Wenn Erinnerungspolitik zum Schulaufsatz mutiert

Es gibt Ereignisse, deren Symbolkraft so monumental ist, dass selbst die Berliner Bürokratie sie nicht völlig in einer Excel-Tabelle wegfiltern kann. Der 8. Mai – das offizielle Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa, die Kapitulation Nazideutschlands, die Stunde null, der Tag, an dem das Grauen, der industrielle Mord, das flächendeckende Elend offiziell gestoppt wurde – gehört dazu. Und wenn man einen solchen Tag feiert (Entschuldigung, gedenkt!), dann sollte man sich wohl ein wenig zusammenreißen, denkt man. Ein bisschen Contenance. Ein bisschen Würde. Ein bisschen historische Verantwortung.

Aber wir leben ja bekanntlich in Zeiten, in denen Würde inflationär durch Hashtags ersetzt wird. Also kam jemand auf die glorreiche Idee, zum 80. Jahrestag des Kriegsendes nicht alle Sieger dieses Krieges einzuladen. Genauer: Man lud explizit die diplomatischen Vertreter Russlands und Weißrusslands aus. Nicht einfach ignoriert, nein – ausgeladen. Wie ein pöbelnder Onkel auf einer Hochzeit, der die Braut einst sitzenließ. Mit maximaler Geste. Mit ernster Miene. Und, natürlich, mit dem üblichen Pathos, das deutsche Politiker entwickeln, wenn sie mit empörter Stimme von der Weltbühne herab ein „Zeichen setzen“.

Man fragt sich, ob irgendwann die ganze Republik einfach in ein riesiges Schild verwandelt wird. „Hier wird ein Zeichen gesetzt.“ Drunter: ein QR-Code, der zu einer flammenden Bundestagsrede führt. Authentisch wie ein Werbespot für Zahnzusatzversicherungen.

Was ist Geschichte, wenn man sie sich passend zusammenschneidet?

Es ist schon ein bemerkenswerter Vorgang: Deutschland, das Land, dessen Hauptstadt 1945 vor allem von sowjetischen Soldaten befreit (oder – je nach Gusto des Geschichtsbuchs – erobert) wurde, lädt 80 Jahre später den Nachfolger jenes Staates aus, der dabei den größten Blutzoll zahlte. Über 25 Millionen Tote. Ein Großteil davon Zivilisten. Ganze Landstriche verbrannt. Städte ausradiert. Familien zerfetzt. Und als Dank dafür: Tür zu. Einladung entzogen. „Sorry, passt gerade nicht ins Narrativ.“

Natürlich, es geht um den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Natürlich, Putin ist ein Autokrat, der Völkerrecht bricht und Propaganda zu seiner Religion erhoben hat. Kein vernünftiger Mensch würde das relativieren wollen. Aber – und jetzt kommt das große, böse ABER, vor dem deutsche Moralisten gerne panisch zurückzucken wie Vampire vor Knoblauch – darf man die Geschichte deswegen umetikettieren? Darf man mit der Nagelfeile der Gegenwart an den historischen Tatsachen herumschaben, bis sie wieder ins ästhetische Fenster der aktuellen Bundesregierung passen?

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Der sowjetische Soldat, der 1945 in Berlin fiel, war kein Parteigänger Putins. Er hatte kein Twitter-Account, auf dem er Desinformation verbreitete. Er war ein Mensch, der in einem brutalen Krieg gegen ein noch brutaleres Regime kämpfte. Und der jetzt offenbar – diplomatisch gesprochen – von seinem eigenen Andenken ausgeladen wurde.

Gedenken mit Schaum vor dem Mund

Natürlich, das Ganze ist auch eine mediale Inszenierung. Und wir Deutschen lieben unsere Inszenierungen. Insbesondere, wenn sie in Anzügen stattfinden und Sätze beinhalten wie: „Wir stehen fest an der Seite der Ukraine“ – eine Formulierung, die inzwischen so oft recycelt wurde, dass man sie vermutlich bald auf nachhaltigem Karton gedruckt in jedem Bioladen kaufen kann.

Der Ausschluss der russischen und weißrussischen Botschafter ist kein diplomatischer Fauxpas – das wäre zu harmlos –, sondern ein kalkulierter Affront. Ein politisches Schauspiel, bei dem man sich am liebsten selbst applaudieren würde, während man auf einem Mahnmal tanzt. Es geht nicht mehr um Gedenken, sondern um Geltung. Nicht um Versöhnung, sondern um Verwertung. Wer Geschichte heute nicht instagramkompatibel verpacken kann, wird eben gelöscht. Oder ausgeladen. Oder – im besten Fall – einfach totgeschwiegen.

Der Staat als moralischer Erzieher mit Gedächtnislücke

Was bleibt also von dieser Form des Gedenkens? Eine Art schulmeisterliche Pädagogik, bei der sich die Regierung als moralischer Oberlehrer geriert und der Welt erklärt, was man aus der Geschichte zu lernen habe – wohlgemerkt: aus einer selektierten Geschichte, zusammengeschnitten mit der Effizienz eines Imagevideos.

Es ist eine Form von Erinnerungskultur, die weniger an Kultur erinnert als an ein schlecht moderiertes Talkshowpanel: laut, selbstgerecht, vergesslich. Der historische Kontext wird nicht mehr mühsam erarbeitet, sondern passend gebogen. Wenn’s nicht passt – wird’s ignoriert. Oder, im Fall russischer Diplomaten: rausgeschmissen. Die eigene moralische Überlegenheit fühlt sich eben am besten an, wenn man keine Gegenstimmen im Raum hat.

Fazit: Man kann sich auch zu Tode erinnern – solange es dem Zeitgeist gefällt

Am Ende bleibt eine bittere Ironie: Ausgerechnet Deutschland, dessen Schuld am Zweiten Weltkrieg unauslöschlich in den Annalen steht, maßt sich an, bei der Gedenkfeier zum Kriegsende selektiv zu kuratieren, wer als würdig gilt, anwesend zu sein. Ausgerechnet das Land, dessen Hauptstadt durch sowjetisches Blut befreit wurde, erklärt dem diplomatischen Vertreter der Sowjetnachfolge den Zugang zur Erinnerung für unzumutbar.

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Das ist kein „Zeichen“, das ist eine Kapitulation – vor dem eigenen Anspruch, Geschichte ehrlich, komplex und würdig zu behandeln.

Aber hey – vielleicht gibt’s ja nächstes Jahr ein neues Gedenkformat: Nur mit den „guten“ Mächten. Mit moralischem TÜV-Siegel. Ohne lästige Ambivalenzen. Hauptsache, es gibt Häppchen.

Und ein Gruppenfoto mit Kanzlerlächeln. Hashtag: #NieWieder.

Mit freundlichen Grüßen,
Ihr satirisch-gedächtnisbewahrender Erinnerungsbeauftragter.

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