
Die Realität ist ein Gerücht
Es gibt Dinge, die der Mensch wissen könnte, wenn er wollte. Er tut es aber nicht, weil das Hirn bekanntlich vor allem eins hasst: Kognitive Unordnung. Wer einmal gelernt hat, dass der Himmel blau ist, wird auch bei Dämmerung noch Blau vermuten – obwohl der Himmel in Wahrheit zu diesem Zeitpunkt längst ein apokalyptisches Gemisch aus Violett, Graugrün und Postkartenlüge geworden ist. Der Mensch sieht eben nicht, was ist. Er sieht, was sein neuronales Betriebssystem vorgeladen hat. So wie ein Smartphone, das alte Tabs aus dem RAM nachlädt und dann behauptet, das sei die Gegenwart.
Im Jahr 1980 führten Forscher an der Dartmouth University ein Experiment durch, das – wären wir eine reflektierende Spezies – spätestens da den Weltfrieden hätte auslösen müssen. Stattdessen löste es: Nichts aus. Weil wir lieber weiter schlafen.
Man schminkte den Probanden eine Narbe ins Gesicht, ließ sie diese im Spiegel betrachten – und entfernte sie dann heimlich wieder, bevor sie unter Menschen geschickt wurden. Der Rest ist eine bittere Pointe auf zwei Beinen: Die Teilnehmer kehrten zurück und berichteten, wie schlimm sie behandelt worden seien. Abweisend seien die anderen gewesen. Mitleidig. Man hätte sie gemustert wie ein billiges Kuriositätenkabinett.
Aber da war nichts mehr im Gesicht. Nur im Kopf. Und da sitzt bekanntlich die eigentliche Welt.
Die selbstfahrende Wahrnehmungskarre
Das menschliche Gehirn, so erklärt uns die moderne Neurobiologie, ist nicht dazu da, die Wahrheit zu erkennen. Es ist ein Vorhersageapparat. Ein Generator für möglichst effiziente Halluzinationen, die sich mit der Vergangenheit decken. Alles, was wir sehen, hören, fühlen und glauben, ist der Versuch unseres Nervensystems, aus dem Chaos der Sinneseindrücke ein halbwegs konsistentes Bild zusammenzukleben. Ein Bild, das sich nicht mit der Welt synchronisieren muss, sondern mit der eigenen Story.
Der Begriff dafür ist: Kontrollierte Halluzination.
Die Betonung liegt auf „kontrolliert“. Solange sich genug Menschen über die Halluzinationen einig sind, nennt man es Realität. Wenn man sich uneinig ist, nennt man es Kulturkampf.
Diskriminierung: Realität oder Rollenspiel?
Natürlich kann man nun fragen, ob das auch für Diskriminierung gilt. Und die Antwort ist: Selbstverständlich – zumindest teilweise. Es wäre ein grober Fehlschluss, alle Opfererfahrungen als eingebildet abzutun. Aber es wäre ein ebenso grober Fehlschluss, zu glauben, der Mensch könne zwischen äußerer Welt und innerem Film so sauber unterscheiden, wie es in Talkshows gern behauptet wird.
Die Halluzination ist systemisch. Sie ist nicht individuell, sondern kulturell geteilt. Medien, soziale Netzwerke, Empörungsökonomien und akademische Theorien der Betroffenheit sorgen dafür, dass wir heute schneller Kränkungen erkennen als früher. Nicht weil die Welt gemeiner geworden ist, sondern weil wir feinere Scanner gebaut haben.
Der Empörungsscan läuft mit neuronaler Gesichtserkennung, Alarmstufe rot. Jede hochgezogene Augenbraue wird zum Mikroangriff umgedeutet, jeder ironische Tonfall als strukturelle Gewalt analysiert. Das Opferbewusstsein ist zur Wellnessoase des Egos geworden. Denn nichts stärkt den Selbstwert so nachhaltig wie die Gewissheit, moralisch überlegen und gleichzeitig verletzt zu sein. Der Täter trägt Schlips oder Nachnamen, das Opfer die Deutungshoheit.
