
Die Popper’sche Zumutung – über Falsifikation, modische Wahrheiten und akademischen Ablasshandel
Es war einmal ein Denker namens Karl Popper, der mit britisch-wienerischer Gründlichkeit die Wissenschaft in eine Zwangsjacke aus Logik und Skepsis steckte. Für ihn war eine These nur dann wissenschaftlich, wenn sie falsifizierbar war – also widerlegbar im Prinzip, prüfbar in der Praxis, und dem kalten Schwert der Realität ausgesetzt wie ein Fisch auf dem Trockenen. Kein Dogma, keine letzte Wahrheit, keine sakrosankte Theorie durfte vor der Möglichkeit ihrer Widerlegung sicher sein. Wissenschaft, so Popper, sei ein Wettlauf gegen das eigene Irrtumspotenzial – ein disziplinierter Narzissmus, der sich am liebsten selbst widerlegt, um zu wachsen.
Wie unhöflich! Wie antisozial! Wie neurotisch!
Denn diese Zumutung, dass Wissenschaft mehr mit methodischer Bescheidenheit als mit moralischer Gewissheit zu tun hat, widerspricht allem, was der moderne Mensch von der Wissenschaft erwartet: Erlösung, Orientierung, Identität. Was bei Popper ein gefährlicher Vorschlag zur intellektuellen Demut war, ist heute für viele nur noch ein staubiges Fußnotenskelett aus der Epoche der alten, weißen Männer mit Brillen. Denn längst hat sich ein anderer Geist durch die akademischen Tempel geschlichen – einer, der keine Thesen mehr überprüft, sondern Weltbilder zementiert. Willkommen in der Ära der Modewissenschaft.
Das postmoderne Dogma – Wenn die These nicht falsifizierbar sein darf, weil sonst der Seminarraum implodiert
Es ist ein feiner, fast unhörbarer Wechsel, der da stattfand: Statt Thesen aufzustellen, die man widerlegen kann, werden heute Narrative gebaut, die man nicht in Frage stellen darf. Aus prüfbarer Hypothese wurde dekonstruktiver Mythos, aus experimenteller Neugier ein identitärer Kult. Der Diskurs hat die Evidenz abgelöst. Es zählt nicht mehr, ob etwas stimmt, sondern ob es „problematisiert“ werden kann. Wer fragt, ob eine Theorie überprüfbar ist, wird verdächtigt, „epistemische Gewalt“ auszuüben.
Ein besonders glänzendes Beispiel dieses Wandels: die Genderwissenschaft, dieses polyphonetische Labyrinth aus Text, Text über Text und Text über die Texte über Text. Dort wird nicht geforscht, sondern gedeutet – mit einer Inbrunst, die mittelalterliche Theologen neidisch gemacht hätte. Die Realität – Biologie, Statistik, Beobachtung – ist nicht die Basis, sondern das zu überwindende Hindernis. Wer fragt, ob Geschlecht auch biologische Komponenten habe, wird mit dem intellektuellen Holzhammer der Dekonstruktion erschlagen: „Was ist schon Biologie außer ein kulturelles Konstrukt, das sich als Natur ausgibt?“ Eine These, so immun gegen Falsifikation, dass selbst der Papst erröten würde.
Doch Popper würde wohl trocken antworten: „Wenn nichts widerlegt werden kann, dann ist es auch keine Wissenschaft. Sondern Glaube. Oder Ideologie. Oder Theater mit Fußnoten.“
Alte Geister in neuen Kutten – Die Renaissance der Ideologie mit akademischem Anstrich
Nun wäre das alles nur amüsant, wenn es nicht historische Vorläufer gäbe, die deutlich machten, wie gefährlich diese Art der Wissenschaftssimulation werden kann. Denn auch andere Systeme hatten ihre Modewissenschaften – nur nannten sie sie nicht so höflich. Im Dritten Reich blühte die sogenannte „Rassenforschung“: ein Gemisch aus biologistischer Scharlatanerie, pseudostatistischer Arroganz und ideologisch vorgegebener Zielstruktur. Dort wurde nicht geforscht, sondern bewiesen – beweisen sollte man, dass es Unterschiede gäbe, hierarchisch, erblich, unüberwindbar. Und siehe da: Die Ergebnisse passten stets zur Ideologie. Falsifizieren? Das war Judenkram.
