Zwischen Sandale und Kulturkrieg

Wie ein Fußbekleidungsstück das Weltgeschehen erschüttert

In einer Welt, in der jedes Körnchen Sand auf einem tropischen Strand zur kulturellen Aneignung erklärt werden kann, erlebt die westliche Zivilisation aktuell ihre nächste moralische Erdbebenstufe: die Adidas-Sandale „Chavarria Oaxaca Slip On“. Man muss fast dankbar sein, dass der Erdball nicht komplett unter den Anforderungen einer immer feinfühligeren Empörungsgesellschaft zittert. Denn was haben wir nicht schon alles erlebt? Von der biblischen Kopftuchdebatte über die verbotene Verwendung von bestimmten Mustern bis hin zur kulturellen Übergriffigkeit von Pizza mit Ananas. Und jetzt? Ein flechtgewebtes Fußgewand aus dem südmexikanischen Oaxaca, entworfen von einem US-Designer mit mexikanischen Wurzeln und auf den Straßen der Welt vertrieben von Adidas – dem Titanen der Sportschuhe – soll als Symbol kolonialer Aneignung herhalten.

Man stelle sich vor: Eine Sandale, mehr als nur ein Fußschutz, wird zum Prüfstein für Fragen von Identität, Eigentum und historischer Schuld. Dass sich ein Designer – dessen Namen wir uns merken sollten: Willy Chavarria – öffentlich entschuldigt, weil er ein Muster, das seit Jahrhunderten von einer Gemeinschaft in Hidalgo Yalalag genutzt wird, „nicht in direkter und bedeutsamer Zusammenarbeit“ adaptiert hat, klingt fast wie eine neue Form der Selbstkasteiung. Nein, keine Sorge, hier geht es nicht um koloniale Eroberungen, Umsiedlungen oder gar Landraub, sondern um „kollektives geistiges Eigentum“ an einer Fußbekleidung.

Vom Flechtwerk zur Folklore: Die musealisierte Kultur und der Anspruch auf Authentizität

Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier ein modernes Museum der Kulturkritik eröffnet wurde, in dem jede kreative Aneignung ein Diebstahl, jede Inspiration ein Verbrechen ist. Das traditionelle Muster aus Oaxaca wird zum unverrückbaren, heiligen Artefakt stilisiert, dessen Anfassen schon der blasphemischen Sünde gleichkommt. Dass Adidas, eine der größten Firmen der Welt, sich nun vor Gericht für ein Flechtmuster rechtfertigen soll, zeigt, wie absurd das Terrain geworden ist, auf dem wir unsere kulturellen Debatten austragen.

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Gleichzeitig erhebt sich die Frage, was eigentlich „kulturelle Aneignung“ heute bedeutet: Ist es ein legitimes Mittel zur Bewahrung und Wertschätzung von Traditionen, oder eine ideologische Waffe, um kulturelle Grenzen so eng zu ziehen, dass man sich nur noch im luftleeren Raum der Identitätspolitik bewegen kann? Denn mal ehrlich, wenn das Tragen einer Sandale mit Muster so gefährlich ist, dass Präsidentin Claudia Sheinbaum persönlich die „Entschädigung“ fordert, was bleibt dann noch für das tägliche Zusammenleben? Sollten wir nicht alle in Textilien schlüpfen, die von unseren unmittelbaren Vorfahren handgefertigt wurden? Oder vielleicht nur noch nackt herumlaufen, um ja keine kulturelle Linie zu überschreiten?

Das Paradox der Identität: Wenn Herkunft zum Haftungsgrund wird

Der Fall Chavarria/Oaxaca ist symptomatisch für ein tieferliegendes Problem der heutigen Kulturpolitik: Wie viel Identität darf ein Mensch besitzen, wenn er mehrere kulturelle Wurzeln in sich trägt? Willy Chavarria, selbst mexikanischer Abstammung, wird zum Buhmann, weil er eine Tradition seiner eigenen Herkunft vermeintlich missachtet hat. So schließt sich der Kreis der absurden Prügelstrafe für kulturelle Vielfalt, die sich heute gerne als progressiver Schutzmantel verkauft.

Und hier liegt die Ironie der Ironien: Gerade die Hybridität, die Kultur als lebendiges Geflecht prägt, wird zum Verhängnis. Weil jemand in einem globalisierten, multikulturellen Kontext agiert, wird er durch den Moralkompass der kulturellen Aneignung auf der Stelle festgenagelt. Kein Platz mehr für Austausch, für Inspiration, für Entwicklung. Stattdessen eine starre, museale Inszenierung, in der jedes Muster, jedes Motiv nur dem „ursprünglichen Volk“ zusteht – als ob Kulturen jemals etwas anderes gewesen wären als fließende, sich transformierende Prozesse.

Das letzte Gefecht der Sandale: Zwischen Kommerz, Kultur und Kollektivschuld

Was folgt aus dem Fall? Adidas wird den Verkauf einstellen, die Huaraches aus Oaxaca feiern einen moralischen Sieg – und die kollektive Empörung wächst weiter. Die Sandale wird zum Symbol einer postmodernen Angstgesellschaft, die in der Suche nach Sündenböcken und symbolischen Tatbeständen den Blick auf das Wesentliche verliert. Die Frage, wie man als Gesellschaft produktiv mit kultureller Diversität und Inspiration umgehen kann, wird zugunsten eines puristischen Anspruchs geopfert, der in Wahrheit niemandem dient.

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Vielleicht ist die „Chavarria Oaxaca Slip On“ am Ende nur das Fußabdruck-Äquivalent einer Postmoderne, die so sehr Angst vor Aneignung hat, dass sie selbst die Luft zum Atmen für kulturellen Austausch nimmt. Ein trauriges Spiel, bei dem am Ende nicht mehr Kreativität, sondern Angst, Misstrauen und ritualisierte Empörung den Ton angeben. Und die Sandale? Die bleibt barfuß zurück, überfordert von der Last ihrer eigenen Symbolik.

Fazit: Zwischen verbissener Selbstgerechtigkeit und der Sehnsucht nach authentischer Identität gerät die kulturelle Aneignung schnell zur absurden Zerreißprobe unserer Gesellschaft. Vielleicht sollten wir einfach öfter barfuß gehen – und den Fußabdruck, den wir hinterlassen, nicht zu hoch hängen.

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