Und wehe dem, der sagt: Moment mal, vielleicht bist du gar nicht beleidigt worden – vielleicht hast du das nur so gesehen? Der wird postwendend exkommuniziert. Wahrnehmungskritik ist heute eine Form von Ketzerei. Das „Wie fühlt es sich an?“ hat das „Was ist passiert?“ ersetzt. Wir leben im Zeitalter der narzisstischen Narbe.
Ob sie echt ist, spielt keine Rolle. Hauptsache, sie gibt uns Bedeutung.
Corona war der große Realitätsabgleich – und niemand hat bestanden
Das beste Beispiel für diese kollektive Halluzination war und bleibt der Frühling 2020.
Ein Virus trat auf den Plan, und plötzlich sahen wir zwei völlig verschiedene Filme im selben Kino. Für die einen war es der Katastrophenthriller: „Die Seuche kommt“. Für die anderen der Dystopiestreifen: „Der Staat übernimmt die Kontrolle“. Beide Gruppen sahen exakt das, was sie sehen wollten. Oder besser: sehen mussten. Denn das Gehirn hasst Überraschungen mehr als Viren.
Masken waren für die einen Solidarität, für die anderen Unterdrückung. Lockdowns waren entweder Rettung oder Tyrannei. Fakten gab es genug auf beiden Seiten, aber keiner hat sie gesehen. Nur Vorhersagen, Vorannahmen, alte Datenpakete. Die Empirie verrottete auf den Servern der Gesundheitsämter, während auf Facebook metaphysische Grabenkämpfe tobten.
Akademiker: Halluzinierende mit Abitur
Aber, so denken die Gebildeten unter uns gern: Das betrifft doch nur „die anderen“.
Irrtum. Bildung ist kein Antivirus gegen Selbsttäuschung. Sie ist ein Upgrade. Wer promoviert hat, lügt sich nicht weniger in die Tasche – er tut es nur präziser, mit Fußnoten. Der Intellektuelle ist der Mensch, der seine Halluzinationen literarisch ausstaffiert. Die Projektion trägt dann Anzug und eine PowerPoint-Präsentation.
Wissenschaft, wohlgemerkt, ist ein wunderbares Werkzeug gegen Irrtum – für den, der bereit ist, sich selbst zu widerlegen. Leider sind die meisten Akademiker keine Wissenschaftler. Sie sind Überzeugungstäter mit Professorentitel.
Der Schmerz ist echt – das Problem ist das Bild
Das eigentlich Beängstigende an der Dartmouth-Studie ist nicht, dass Menschen sich täuschen.
Es ist, dass sie an den Folgen ihrer Täuschung leiden.
Die Probanden mit der eingebildeten Narbe hatten reale Schmerzen. Psychische Verletzung, physiologische Stressreaktionen, sozialer Rückzug. Alles echt. Nur der Anlass war erfunden – von ihrem eigenen Nervensystem.
Und jetzt kommt die unbequeme Frage:
Welche Narben tragen Sie noch mit sich herum, die längst weg sind?
Welche Gespenster spuken durch Ihr Leben, weil Ihr Hirn sie auf Dauerschleife wiedergibt?
Wir sind nicht verantwortlich für alles, was wir erleben. Aber wir sind verantwortlich für den Filter, durch den wir es betrachten.
Der kluge Mensch fragt nicht: „Warum sind die anderen so gemein zu mir?“
Er fragt: „Woher weiß ich eigentlich, dass das stimmt?“
Fazit: Wir sind alle bekloppt – aber wenigstens konsequent
Das Leben in der Halluzination hat einen Vorteil: Es ist komfortabel.
Man weiß immer genau, wer man ist und wer die anderen sind. Die Welt wird sortierbar, erklärbar, erträglich. Der Preis dafür ist hoch – aber immerhin bezahlen ihn alle.
Wer aus der kollektiven Täuschung aussteigen will, braucht Mut. Nicht den Mut, die Welt zu verändern. Sondern den Mut, sich selbst zu widersprechen.
Vielleicht beginnt es mit der simpelsten aller Fragen:
„Was, wenn ich mich irre?“
Das ist die härteste Droge, die es gibt.
Der Rausch der Klarheit hält nur kurz – aber er ist es wert.