wenn ein Lokalpolitiker in der dritten Talkshow des Abends ins Mikro lallt, man müsse „die sozialen Netzwerke in den Griff bekommen“, während der Täter seine Tatwaffe aus dem heimischen Schrank gezogen hat, den Papa ihm legal überlassen hatte – „zur sportlichen Nutzung“, versteht sich. An diesem Punkt ist die Satire nicht tot. Sie ist einfach zu faul, sich noch aufzuregen.

Der Revolutionssimulator

Wenn westliche Aktivisten Weltpolitik auf Instagram spielen

Man erkennt sie an den palästinensischen Halstüchern, den eilig zurechtgefilterten Selfies vom letzten „Free Palestine“-Marsch und den hochmoralischen Captions, die meist mehr Ausrufezeichen als Argumente enthalten. Es ist eine neue Generation des Engagements, in der man nichts wissen muss, um alles zu fühlen – und zwar sehr laut. Die westliche Aktivistenszene, urban, jung, virtuos im Kuratieren von Empörung, lebt in einem moralischen Paralleluniversum, in dem Grautöne bereits als Verrat gelten. Die Welt ist klar aufgeteilt: Israel = Apartheidstaat, Palästinenser = ewige Opfer. Wer das nicht so sieht, hat entweder „nichts verstanden“ oder „Zionistenpropaganda“ geschluckt, was im Aktivistensprech ungefähr so klingt wie „vom Teufel besessen“.

Die realen Gegebenheiten vor Ort interessieren nicht – es geht um Haltung, um Sichtbarkeit, um die Performanz des Widerstandes. Gaza ist für viele dieser moralisch überakuten Kosmopoliten weniger ein geographischer Ort als ein mythischer Sehnsuchtsraum der eigenen Radikalisierungsfantasien. Dort, im fernen Nahen Osten, kämpfen angeblich Menschen für ihre Freiheit – stellvertretend auch für den westlichen Aktivisten, der sich in Berlin-Neukölln oder in einem veganen Wiener WG-Zimmer mit Bambusvorhängen und „Critical Whiteness“-Lektüre die Nächte um die Ohren schlägt, um empörte Threads zu schreiben. Die Tatsache, dass diese Freiheitskämpfer queere Menschen auf offener Straße von Dächern werfen, Frauen unter Schleierzwang stellen und jegliche Opposition im Keim ersticken, wird dabei elegant übergangen. Ein bisschen Patriarchat, ein bisschen Scharia – wer wird denn so kleinlich sein! Es geht schließlich ums Prinzip!

Der ironische Höhepunkt ist erreicht, wenn diese Aktivisten, die sich in ihrer Freizeit gegen jede Form toxischer Männlichkeit, Gewalt und Autoritarismus aussprechen, ausgerechnet Organisationen wie die Hamas verteidigen – eine Bande reaktionärer, gewalttätiger Gotteskrieger, die von Gendergerechtigkeit etwa so viel halten wie ein Steinzeitmensch von Solarenergie. Aber hey: Dekolonialer Widerstand! Das klingt gut, das klebt gut auf Buttons, das verkauft sich gut auf Podien, auf denen man sich gegenseitig mit einer Mischung aus moralischem Größenwahn und gefährlichem Halbwissen bestärkt.

Die Waffe dieser Szene ist nicht der Diskurs, sondern der Shitstorm. Wer differenziert, wird gecancelt. Wer widerspricht, ist rechts. Wer auf die Fakten hinweist – etwa, dass die Hamas in ihrer Charta die Vernichtung des jüdischen Volkes fordert –, hat „internalisierte Islamophobie“. Der Debattenraum wird zur Echokammer, zur ideologischen Druckkammer, in der jeder Widerspruch als Mikroaggression gilt, jeder Hinweis auf Realität als koloniale Gewalt.

Und wenn dann – alle paar Wochen – wieder Bilder brennender Häuser durch die Feeds rauschen, setzt eine ritualisierte Empörungsperformance ein: Profile werden mit Flaggen bestückt, Linktrees mit Petitionen gefüllt, Hashtags getrommelt wie bei einem digitalen Voodooritual. Doch kaum versiegt der Strom der Aufmerksamkeit, kehrt man zurück zum Brunch, zur Achtsamkeit, zum Yoga mit Mantra – um beim nächsten Raketenhagel wieder lautstark „Ceasefire now!“ zu rufen, ohne auch nur einmal zu fragen, wer da zuerst geschossen hat. Die westliche Aktivistenszene lebt vom Konflikt, aber nicht in ihm – ihr Engagement ist so risikofrei wie ein Netflix-Abo, aber mit deutlich mehr moralischer Selbstgefälligkeit.

Die Moral im Nebel

Wie aus Barbarei Widerstand wird und aus Recht ein Verbrechen

Wenn ein demokratischer Staat – sagen wir: Israel – ein Schiff stoppt, das trotz vorheriger Warnung versucht, eine Blockade zu durchbrechen, und die Passagiere danach freundlich mit Wasser, Brot und einer Rückfahrkarte in ihre jeweiligen Heimatländer verabschiedet, dann schreit man in den klimatisierten Redaktionsstuben Europas auf: „Piraterie! Kidnapping! Ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit!“
Wenn aber eine islamistische Terrororganisation – sagen wir: die Hamas – nachts in Häuser einbricht, Kinder, Frauen und Alte verschleppt, sie in stickigen Tunneln zwischen Sprengfallen und rostigen Kühlschränken monatelang als lebendige Schutzschilde missbraucht, dann ist das: „Ein Akt des Widerstands.“ Widerstand? Gegen wen – die Menschheit?

