Wenn Geschichte auf Asphalt trifft

Straßenkampf der Erinnerung

In einer Zeit, in der urbane Namensgebung zur Ersatzreligion politischer Selbstvergewisserung verkommt, schlägt nun ein neues Kapitel der semantischen Weltverbesserung auf: Eine Straße in Wien soll nach Mustafa Kemal Atatürk benannt werden. Ja, genau: Atatürk. Der Mann, der das osmanische Reich in die Moderne prügelte, die Kalligrafie verbannte, den Bartwuchs der Religion unterwarf und das Tragen von Hüten staatlich reglementierte. In seiner Heimat ein Heiliger der Säkularisierung, in Europa ein Fremdkörper zwischen Projektion und Unkenntnis – und nun ein Kandidat für die Straßenschilder Wiens? Willkommen in der posthistorischen Komödie der Bedeutungslosigkeit, in der Erinnerungspolitik nicht von Historikern, sondern von Online-Petenten kuratiert wird.

Kolonien der Korrektheit – Wer erinnert, regiert

Straßen sind längst keine Verkehrsadern mehr, sondern moralisch aufgeladene Träger identitärer Signale. Wer in Berlin eine Mohrenstraße umbenennen will oder in München darüber diskutiert, ob ein alter CSU-Bürgermeister noch tragbar ist, der führt keine verkehrsplanerische Debatte, sondern einen Stellvertreterkrieg um die Deutungshoheit der Geschichte. Und nun also Atatürk. Als ob Wien – die ehemalige Hauptstadt eines untergegangenen Multikulti-Großreichs – noch nicht genug Phantomschmerz im Umgang mit seiner eigenen imperialen Vergangenheit hätte.

Doch es geht ja nicht um Geschichte, sondern um Haltung. Um symbolpolitische Selbstveredelung im Zeitalter des digitalen Altruismus. Eine Straße für Atatürk – das klingt nach Versöhnung, nach internationaler Aufgeschlossenheit, nach einem urbanen Multikulturalismus mit Latte-Macchiato-Temperament. Dass der Mann autoritär regierte, die Presse knebelte, Minderheiten assimilierte und das Kurdenproblem nicht löste, sondern verwaltete – geschenkt. Hauptsache, der Name klingt weltläufig und erzeugt auf Google Maps ein gutes Gefühl.

Vom Sultanspalast zur Stadtverwaltung – Identitätspolitik mit Ottomanenstaub

Die Ironie ist kaum zu überbieten: In einer Stadt, die zweimal einer osmanischen Belagerung standhielt, soll nun ein Mann geehrt werden, der das Erbe dieser Osmanen abwickelte wie eine schlecht laufende GmbH. Die K.u.k.-Residenzstadt soll also dem säkularen Totengräber des Kalifats die Hand reichen – und so tun, als sei das alles ein Zeichen von kulturellem Weitblick. In Wahrheit ist es nichts anderes als die kapitulierende Geste einer hypermoralischen Gesellschaft, die ihre eigene Geschichte lieber externalisiert als aufarbeitet.

TIP:  VON MORAL UND MÄRKTEN

Denn während man sich über Atatürk-Straßen freut, diskutiert man in anderen Bezirken darüber, ob man Karl Lueger posthum noch behalten darf oder endlich verbannen muss. Die Vergangenheit wird dabei wie ein Wühltisch auf dem Flohmarkt der Tugendhaftigkeit durchstöbert: Was kann bleiben, was muss weg, und was lässt sich gewinnbringend durch einen moralisch kompatibleren Namen ersetzen?

Die Petition als Passion – Demokratie der Clicks

Das Begehr selbst kommt, wie könnte es anders sein, in Form einer Petition. Die moderne Form der politischen Erhebung – bequem, digital, kostenfrei und vor allem: risikolos. Wo früher Unterschriftenlisten mit Kugelschreiber durch verrauchte Hinterzimmer kursierten, genügt heute ein Klick aus der U-Bahn heraus, um Geschichte umzuschreiben. Es ist die Demokratisierung der Symbolik, entkoppelt von Sachverstand, historischen Tiefenschärfen oder kulturellem Kontext.

Man muss sich das vorstellen: Der öffentliche Raum einer 2000-jährigen Stadtgeschichte wird zum Spielball spontaner Mobilisierungen, zum gestalterischen Wunschzettel der hypervernetzten Empörungskultur. Man votiert nicht mehr für Parteien, sondern für Straßennamen. Die Stadt wird zur Arena politisch-ästhetischer Schönheitschirurgie, bei der jeder meint, er könne mitreden – weil: Warum eigentlich nicht?

Straßen mit Haltung – Asphalt als Weltanschauung

Was früher nach Funktion benannt wurde – Mühlgasse, Ziegelofengasse, Obere Donaustraße – dient heute der weltanschaulichen Zementierung gesellschaftlicher Lager. Es geht längst nicht mehr um Orientierung, sondern um Distinktion. Die Straße ist kein Weg mehr, sondern ein Statement. Und wer sie betritt, marschiert nicht einfach durch ein Viertel, sondern durch eine Erzählung – kuratiert, codiert, korrekt.

In diesem Sinne passt Atatürk hervorragend in die neue Weltordnung des urbanen Symbolismus. Nicht, weil er zu Wien gehört, sondern weil er eben nicht dazugehört. Seine Nennung wäre ein Bruch, ein bewusst gesetzter Akzent, ein semiotischer Stolperstein für alle, die immer noch glauben, Straßen seien bloß Infrastruktur.

Postskriptum aus dem Archiv der Absurdität

Natürlich wird es nicht bei Atatürk bleiben. Hat man einmal damit begonnen, historische Figuren nach Beliebtheit zu sortieren, öffnen sich die Tore der Parodie. Warum nicht auch eine Erdoğan-Promenade, gleich gegenüber der Tibet-Allee? Oder ein Bin-Zayed-Boulevard in Favoriten, als Geste geopolitischer Diplomatie? Vielleicht eine Greta-Thunberg-Sackgasse mit Fahrradständern aus recyceltem Aktivismus? Die Möglichkeiten sind endlos – solange die Ironie noch billig und die Öffentlichkeit kurzatmig ist.

TIP:  Lösch Dich

Fazit: Der öffentliche Raum als moralische Projektionsfläche

Es geht nicht um Atatürk. Es geht nie um Atatürk. Es geht um uns. Um das gute Gefühl, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen, auch wenn man sie gar nicht gelesen hat. Um den moralischen Mehrwert einer symbolischen Geste, die keine Konsequenzen kennt. Um die wohldosierte Erregung über Themen, die niemandem wehtun – außer vielleicht dem historischen Bewusstsein.

Die Straße mag neu benannt werden. Die Ironie bleibt.

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