Ein Richterinnen-Axiom und seine elegante Entleerung
Es ist eine jener juristischen Sentenzen, die nicht so sehr ein Urteil sind als eine theatralische Geste: eine Formulierung, die in der Luft hängenbleibt, in der Art, wie eine Messingglocke nach dem Schlag nachschwingt und plötzlich eine ganze Halle stilllegt. Richterin Melanie Halbig hat — so lesen es die Presseberichte — in ihrem Diversionsbeschluss etwas formuliert, das das demokratische Ohr irritiert: im Kern die Idee, dass der Republik „kein unmittelbarer Schaden“ entstehe, wenn statt der besten Kandidatin „nicht die Beste“ eingesetzt werde, solange der Gewählte „als Vorstand dennoch geeignet“ sei. Wer diese Worte aufnimmt und etwas damit macht, hält nichts weniger als eine Moralphilosophie in Händen: nicht Gerechtigkeit als normative Forderung, sondern ein administratives Minimum an Funktionsfähigkeit als Maßstab dessen, was die Republik noch als „unschädlich“ gelten lassen darf. Die Diversion ist damit nicht länger nur ein Instrument zur Strafverfahrensbeendigung — sie wird, in Halbigs Lesart, zum politischen Tuchladen: ein Ort, an dem man moralische Risse mit Geld flickt und das Ganze hübsch versäubert in der Hoffnung, dass niemand besser hinsieht.
Die Preisgestaltung des politischen Fehlverhaltens
Wenn eine Diversion eine Art Bußkasten für politisches Versagen ist, dann ist der Betrag, den man hineinwirft, plötzlich von höchster politischer Relevanz: er wird zum Kurs für das, was Gesellschaft bereit ist, als „vertretbares Fehlverhalten“ zu akzeptieren. Im Wöginger-Fall, so melden zahlreiche Medien, nahm der Beschuldigte das Angebot an — 44.000 Euro Geldbuße plus einen symbolischen Ersatzbetrag von 500 Euro an die benachteiligte Bewerberin — und die Sache schien für die politisch Verantwortlichen damit „erledigt“. Die Narration ist simpel und schmerzfrei: „Ich habe gezahlt, also ist es vorbei.“ Der politische Marktwert eines Amtsmissbrauchs lässt sich so, in einem Akt transaktionaler Pragmatik, in Euro und Cent ausdrücken; man zahlt und die Akte wird abgelegt. Wer an einem funktionierenden Rechtsstaat festhält, empfindet dabei ein leises, kontemplatives Erbleichen des Demokratiebegriffs.
Vom Abschreckungsversprechen zur Einladung zum Geschäft
Noch brisanter als die nackten Zahlen ist die richterliche Bemerkung, die in derselben Begründung auftaucht: bei rigoroser Verfolgung und Sanktionierung sei von einem „ausreichenden Abschreckungseffekt“ auszugehen. Das klingt auf dem Papier wie die gebotene Rechtspoesie eines Staatswesens, das sich selbst verteidigt — in der Realität aber liest sich diese Passage fast wie ein ironischer Werbespruch. Denn wenn die Diversion klein, schnell und kalkulierbar ist, dann mutiert Abschreckung zum Paradox: je billiger das Auskaufen, desto kleiner die Hemmschwelle, desto klarer die Einladung an jene, die Opportunitäten sehen. Die Logik ist perverse Ökonomie: Risiko durch Preis ersetzen, Strafe als Dienstleistung verkaufen, Moral in eine Option verwandeln. Und in diesen Offerten liegt ein weiteres Signal, das gerade all jene Politiker erreichen dürfte, die bisher vorsichtig waren: Wenn ihr erwischt werdet, könnt ihr euch freikaufen — und es ist überhaupt nicht teuer.
