
Der Zufall als boshaftes Genie
Man stelle sich vor, ein böswilliger Gott oder wahlweise der Zufall, dieser blind torkelnde Narr der Weltgeschichte, hätte sich einen besonders schadenfrohen Scherz erlaubt: In einem verrauchten Wiener Kaffeehaus, irgendwo zwischen der Ringstraße und der eigenen Hybris, sitzen vier Männer, deren Namen sich später in die Geschichtsbücher fräsen würden. Doch 1913 sind sie lediglich Suchende, Getriebene, Mieter billiger Zimmer, Kunden zweifelhafter Schneider und gelegentliche Trinkschuldner.
Adolf Hitler, ein talentfreier Maler mit bizarrem Hass auf Architektur und noch bizarrerem Selbstverständnis, wettert gegen jüdische Kunsthändler, die seine Werke nicht kaufen wollen. Leo Trotzki, ein Revolutionär mit Gänsekiel und Weltformel im Kopf, schreibt feurige Artikel und hält sich für klüger als alle anderen. Josef Stalin, ein kaukasischer Kleinganove mit Hang zum übermäßigen Misstrauen, verteilt währenddessen Propagandazettel und notiert Namen für eine spätere Todesliste. Und Sigmund Freud? Er zieht schweigend an seiner Zigarre, mustert die Anwesenden mit klinischem Interesse und murmelt etwas von „unbewussten Komplexen“ und „infantilem Narzissmus“.
Was, wenn sie sich getroffen hätten? Was, wenn sie im Café Central bei Einspännern, Kipferln und gegenseitigen Verachtungstiraden gesessen wären? Hätten sie sich erkannt? Wohl kaum. Zu sehr waren sie von sich selbst überzeugt.
Wien als Kaleidoskop der Möglichkeiten
Es ist kaum auszuhalten: Wien 1913 ist der brodelnde Schmelztiegel Europas, ein Ort, an dem Monarchie und Moderne aufeinanderprallen wie ein Fiaker auf eine Straßenbahn. Die Stadt, getrieben von Opernklängen, antisemitischer Wühlerei und Kaffeehausdiskursen, ist eine Art historischer Nadelöhr-Alptraum.
Freud analysiert die Libido der Bourgeoisie, während Schiele und Kokoschka sie in grotesken Strichen festhalten. Hitler vegetiert in billigen Herbergen und hegt Rachefantasien gegen Professoren, die ihn nicht an der Kunstakademie wollten. Stalin, offiziell „nicht anwesend“, verdingt sich mit zweifelhaften Bankrauben für den bolschewistischen Untergrund. Trotzki poltert gegen den Kapitalismus und zahlt seinen Kaffee dennoch mit jenem verhassten Geld.
Wien ist das Jerusalem der Psychopathen, das Mekka der Ideologen, der Schmelztiegel der untergehenden Ordnung, das Babylon der Hochkultur. Hier formt sich, was Europa in den nächsten Jahrzehnten verwüsten wird, während Karl Kraus in der „Fackel“ das alles kommen sieht und sich sarkastisch über die Unfähigkeit der Zeitgenossen lustig macht.
Die Ironie der Geschichte, serviert mit Schlagobers
Die größte Satire hat die Geschichte immer noch selbst geschrieben.
Der künftige Führer Europas, der Maler werden wollte, aber nicht durfte. Der Revoluzzer, der in Wien mehr Zeit mit Schach als mit Klassenkampf verbrachte. Der psychopathische Diktator, der sich einst mit falschen Papieren durchschlug. Und der Begründer der Psychoanalyse, der all dies vermutlich auf ein ödipales Mutterproblem zurückführen würde.
Wäre Wien 1913 ein Theaterstück, man würde es als übertrieben abtun. Zu absurd, zu konstruiert, zu grotesk. Doch die Weltgeschichte ist oft nichts anderes als ein schlecht geschriebenes Drama mit dem denkbar schlechtesten Casting. Und während die vier Männer weiter an ihrem Kaffee nippen, plant ein gewisser Gavrilo Princip in Sarajewo bereits den ersten Pistolenschuss, der das ganze Gebäude zum Einsturz bringen wird.
Die Melange der Katastrophe
1913 ist das Jahr, in dem alles möglich gewesen wäre und nichts verhindert wurde. Wien, diese uralte Kaiserstadt, war der wackelige Wirtshaustisch, auf dem das Schicksal seine Karten mischte. Was, wenn man Hitler doch als Maler akzeptiert hätte? Was, wenn Trotzki in der Kürnbergergasse einen Schachclub gegründet hätte? Was, wenn Freud Stalin analysiert hätte?
Aber Geschichte lässt sich nicht mit „Was wäre, wenn“ umschreiben. Sie serviert uns den bitteren Espresso der Realität, lässt uns kurz die Sahne des Hätte-Seins schmecken und zieht dann die Tasse weg. Zurück bleibt nur das flaue Gefühl, dass Wien 1913 ein mörderischer Witz war, den keiner so recht verstanden hat.
Prosit, Weltgeschichte.