Willkommen im moralischen Paralleluniversum des postfaktischen Gutmenschentums, wo Realität nur stört, wenn sie nicht ins Weltbild passt.

Die Heuchelei als Lebensform: Eine postmoderne Symphonie in Moll

Man stelle sich vor, der Rot-Kreuz-Konvoi, der Geiseln in Gaza besucht, müsste sich erst mit einem Kalaschnikow-Quiz bei Kerzenlicht beweisen, bevor er zu den eingesperrten Senioren vorgelassen wird. Erste Frage: „Wie heißt der Oberterrorist mit Vornamen?“ Zweite: „Nennen Sie drei Möglichkeiten, wie man ein Baby als Deckung benutzen kann.“ Wer alle drei richtig hat, darf ins Tunnelabteil Nummer 7.
Was für die Weltöffentlichkeit dennoch als mutmaßlicher Teil des „Widerstandes“ durchgeht, wäre in jedem anderen Konflikt ein Fall für den Internationalen Strafgerichtshof – aber wehe, man schlägt das im Zusammenhang mit Palästinensern vor. Dann ist man sofort „islamophob“, „kolonial rassistisch“ oder einfach nur „Teil des Problems“.

Man sollte eigentlich Satire daraus machen, aber die Realität ist schneller. Kafka wäre neidisch – und vermutlich sprachlos.

Kollateralmoral: Wenn Bomben intelligent sind, aber die Debatte dumm bleibt

Die IDF wirft Flugblätter ab, warnt per SMS und Anruf, baut Fluchtkorridore – alles, um Zivilisten zu schonen. Hamas? Baut Tunnel unter Krankenhäusern, feuert Raketen aus Kindergärten. Die Welt? Empört sich über Israel. Die Rakete zählt nicht, wenn sie von einer „unterdrückten“ Hand kommt. Die Bombe schon, wenn sie von einem demokratisch gewählten Parlament genehmigt wurde.
Die moralische Buchhaltung der internationalen Gemeinschaft ist ein bisschen wie Wirecard – nur mit weniger Konsequenz. Hauptsache, das Feindbild bleibt intakt: Der kleine David ist plötzlich ein Goliath mit Atombombe, der sich gefälligst nicht gegen Steinschleudern und Tunnelkrieger wehren darf.

Die Ästhetik der Täterverklärung

Nichts liebt der europäische Intellektuelle mehr als einen bewaffneten Unterdrückten, vorausgesetzt, er ist weit genug weg und trägt ein Kopftuch. Am besten eines mit Symbolwert. Die Kalaschnikow wird dann zur Feder der Entrechteten, der Sprengstoffgürtel zum Notizbuch der Geschichte.
Dabei müsste man nur einmal – ganz mutig – die Parolen der Hamas auf Englisch übersetzen und in einem Berliner Seminar für Postkoloniale Literatur verlesen. Spätestens beim Aufruf zur Vernichtung aller Juden würde selbst der dekonstruktivistischste Derrida-Jünger rot werden. Und das nicht aus Scham, sondern aus Irritation über die sprachliche Direktheit. Ironie ist hier keine Strategie, sondern fehl am Platz.

Die Geisel als PR-Gimmick

Die Entführung Unschuldiger wird im Hamas-Narrativ zur Trophäe. Im internationalen Diskurs aber leider auch. Sobald eine Geisel mit schwerem Trauma freikommt, beginnt das Wettrennen der Relativierung: War sie wirklich so schlimm behandelt worden? Gab es vielleicht Gemüse zu essen? Durfte sie lesen? War der Tunnel wenigstens gut belüftet?
Diese Fragen werden mit einem dermaßen perversen Unterton gestellt, dass man glauben könnte, die Tunnel seien Spa-Anlagen mit eingeschränkter Lichtversorgung. Dass es sich um ein brutales Menschenschinderregime handelt, das seine eigene Bevölkerung als Ressource missbraucht, bleibt lieber unausgesprochen. Das würde die feine Balance der westlichen Empörungsethik stören.

Die verkehrte Welt ist kein Ort, sondern ein Zustand

Man kann nicht auf der einen Seite verlangen, dass sich Israel wie ein Schweizer Uhrwerk an jedes moralische Detail hält, während man auf der anderen Seite die Hamas behandelt wie eine wilde Naturgewalt, die halt tut, was Naturgewalten tun: töten, zerstören, entführen.
Doch wer einem Akteur alle Verantwortung abspricht, spricht ihm letztlich auch die Menschlichkeit ab – und damit auch jede Hoffnung auf Wandel. Vielleicht ist das die bitterste Pointe der ganzen Geschichte: dass ausgerechnet jene, die am lautesten „Menschlichkeit!“ fordern, sie dort am wenigsten erwarten, wo sie am nötigsten wäre.