Zwischen normativer Verheißung und institutioneller Realität

Kriterien staatlicher Legitimität im freiheitlich-demokratischen Verfassungsstaat

Einleitung: Die Dialektik der Demokratie – Anspruch und Gefährdung zugleich

Die freiheitlich-demokratische Grundordnung ist in der Geschichte der politischen Ideen nicht lediglich ein historisches Artefakt, sondern das Ergebnis einer langen dialektischen Auseinandersetzung zwischen Herrschaft und Freiheit, Ordnung und Partizipation, Staat und Bürger. In Zeiten wachsender politischer Polarisierung, ideologischer Entgrenzung und medialer Fragmentierung wird das Etikett „freiheitlich-demokratisch“ zu einem Gütesiegel, das mehr denn je einer kritischen Überprüfung bedarf. Die Frage, wie sich eine Regierung „gesichert freiheitlich-demokratisch“ verhalten müsste – und was sie unter keinen Umständen tun dürfte –, ist somit nicht nur eine Frage normativer Ethik, sondern berührt den Kern politischer Legitimation. Denn nicht jede Regierung, die sich durch Wahlen an die Macht bringt, verdient automatisch dieses Prädikat. Zwischen formaler Demokratie und gelebter Freiheit klafft bisweilen ein Abgrund, den es politikwissenschaftlich zu vermessen gilt.

I. Der normative Rahmen: Was meint „freiheitlich-demokratisch“?

Der Begriff „freiheitlich-demokratische Grundordnung“ (FDGO) geht in seiner kodifizierten Form auf das Bundesverfassungsgericht zurück und umfasst jene zentralen Prinzipien, ohne die eine Demokratie nicht existenzfähig ist: Menschenwürde, Volkssouveränität, Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit, das Mehrparteienprinzip, die Unabhängigkeit der Gerichte und die Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Parlament. In der Theorie erscheint dies als ein Katalog moralischer Selbstverständlichkeiten, doch in der Praxis wird dieser Kodex häufig durch politische Opportunitäten, ideologische Kämpfe oder schlicht institutionelle Trägheit kompromittiert.

Die Bundeszentrale für politische Bildung definiert die FDGO als „jene Prinzipien der Demokratie, die unabdingbar sind, um die Freiheit in einem Staat zu gewährleisten“. Doch bereits Hannah Arendt warnte in ihrer Schrift „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ vor der Versuchung, autoritäre Maßnahmen im Namen der Freiheit zu rechtfertigen: „Wer vorgibt, die Freiheit zu sichern, indem er sie einschränkt, hat sie bereits verraten.“ Eine gesichert freiheitlich-demokratische Regierung muss sich somit stets der paradoxen Verantwortung stellen, durch Machtausübung die Macht selbst zu begrenzen.

II. Kriterien einer gesichert freiheitlich-demokratischen Regierung: Mehr als nur Verfassungstreue

Eine Regierung verdient das Attribut „gesichert freiheitlich-demokratisch“ nicht allein durch das Lippenbekenntnis zur Verfassung oder die formale Abhaltung von Wahlen. Entscheidend ist ihr praktisches Handeln im Umgang mit abweichender Meinung, Opposition, Protest und Medien. Ein erstes Kriterium ist dabei die institutionalisierte Toleranz gegenüber Kritik: „Demokratie“, so formulierte es der Politikwissenschaftler Giovanni Sartori, „beginnt nicht mit dem Wahltag, sondern mit der garantierten Möglichkeit, die Regierung am Tag danach kritisieren zu dürfen – ohne Angst.“

TIP:  Das Theater der Wahlen

Eine Regierung, die systematisch Andersdenkende diffamiert, öffentliche Fördermittel an Gesinnung bindet oder kritische Journalisten unter Verdacht stellt, entfernt sich vom freiheitlich-demokratischen Ideal. Ebenso ist die Bereitschaft, politische Fehler einzugestehen und sich der parlamentarischen Kontrolle nicht nur formal, sondern inhaltlich zu unterwerfen, ein zentrales Merkmal demokratischer Qualität.

Nicht minder relevant ist der transparente, nicht-instrumentalisierte Umgang mit der Sicherheitsarchitektur. Eine Regierung, die Geheimdienste dazu nutzt, unliebsame Oppositionelle zu observieren, nicht aber auf nachweisbare extremistische Bedrohungen reagiert, verrät nicht nur das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, sondern auch das Gleichheitsprinzip, das in Artikel 3 GG seinen Ausdruck findet. Der Verfassungsschutz darf kein Gesinnungsschutz sein – sondern muss objektiv, faktenbasiert und neutral agieren.

