Weihnachtsgeschichte 2025

In wenigen Stunden werden wieder Kerzen entzündet, Lieder angestimmt, der Glühwein erwärmt und jene eigentümliche Rührung kultiviert, die sich jedes Jahr zuverlässig einstellt, wenn wir der Geburt eines jüdischen Kindes gedenken, dessen einziges Kapital Worte waren – Sätze, Gleichnisse, Zumutungen –, und das gerade dadurch zum wohl wirkmächtigsten Revolutionsführer der Weltgeschichte wurde. Keine Armee, kein Palast, kein Staatsapparat, nicht einmal ein Schwert; nur Sprache, nur Sinn, nur eine radikale Ethik, die Macht durch Wahrheit ersetzte und Wahrheit gefährlicher machte als jede weltliche Gewalt. Dass diese Worte gefürchtet wurden, ist kein Wunder: Sie unterliefen Imperien, entlarvten Heuchelei, zogen den Herrschenden den Teppich aus moralischer Selbstgewissheit unter den Füßen weg. Und doch feiern wir dieses jüdische Kind heute oft so, als sei es eine harmlose Porzellanfigur, eine sentimentale Dekoration zwischen Lichterkette und Rabattaktion – entkernt, entschärft, entjudet.

Das Fest der Verdrängung

Während wir also die Geburt eines Juden feiern, der den christlichen Glauben begründete, tobt in vielen Städten der westlichen Welt ein antisemitischer Furor, der sich modern gibt, global vernetzt ist und sich gerne hinter moralischen Parolen verschanzt. Menschen werden bedroht, angegriffen, mitunter getötet, nicht wegen individueller Taten, sondern wegen ihrer bloßen Existenz als Juden. Auf Straßen, an Universitäten, in kulturellen Räumen wird eine alte Obsession neu etikettiert: Judenhass als vermeintlicher Widerstand, als angeblich progressives Engagement, als modischer Ersatz für Denken. Der Zynismus dieser Gleichzeitigkeit ist atemberaubend: Wir singen vom „Frieden auf Erden“ und erklären zugleich, warum Juden sich besser verstecken, ihre Symbole ablegen, ihre Stimmen senken sollten – zu ihrer eigenen Sicherheit, versteht sich. Es ist die Pädagogik der Einschüchterung, vorgetragen mit dem Tonfall moralischer Überlegenheit.

Die Wiederkehr der Herbergslosigkeit

Die Weihnachtsgeschichte erzählt von Josef und Maria, Juden aus Nazareth, die keine Herberge fanden, von verschlossenen Türen und administrativer Kälte. Man staunt darüber – historisch gerührt, gefahrlos empört. Doch während wir diese Szene jedes Jahr nachspielen, entsteht erneut eine Atmosphäre, in der Juden sich fragen müssen, ob dieses Land noch ihr Zuhause ist. Ein Milieu, das sich als aufgeklärt und humanistisch versteht, aber Antisemitismus nur erkennt, wenn er in historischer Tracht auftritt, sorgt dafür, dass jüdisches Leben wieder zur Zielscheibe wird. Staatlich alimentierte Projekte, kulturelle Institutionen, akademische Zirkel – sie alle versichern unablässig ihre guten Absichten und erklären gleichzeitig, warum der Hass, der vor ihren Augen wuchert, eigentlich keiner sei. Das Resultat ist bitter ironisch: Ausgerechnet in Gesellschaften, die sich ihrer Lehren aus der Geschichte so sicher sind, packen Juden wieder Koffer und suchen Zuflucht dort, wo sie wenigstens wissen, warum sie bedroht werden.

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Moral als Tarnkappe

Besonders perfide ist die moralische Umkehrung, die diesen Zustand begleitet. Antisemitismus wird nicht mehr als solcher bekämpft, sondern kontextualisiert, relativiert, funktionalisiert. Er erscheint als Kollateralschaden höherer Ziele, als verständliche Reaktion, als notwendige Zuspitzung. Wer widerspricht, gilt schnell als unsensibel, reaktionär oder – das Totschlagargument unserer Zeit – „problematisch“. In dieser Logik wird der Jude vom Subjekt zum Symbol, vom Menschen zum Argument. Seine reale Angst stört die saubere Theorie, sein reales Leben passt nicht in die wohlgeordnete Empörungshierarchie. Dass dabei auch radikale islamistische Ideologien, die Judenhass offen propagieren, aus falsch verstandener Toleranz geschont oder gar indirekt legitimiert werden, gehört zu den großen intellektuellen Bankrotterklärungen unserer Epoche.

Die belagerte Erinnerung

Wer die Juden verrät, verrät nicht irgendeine Minderheit, sondern die Wurzeln der eigenen Kultur. Das ist keine pathetische Überhöhung, sondern eine nüchterne Feststellung. Judentum ist kein Anhängsel des Abendlandes, es ist eines seiner Fundamente – religiös, ethisch, intellektuell. Weihnachten ohne das Jüdische ist Folklore ohne Inhalt, ein Ritual ohne Ursprung. Wer also heute mit ruhigem Gewissen antisemitische Ressentiments duldet, relativiert oder in geopolitische Abstraktionen auflöst, sägt an dem Ast, auf dem er sitzt, und nennt es Fortschritt. Die historische Ironie ist grausam und beinahe komisch, wäre sie nicht so gefährlich: Ausgerechnet jene, die sich als antifaschistisch verstehen, reproduzieren Denkfiguren, die Juden wieder zu Fremden erklären.

Ein augenzwinkernder Ernst

Vielleicht hilft nur noch der Galgenhumor, um diese Widersprüche auszuhalten. Wir feiern die Geburt eines jüdischen Kindes mit Lichterglanz und verweigern lebenden Juden die Selbstverständlichkeit von Sicherheit. Wir beschwören „Nie wieder“ und üben uns im „Schon wieder, aber anders gemeint“. Wir nennen es Satire, wenn wir lachen, und Zynismus, wenn wir schweigen. Und doch bleibt die Hoffnung, dass die Worte jenes Kindes – unbequeme, klare, entlarvende Worte – noch immer wirken können, wenn man sie ernst nimmt. Sie richten sich nicht gegen Macht als solche, sondern gegen ihre moralische Verkleidung. Vielleicht wäre das die radikalste Weihnachtsbotschaft: weniger Kerzen, mehr Klarheit; weniger Selbstgerechtigkeit, mehr Verantwortung. Und ja, das wäre tatsächlich revolutionär.

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