Wie die Demokratie das Kuschen lernte

Es beginnt immer schleichend. Ein kleines Augenzwinkern hier, ein Schulterzucken dort. In Deutschland empört man sich noch darüber, dass konservative Parteien mit der extremen Rechten kokettieren; in Österreich ist es längst politische Routine. Skandale, die in Berlin den Rücktritt eines Ministers auslösen würden, erzeugen in Wien bestenfalls ein resigniertes „Wird schon passen“. Die Kunst der langsamen Abstumpfung hat das alpine Land perfektioniert. Man gewöhnt sich daran, dass politische Ethik zur Geschichtskategorie wird, dass Verfassungsgerichtsentscheide nur noch Empfehlungen sind und dass Empathie als Schwäche gilt. Kurz gesagt: Wer einmal gelernt hat, mit dem Unannehmbaren zu leben, dem erscheint der Niedergang irgendwann als gelebte Normalität.

Der konservative Pakt mit dem Teufel

Konservative Parteien in ganz Europa stecken in einem Dilemma: Sie möchten modern erscheinen, aber nicht progressiv, traditionell, aber nicht altmodisch, autoritär, aber nicht diktatorisch. Und so tun sie das, was Konservative am besten können: Sie schielen nach rechts. Jedes Mal, wenn sie einen Millimeter in Richtung Extremen rücken, wird die Mitte weiter nach rechts gezogen, bis es irgendwann keinen Unterschied mehr macht, ob man eine schwarze oder eine blaue Krawatte trägt. In Österreich wurde dieser Tanz mit der FPÖ perfektioniert: Seit 25 Jahren gibt es keine Berührungsängste mehr. Die ÖVP hat sich so tief ins ideologische Sumpfgebiet begeben, dass sie inzwischen die darin lebenden Krokodile füttert, anstatt sie zu fürchten.

Demokratie? Eine Frage der Interpretation

Demokratie war einmal ein Wert. Heute ist sie eine dehnbare Verhandlungsmasse. Wenn ein Kanzler sich mit einem Klubchef der extremen Rechten zum lockeren Plausch trifft, ist das dann schon ein Bruch demokratischer Grundwerte oder nur ein pragmatischer Austausch? Wenn Medien eingeschüchtert, Kritiker diffamiert und Minderheiten als „Problem“ deklariert werden – ist das noch Demokratie oder bereits deren Aushöhlung? Die Antwort darauf hängt davon ab, wen man fragt. Die einen sagen: „Ja, aber wir haben Wahlen!“ Die anderen entgegnen: „Und was, wenn diese Wahlen immer weiter manipuliert werden?“ Österreich hat sich an solche Fragen gewöhnt, in Deutschland fängt man gerade erst an, sie zu stellen.

TIP:  Die Große Koalition als Zwerghamster der Demokratie

Die Verrohung als Volkssport

Man sagt, dass ein Frosch, wenn man ihn in kaltes Wasser setzt und dieses langsam erhitzt, nicht merkt, dass er gekocht wird. Die europäischen Gesellschaften funktionieren nach demselben Prinzip. Man gewöhnt sich an Sprache, die gestern noch Tabu war. Man toleriert Hass, weil er nicht gegen einen selbst gerichtet ist. Und irgendwann, wenn man bemerkt, dass das Wasser verdächtig warm wird, ist es zu spät. Diese schleichende Normalisierung des Autoritären ist das, was Holocaust-Überlebende wie Eva Szepesi warnend in Erinnerung rufen. Die Shoah begann nicht mit Auschwitz, sondern mit Worten, mit Schweigen, mit Wegschauen. Und wenn wir eines aus der Geschichte gelernt haben sollten, dann das: Demokratie stirbt nicht plötzlich. Sie wird stückweise zerlegt, bis sie nur noch ein leerer Begriff ist, den niemand mehr ernst nimmt.

Schlussgedanken oder: Warum es (noch) nicht zu spät ist

Die gute Nachricht ist: Noch kann man sich entscheiden. Noch kann man sich empören, noch kann man protestieren, noch kann man Haltung zeigen. Aber es wird nicht einfacher werden. Wer schweigt, der gewöhnt sich. Wer sich gewöhnt, der akzeptiert. Und wer akzeptiert, der verliert am Ende alles. Die Frage ist also nicht, ob man sich aufregt, sondern wie lange man sich noch erlaubt, nicht zu resignieren.

Please follow and like us:
Pin Share