Postmigrantische Gesellschaft
In einer Ära, in der wir uns sprachlich offenbar nur noch rückwärts fortbewegen können, ist es kaum verwunderlich, dass sich die Vorsilbe post- als semantischer Zuchtmeister über die wackligen Konstruktionen öffentlicher Debatten erhebt. Kaum hat man sich an die Postmoderne gewöhnt, da sie schon in die Jahre kommt; kaum hat man die Postkolonialität korrekt buchstabiert, da wird sie in akademischen Mittelschichtrunden zu einem intellektuellen Haustier degradiert, das die Teilnehmer*innen bei Bedarf in den Schoß nehmen, um sich daran zu wärmen. Und nun also „postmigrantisch“, das neue Etikett, frisch gedruckt mit der Begeisterung eines sozialwissenschaftlichen Paketboten, der mal wieder vergessen hat, was eigentlich im Karton war.
Der Mensch von heute soll sich angeblich im postmigrantischen Zeitalter befinden, doch wer sich die Mühe macht, einen Blick in das gesellschaftliche Treppenhaus zu werfen, hört die Stimmen derjenigen, die diese Treppe überhaupt erst betreten wollten: Es knarzt, es ächzt, und manchmal bricht eine Stufe weg, wie ein pessimistischer Kommentar im Feuilleton. Postmigrantisch – als wäre Migration bereits erledigt, sauber archiviert, abgeheftet, und die Realität nickt höflich, obwohl sie nicht eingeladen war. Die Vorsilbe, die einst den Fortschritt signalisieren sollte, entlarvt sich selbst als Verlegenheitsgeste einer Gesellschaft, die ihre eigenen Begriffe nur noch ex post versteht.
Das Versprechen der Vorsilbe
Die Ironie besteht darin, dass dieses post- stets den Anspruch erhebt, etwas Überwundenes zu markieren, obwohl es ja gerade auf etwas verweist, das hartnäckiger ist als die Optimismusfloskeln politischer Sonntagsreden. Die Postmoderne war nie richtig modern, die Postkolonialität nie sauber entkolonialisiert, und nun behauptet das „postmigrantische“ Zeitalter standhaft, man hätte das Thema gesellschaftlich durchgespielt wie ein Strategiespiel auf leichtem Schwierigkeitsgrad.
In Wirklichkeit jedoch thront dieses post- wie eine schlecht gelaunte Grammatikgouvernante über einem Alltag, der sich um die Etiketten wenig schert. Menschen migrieren weiterhin, manche freiwillig, viele unfreiwillig, und selbst jene, die schon seit Generationen hier sind, gelten mancherorts – je nach Hautfarbe, Name oder Akzent – weiterhin als provisorische Gäste im eigenen Land. Wer hier also etwas „postuliert“, postuliert vor allem sich selbst, dekoriert mit einem Begriff, der eher ein intellektuelles Schulterklopfen für Eingeweihte ist als eine Diagnose gesellschaftlicher Realität.
Der Etikettendruck als Ersatzhandlung
In einem bemerkenswerten Akt kollektiver Selbstüberschätzung glaubt man heutzutage, eine Gesellschaft ließe sich durch sprachliche Präfixe wie Möbelkataloge ordnen. Postmigrantisch – das klingt nach Fortschritt, nach einem Zustand, in dem alles Unangenehme längst überwunden wurde, ein Versuch, Komplexität mit der Präzision einer Büroklammer zu bändigen.
Doch der Etikettendruck dient letztlich als Ersatzhandlung: Man kann sich mit einem Wort schmücken, anstatt sich mit den darin enthaltenen Realitäten auseinanderzusetzen. So entsteht eine intellektuelle Selbstberuhigungspraxis, die zwar semantisch kunstvoll erscheint, aber praktisch ebenso leer ist wie die Motivationssprüche in Großraumbüros. Man druckt, deklariert, versieht mit Präfixen – und hofft, dass die Welt dem Beispiel folgt. Sie folgt nicht. Sie hat Besseres zu tun.
Die Polemik der Selbsttäuschung
Es wäre falsch zu behaupten, der Begriff sei völlig nutzlos. In akademischen Dialogen entfaltet er eine gewisse Eleganz, er schwingt mit jenem leichten Hauch des Fortschritts, den man gern im Seminarraum inhalieren möchte. Doch sobald man damit versucht, die Realität zu sortieren, verwandelt er sich in einen sprachlichen Taschenspielertrick: Man behauptet eine nachmigrantische Phase, während man gleichzeitig den Menschen, die angeblich „post“ sind, im Alltag immer wieder signalisiert, dass sie es nicht sind.
Hier offenbart sich die wahre Polemik: Nicht die Gesellschaft ist postmigrantisch, sondern die Geduld derjenigen, die das immer wieder hören müssen. Die Zynik liegt nicht im Begriff selbst, sondern in seinem Gebrauch, in der unbewussten Arroganz einer Gesellschaft, die Probleme für gelöst erklärt, sobald sie einen akademisch ausreichend klingenden Namen haben.
Ein augenzwinkerndes Resümee
Vielleicht sollten wir, statt ständig neue Prefixe zu erfinden, einmal innehalten und fragen, wozu wir diese Begriffe überhaupt benötigen. Sie geben uns das wohlige Gefühl, auf einem intellektuellen Hochplateau zu stehen, während wir in Wahrheit über einen semantischen Abgrund balancieren.
„Postmigrantisch“ ist im besten Fall eine Hoffnung, im schlechtesten eine Selbsttäuschung. Eine Gesellschaft, die glaubt, Migration ließe sich durch ein post- rückstandslos wegdefinieren, verhält sich wie jemand, der den Wecker früher stellt, um zu glauben, er habe mehr geschlafen.
Doch vielleicht liegt im Begriff wenigstens ein kleines Fünkchen Humor: In seinem unbeabsichtigten Geständnis, dass wir uns selbst oft nicht mehr ernst nehmen können. Und vielleicht liegt in diesem Lächeln die eigentliche Chance. Denn eine Gesellschaft, die über ihre eigenen Etiketten lachen kann, ist zumindest ein Stück weit auf dem Weg – vielleicht nicht post-irgendwas, aber immerhin: angekommen in der Realität.