Willkommen im neuen Normal

Vom europäischen Achselzucken im Angesicht iranischer Einschüchterung

Es gibt Dinge, über die man in den besseren Cafés Europas noch nicht spricht. Oder wenn, dann höchstens mit dieser speziellen Mischung aus Weltläufigkeit und schulterzuckender Gleichgültigkeit, die sich so angenehm zwischen Croissant und Flat White einfügt. Zum Beispiel darüber, dass der IRGC – der iranische Revolutionsgarden-Komplex, jene fröhliche Mischung aus Geheimdienst, Miliz und mafiösem Unternehmenskonglomerat – in Schweden mal eben 15.000 Drohbriefe verschickt hat. Ja, richtig gelesen: nicht 15, nicht 150, sondern fünfzehntausend. Das sind mehr als die Auflage mancher Regionalzeitung. Und während sich der durchschnittliche Schwede noch fragt, ob der nächste Brief vom Zahnarzt, von der Steuerbehörde oder vom persischen Gottesstaat kommt, faltet Brüssel sich gemütlich in seine gewohnte Pose der strategischen Ohnmacht.

Man könnte meinen, 15.000 Drohbriefe seien eine Kriegserklärung in Briefmarkenformat. Aber im postheroischen Westen reicht das offenbar gerade einmal für ein betretenes Räuspern auf einer Konferenz. „EU und Iran am Scheideweg“, hieß die Veranstaltung, bei der Shiva Mahboubi, die Sprecherin des Komitees für die Freiheit der politischen Gefangenen, diese kleine Anekdote aus dem europäischen Alltag vortrug. 15.000 Drohungen. Das ist in etwa die Einwohnerzahl von Eslöv. Oder, wenn Sie wollen, die Sitzplatzkapazität eines mittelgroßen Fußballstadions. Nur dass hier eben nicht über den letzten Spieltag geredet wird, sondern über Morddrohungen – ausgeführt mit der Effizienz eines Massenmailings, vermutlich per Excel-Tabelle organisiert.

Das Exportprodukt: Angst

Der Iran hat Öl, Gas und Schiitenmilizen – aber sein Haupt-Exportprodukt scheint mittlerweile die Einschüchterung zu sein. Und diese wird gerne auch mal direkt ins europäische Wohnzimmer geliefert, Porto inklusive. Der IRGC, den Europa immer noch nicht offiziell als Terrororganisation gelistet hat (man will ja niemanden verärgern, schon gar nicht die, die bereits beleidigt sind), nutzt westliche Meinungsfreiheit als Waffe gegen die westliche Meinungsfreiheit. Man könnte fast sagen: Postkoloniale Dialektik auf Scharia-Basis.

Da brennen also irgendwo in Schweden ein paar Bücher – der Koran, um genau zu sein – und die Antwort darauf ist kein theologisches Traktat, sondern eine Drohkulisse aus 15.000 Einschüchterungspostsendungen. Was lehrt uns das? Dass der Gottesstaat den Rechtsstaat nicht fürchtet, sondern benutzt. Während europäische Parlamente noch darüber diskutieren, ob eine Koranverbrennung Ausdruck der Meinungsfreiheit oder nur besonders schlechter Geschmack ist, hat Teheran längst entschieden: Das alles ist eine Einladung zum Mitspielen im asymmetrischen Psychokrieg.

TIP:  Bitte um Kenntnisnahme:

Europas höfliche Kapitulation

Und Europa? Europa murmelt irgendetwas von „Dialog“ und „kritischer Partnerschaft“, bestellt hie und da mal einen Botschafter ein (unter drei Kameras, versteht sich), um dann wieder den diplomatischen Autopilot zu aktivieren. Schließlich geht es um das große Ganze, das berühmte geopolitische Schachbrett, auf dem man sich traditionell lieber selber Schachmatt setzt als unangenehme Züge zu machen. Menschenrechte? Ja, natürlich, ganz oben auf der Agenda – direkt unter Gaslieferungen, Handelsabkommen und der Angst vor noch mehr Flüchtlingen.

Dass der IRGC in Schweden Drohbriefe verschickt, wird da schnell zur „bedauerlichen Einzelfallmaßnahme“. Die EU reagiert mit derselben Entschlossenheit, mit der man auf ein schlechtes WLAN-Signal reagiert: Man tut so, als sei es gleich wieder vorbei, wenn man nur lange genug den Kopf schüttelt.

Sicherheitsgarantie? Nein, danke!

Der Satz „Was wird getan, um die EU-Bürger zu schützen?“ wirkt da fast wie ein Witz mit Anlauf. Was getan wird? Nun ja, man diskutiert. Vielleicht gibt es demnächst ein weiteres Positionspapier, in dem „zutiefst besorgt“ konstatiert wird, dass Bedrohungen dieser Art „inakzeptabel“ seien. Ungefähr so, wie es „inakzeptabel“ ist, wenn ein Hund auf den Teppich macht – nur dass in diesem Fall niemand den Hund wegschickt. Stattdessen streicht man ihm noch übers Fell, weil man auf die nächste Gaslieferung hofft.

Man muss sich das einmal vorstellen: Ein ausländischer Geheimdienst schüchtert europäische Bürger in Massen ein – und die Antwort ist: nichts. Keine Sanktionen. Keine Einreisesperren für Funktionäre. Kein juristisches Vorgehen gegen die Hintermänner. Stattdessen betritt man das Feld der symbolischen Politik und bestellt zum 47. Mal den iranischen Botschafter ein, der sich das wie immer höflich anhört, innerlich gähnt und danach wahrscheinlich sofort den nächsten Telegram-Kanal aktualisiert.

Die Drohung als Normalzustand

Wir leben in Zeiten, in denen der Terror längst nicht mehr mit Bomben kommt, sondern mit Briefumschlägen. Der Schrecken wird nicht mehr in Nacht-und-Nebel-Aktionen ausgeführt, sondern mit der Logik des Callcenters: „Guten Tag, hier ist der IRGC – möchten Sie bedroht werden?“ Und während der postmoderne Europäer noch überlegt, ob das Satire ist oder Ernst, hat der Gottesstaat längst die nächste Excel-Liste vorbereitet.

TIP:  Der Fetisch der Mitte

Die Frage ist also nicht mehr, ob Europa auf der internationalen Bühne eine Rolle spielt. Die Frage ist, ob Europa überhaupt noch Zuschauer ist – oder längst Teil der Kulisse. Der iranische Staat exportiert Drohungen, und der europäische Staat importiert sie klaglos, weil Widerstand unbequem wäre. Das ist der Deal. Das ist der Preis der sogenannten „Zurückhaltung“.

Fazit: Ein Kontinent am Scheideweg – und niemand biegt ab

Man darf sicher sein: Es wird noch viele Konferenzen geben wie „EU und Iran am Scheideweg“. Wahrscheinlich gibt es sie bald im Monatsrhythmus. Und man wird dort viele schöne Worte sagen, die sich gut anhören und nichts bedeuten. Aber am Ende bleibt es beim alten Muster: Der Gottesstaat droht, der Rechtsstaat duckt sich. Und während Shiva Mahboubi noch fragt, wie das alles akzeptabel sein kann, poliert Europa seine rhetorischen Phrasen – bis sie so glatt sind, dass man darauf ausrutschen kann.

Die Drohbriefe sind längst angekommen. Die Frage ist nur: Wann kommt endlich die Antwort?

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