III. Was eine Regierung unter keinen Umständen tun darf: Gefahren der „präventiven Demokratie“

In ihrer Studie zur „wehrhaften Demokratie“ warnt die Politologin Angelika Nußberger eindringlich vor der Transformation des demokratischen Rechtsstaats in eine „präventive Demokratie“, in der der Staat mit immer weiterreichenden Mitteln gegen vermeintlich demokratiefeindliche Tendenzen vorgeht – und dabei selbst in autoritäre Muster verfällt. Ein gesichert freiheitlich-demokratischer Staat darf sich niemals zur Disziplinierung von Bürgern, zur Homogenisierung von Meinungen oder zur ideologischen Umerziehung berufen fühlen.

Zu den absoluten Tabus zählen:

  • Der Entzug bürgerlicher Rechte auf Basis von Meinungsäußerungen, solange diese nicht zur Gewalt aufrufen oder nachweislich die Menschenwürde anderer verletzen.
  • Die flächendeckende Überwachung und Sanktionierung politisch missliebiger Gruppen, sofern deren Aktivitäten sich im Rahmen der Legalität bewegen.
  • Der Missbrauch des Strafrechts zur Abschreckung von Regierungskritik, etwa durch den inflationären Vorwurf der „Volksverhetzung“ oder „Delegitimierung des Staates“ in Fällen legitimer politischer Kritik.
  • Die Einschränkung pluralistischer Diskurse durch mediale Monopolisierung oder staatlich finanzierte Propagandastrukturen, etwa durch journalistische Netzwerke mit politischer Loyalitätspflicht.

Hierbei sei mit Nachdruck auf Montesquieus Warnung verwiesen: „Freiheit ist das Recht, alles zu tun, was die Gesetze erlauben; und wenn ein Bürger tun kann, was sie verbieten, so ist das keine Freiheit mehr, sondern Tyrannei.“

TIP:  Der Aufbruch in die Zukunft oder der Rückfall in die Diktatur

IV. Beispiele politischer Entgleisung: Von Orbán bis zum „Anstandskonsens“

Die jüngeren Entwicklungen in Ungarn unter Viktor Orbán zeigen, wie schnell sich Demokratien in Autokratien verwandeln können, ohne dass die formalen Strukturen beseitigt würden. Die Zerschlagung der Pressefreiheit, die politische Ausschaltung der Opposition durch Wahlrechtsreformen und die Verquickung von Staat und Partei durch Patronage – all das geschah unter dem Deckmantel demokratischer Legalität. Es zeigt sich: Nicht der Anschein, sondern die Praxis entscheidet über die demokratische Qualität.

Auch im Westen beobachten wir eine Tendenz zur Moralregulierung. Wenn in Deutschland etwa politische Beamte entlassen werden sollen, weil sie eine zugelassene Partei wählen, oder wenn Meinungen bereits dann unter Extremismusverdacht stehen, wenn sie der Regierungslinie widersprechen, dann liegt ein gefährlicher Kurzschluss zwischen „Demokratie schützen“ und „Demokratie beschneiden“ vor. In seinem Klassiker „Demokratie und Wahrheit“ mahnt John Rawls, dass eine liberale Ordnung „nicht bloß die richtigen Ergebnisse, sondern auch die richtigen Verfahren“ garantieren müsse. Wer Demokratie durch autoritäre Mittel sichern will, verliert sie.

V. Schlussfolgerung: Demokratie als Haltung – nicht als Besitz

Eine Regierung verdient das Attribut „gesichert freiheitlich-demokratisch“ nur dann, wenn sie das Anderssein nicht als Gefahr, sondern als Bedingung der Demokratie begreift. Sie muss bereit sein, sich in ihrer Macht beschneiden zu lassen – durch Kritik, Kontrolle, öffentliche Debatte und juristische Korrektur. Eine Regierung darf nie der Versuchung erliegen, das Volk zu erziehen, sondern muss ihm vertrauen. Denn die politische Freiheit ist kein Zustand, sondern ein Prozess. Sie kann nicht dekretieren, sondern nur gelebt werden. Ein Staat, der dies vergisst, handelt – in den Worten des großen Politologen Karl Loewenstein – „demokratisch in der Form, diktatorisch im Gehalt“. Der Weg zur gesichert freiheitlich-demokratischen Ordnung führt nur über die Demut der Macht.

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