In der DDR trug dieselbe Haltung ein anderes Kostüm: Der „wissenschaftliche Sozialismus“ – allein der Begriff ein Oxymoron in drei Akten. Dort wurde nicht überprüft, ob eine Theorie funktioniert, sondern die Realität wurde geprüft, ob sie sich dem Marxismus-Leninismus unterwirft. Wer Zweifel anmeldete, war kein Skeptiker, sondern „Klassenfeind“. Wer empirisch dachte, galt als Konterrevolutionär. Auch hier: Wissenschaft war kein Werkzeug zur Erkenntnis, sondern ein Service zur Legitimierung des Systems.
Man sollte meinen, Europa hätte daraus gelernt. Doch was ist der Unterschied zwischen der Behauptung, „die Rasse bestimmt den Geist“, und der Behauptung, „das Geschlecht bestimmt die Wahrheitsperspektive“ – wenn beide immun gegen Kritik, aber übervoll mit moralischem Pathos vorgetragen werden?
Die neue Unantastbarkeit – Kritik als Sakrileg
Wir leben in einer Zeit, in der jede Kritik an bestimmten akademischen Feldern als politischer Affront gilt. Nicht das Argument zählt, sondern die Position des Kritikers im soziokulturellen Koordinatensystem. Ist er alt? Weiß? Männlich? Dann kann es sich nur um Reaktion handeln. Die These selbst wird nicht mehr an der Realität gemessen, sondern an der Biografie des Sprechers. Ein Rückfall in prämoderne Erkenntnistheorie: Nicht was gesagt wird, sondern wer es sagt, entscheidet über die Wahrheit.
Damit hat sich die Wissenschaft endgültig von Popper verabschiedet. Nicht durch einen offenen Putsch, sondern durch intellektuelle Ermüdung. Warum soll man sich anstrengenden Überprüfungen aussetzen, wenn man auch in wohlfeilen Panels über „Diskurse“, „Narrative“ und „hegemoniale Strukturen“ parlieren kann – ganz ohne Risiko? Die neue Modewissenschaft ist eine Art akademischer Wellness: beruhigend, bestätigend, bequem. Die These ist, was mir nützt. Falsifizieren? Nur meine Kritiker.
Die Wissenschaft als Dienstleister des Zeitgeists
Es bleibt das bittere Fazit: Was heute oft als Wissenschaft verkauft wird, ist häufig nur eine gutgekleidete Form der Weltanschauung. Sie will nicht zweifeln, sondern bestätigen. Nicht prüfen, sondern predigen. Die Labore wurden durch Seminarräume ersetzt, das Mikroskop durch das Schlagwort, der Beweis durch das Betroffenheitszeugnis. Statt sich der Wirklichkeit auszusetzen, konstruiert man sie um – bis sie endlich passt.
Und wer widerspricht? Der wird gelöscht, gecancelt, exmatrikuliert oder wenigstens bei der nächsten Drittmittelvergabe übersehen. Die Falsifikation hat in der modernen Akademie keinen Platz mehr – nicht, weil sie widerlegt wurde, sondern weil sie unbequem ist. Sie stört beim Rechtbehalten.
Nachsatz: Der Popper-Test für unsere Zeit
Vielleicht sollte man ein kleines Experiment wagen – im Sinne Poppers. Man nehme eine These, etwa: „Geschlechterrollen sind rein soziale Konstrukte, völlig unabhängig von biologischen Grundlagen.“ Dann frage man: Was müsste passieren, damit diese These als falsch gilt? Wenn die Antwort lautet: „Nichts. Jede Gegenmeinung ist Ausdruck des Patriarchats“ – dann ist die These kein wissenschaftliches Statement, sondern ein Glaubensartikel.
Und das ist völlig in Ordnung – solange man es als solchen deklariert. Doch wehe dem, der sich Wissenschaft nennt, aber sich der Prüfung verweigert. Denn der hat nicht nur Popper verraten. Sondern die Idee von Aufklärung selbst.