
Es ist ein sonderbares Schauspiel, dem wir beiwohnen dürfen: Das 21. Jahrhundert, ein Zeitalter, das uns fliegende Autos, interplanetare Kolonien und zumindest den halbwegs funktionierenden Toaster versprach, erweist sich in Wahrheit als eine schrille Jahrmarktsbude der gefühlten Wahrheiten, der lautstarken Stammtischdogmen und der intellektuellen Selbstentwaffnung. Während wir noch vor wenigen Generationen die segensreiche Ankunft des elektrischen Lichts feierten, erhellt heute die flackernde Leuchtkraft eines Smartphone-Displays vor allem jene Stirnen, die im Kommentarbereich ihre persönliche Ersatzrealität in Versalien ausbuchstabieren. Die Vernunft, einst stolze Lenkerin unserer Schicksale, fristet nun den traurigen Beruf einer unbezahlten Faktencheckerin in Teilzeit, die man jederzeit mit einem launischen „Aber das sehe ich anders“ in den Zwangsurlaub schicken kann.
Und hier, genau hier, beginnt das Drama: Wir haben das Projekt der Aufklärung – jene uralte Verschwörung der Rationalisten gegen die Tyrannei der Unwissenheit – in die Hände einer Generation gelegt, die Wikipedia für einen Beweis und „Mein Bauch sagt mir“ für eine Methode hält. Das ist, um es in aller höflichen Untertreibung zu sagen, ein wenig unglücklich.
Die Aufklärung – ein längst abgelaufener Kassenzettel?
Es ist, als habe man uns im 18. Jahrhundert ein prachtvolles Gesellschaftsbuffet gedeckt – Vernunft, Menschenrechte, wissenschaftliche Methode, Pressefreiheit – und nun stünden wir davor wie schlecht gelaunte Kinder, die sich beschweren, dass die Torte „irgendwie nicht mehr frisch schmeckt“. Wir stopfen uns mit den Früchten der Aufklärung voll, aber wenn es um die Küche, die Köche und das mühselige Rezept geht, winken wir gelangweilt ab: „Brauchen wir das noch?“
Der Humanismus, dieses großartige, fragile Bauwerk, wird heute wahlweise als „Luxusproblem der Wohlstandsgesellschaft“ abgetan oder durch pseudospirituelle Nebelschwaden ersetzt, in denen man lieber „seine eigene Wahrheit lebt“. Die Wissenschaft, die uns von der Blutegeltherapie bis zum Impfstoff in pandemischen Zeiten gebracht hat, sieht sich zunehmend als Bittsteller in der Arena der öffentlichen Meinung – gezwungen, gegen Influencer zu debattieren, deren akademischster Abschluss eine Rabattkooperation mit einem Proteinshake-Hersteller ist.
Man könnte, wenn man es zynisch sehen wollte, sagen: Die Menschheit hat die Aufklärung als Betriebssystem installiert – und versucht nun, im abgesicherten Modus ohne Update weiterzuleben.
Überparteilichkeit – oder: Die radikale Mitte als letzter Rest Vernunft
Was also tun? Wir brauchen eine Bewegung, die sich nicht von den Parteifarben einfangen lässt wie ein paar flatternde Ideenkleckschen im Wahlkampfwind, sondern eine, die sich kompromisslos der Verteidigung jener Prinzipien verschreibt, die weder rechts noch links, weder progressiv noch konservativ im üblichen Sinne sind – sondern schlicht zivilisatorische Mindeststandards.
Das klingt unromantisch, weil es das ist. Die Errungenschaften der Aufklärung sind kein Rausch, sondern eine Hygienevorschrift des Denkens. Man gründet keine Partei für „Zahnhygiene“, man putzt einfach die Zähne. Und doch scheinen wir genau an diesem Punkt zu stehen: Wir brauchen eine organisierte, lautstarke Lobby dafür, dass 2+2 weiterhin 4 ergibt und nicht „ungefähr 5, wenn man’s locker sieht“.
Eine solche Bewegung müsste unbestechlich sein, frei von identitätspolitischen Nebelkerzen, immun gegen Verschwörungsgerüchte und vor allem: bereit, den Preis der Unbeliebtheit zu zahlen. Denn, machen wir uns nichts vor – in einer Zeit, in der Komplexität als Zumutung gilt, wird jeder, der differenziert argumentiert, automatisch verdächtig.
Der Zynismus als letzte Verteidigungslinie
Man wird sie belächeln, diese Bewegung, wie man jeden belächelt, der noch glaubt, der Mensch könne durch Einsicht zum Besseren erzogen werden. Man wird sie als elitär beschimpfen, als „arrogant“ und „realitätsfern“, weil sie es wagt, Realität nicht als Meinungsfrage zu betrachten. Und vielleicht muss diese Bewegung das Lachen, das man über sie ergießt, nicht nur ertragen, sondern erwidern – mit einem milden, spöttischen, aber unerschütterlichen Humor.
Denn Humor ist das letzte Werkzeug derer, die wissen, dass die Welt nicht gerettet wird, indem man sie verklärt. Er ist die höfliche Form des Widerstands, der den Dummheiten der Gegenwart ein ironisches Schulterzucken entgegensetzt, ohne dabei aufzugeben.
Epilog – Der Aufruf
Meines Erachtens – und hier bin ich mir so sicher wie ein Mathematiker beim Addieren kleiner Zahlen – braucht es diese überparteiliche Bewegung. Nicht irgendwann, nicht nach der nächsten Wahl, nicht, wenn die Umfragewerte günstiger sind. Jetzt. Sofort. Wir lassen uns die Aufklärung nicht nehmen, nicht die Vernunft, nicht den Humanismus, nicht die Wissenschaft. Wir sind nicht bereit, den Schlüssel zu diesem Haus der Zivilisation im Briefkasten der Beliebigkeit zu hinterlegen.
Aber dafür muss man etwas tun. Und „etwas tun“ heißt nicht, sich in sozialen Netzwerken empört zu echauffieren und ansonsten den Algorithmus entscheiden zu lassen, was uns wichtig ist. Es heißt, die unbequeme Arbeit zu leisten, den anstrengenden Dialog zu führen, den widerspenstigen Fakten treu zu bleiben – und sich nicht zu fein zu sein, den eigenen Irrtum zuzugeben.
Es mag sein, dass das nicht sexy klingt. Aber die Aufklärung war nie ein Schönheitswettbewerb. Sie war immer ein Handwerk. Und Handwerk, das weiß jeder Meister, überlebt nur, wenn es täglich geübt wird.