Die Republik als Kundin: Qualitätskontrolle light
Es hilft, die Sache einmal aus der Perspektive der Republik zu denken — nicht in pathosdurchtränkter Rhetorik, sondern nüchtern: staatliche Institutionen sind Systeme, sie haben Bedürfnisse nach Funktionstüchtigkeit, Reputation und Legitimität. Halbig scheint zu sagen: Die Funktion bleibt gewahrt, die Qualität leidet nicht in einem Maße, das einen „unmittelbaren Schaden“ rechtfertigt. Aber was heißt hier „unmittelbar“? Ist die Erosion an Vertrauen, das langsame Verschwinden des Gefühls, dass Entscheidungen meritokratisch und nicht klientelistisch fallen, kein Schaden? Vertrauen ist kein Konto, das man mit einem einmaligen Betrag auffüllt; Vertrauen ist ein Beziehungsgeflecht, das man über Jahre, gar Jahrzehnte, aufbaut — und es reicht eine Serie von kleinen Transaktionen, um es abzutragen. Die Diversion kann den unmittelbaren Verwaltungsbetrieb schützen, doch sie lässt die Republik in der Öffentlichkeit wie ein Kunde erscheinen, der mit einem Rabatt zufrieden ist, während im Hintergrund jemand das Regal mit den Normen umstellt.
Satire der kleinen Geste: Die symbolische Zahlung
Dass ein Symbolbetrag von 500 Euro an die übergangene Bewerberin gezahlt wird, verdient eine Fußnote der bitteren Ironie: Symbolik hat Tradition in der Politik; sie ist der Konfekt auf dem Kuchen unappetitlicher Realpolitik. Ein „symbolischer Betrag“ neben einer saftigen Geldbuße ist wie eine Theaterverbeugung nach einem Banküberfall: ja, es tut uns leid, schauen Sie nicht hin, hier ist ein Trostpflaster. Die Symbolik ist dabei nicht nur künstlerisch fragwürdig, sie ist funktional: sie erlaubt es dem Apparatchik, die Balance zu halten — das Gewissen gegenüber der Öffentlichkeit zu beruhigen, ohne die eigentliche Praxis zu ändern. In einer Welt, in der Politik zunehmend als Boutiquegeschäft fungiert, sind solche Gesten die Fensterdekorationen: hübsch anzusehen, ohne die Ware im Inneren zu verändern.
Die politische Sprache der Gleichgültigkeit
Die Reaktionen auf die Diversion lassen sich typologisch ordnen: die Regierungsparteien erklären, die Sache sei erledigt; die Opposition schäumt, die Zivilgesellschaft seufzt; Fachleute warnen vor einem Vertrauensverlust. All das ist vorhersehbar — und doch offenbart die ganze Choreographie etwas anderes: eine politische Sprache, die Gleichgültigkeit institutionalisiert. Wenn die mächtigen Parteien das Akzeptieren einer Diversion als Schlusspunkt feiern, dann sendet das ein Signal an das Publikum, das ihm sagt: Staatsräson ist nicht mehr das Ideal des öffentlichen Dienstes, sondern die Fähigkeit, Skandale administrativ zu neutralisieren. Damit wird die Verantwortung nicht aufgehoben, sondern in ein neues Gewand gesteckt: Verantwortung als Zahlungspflicht. Und dieses Gewand sitzt bequemer, als es klingen sollte.
Epilog — Eine kleine Gebrauchsanweisung der Gesellschaft
Was also tun, wenn Diversion zum Alltagsmittel der politischen Konfliktlösung wird? Zuerst: nicht in schocksterilisierter Entrüstung verharren. Entrüstung ist gut fürs Gute-Gewissen, schlecht fürs Handeln. Zweitens: Transparenz. Wenn Diversionen erteilt werden, müssen ihre Begründungen so nachvollziehbar, die Kosten so offengelegt und die Folgen so systematisch evaluiert werden, dass die Öffentlichkeit ihre eigene Rechnung ziehen kann — nicht nur eine monitäre, sondern eine reputative, institutionelle Bilanz. Drittens: Sanktionierung als Instrument demokratischer Bildung begreifen — nicht als bloße Kostenstelle. Wer Demokratie ernst nimmt, muss dafür sorgen, dass die Preise für Korruption und Günstlingswirtschaft so hoch werden, dass die Opportunität kein Geschäft mehr ist. Bis dahin aber bleibt der Wöginger-Fall ein Lehrstück: nicht nur über einen Mann, der zahlte, sondern über ein System, das eine geldwerte Lösung der Rechtsfrage vorzieht. Und das ist, wenn man es nüchtern betrachtet, weit weniger eine juristische Entscheidung als eine politische Wahl — eine Wahl zugunsten der Kurzfristigkeit, gegen die Langfristigkeit der demokratischen Kultur.