Was gesagt werden muss(te) – aber von diesem Mann besser nie

Es ist eine der schaurigsten Ironien deutscher Nachkriegsgeschichte, dass ein Mann, der einst die Uniform der SS trug, Jahrzehnte später mit gewaltiger Stimme zum moralischen Sprachrohr einer ganzen Republik aufstieg – und schließlich seine Feder zu einer Anklageschrift gegen den jüdischen Staat schwang. Nein, nicht irgendein Antisemit, nicht irgendein alter Nazi auf einer Bierbank irgendwo in Niederbayern. Es war ein Nobelpreisträger, ein weltweit gefeierter Literat, der öffentlich Jahrzehnte lang mit moralischer Gravität den Zeigefinger hob, als hätte er nie mitgehoben, als es wirklich zählte.

Günter Grass – der Inbegriff des deutschen Gewissens, das offenbar so lange blind war, wie es in die eigene Vergangenheit blickte, und erst dann hellsichtig wurde, als es andere anklagen konnte. In seinem Gedicht „Was gesagt werden muss“ sprach Grass 2012 das aus, was viele dachten, aber sich nicht zu sagen trauten. Doch das Problem war nicht der Inhalt. Das Problem war der Absender. Denn aus einem Mund, der so lange geschwiegen hatte über das eigene Schweigen, wirkt jede Wahrheit wie ein moralischer Bankrott, der sich selbst für Bargeld hält.

Wenn die Selbstkritik zur Maske wird

Was gesagt werden muss? Vielleicht: Dass ein Mensch, der sich jahrzehntelang als moralische Instanz inszeniert hat, sich nicht selbst die Absolution ausstellen darf, indem er erst mit 78 Jahren gesteht, was er mit 17 schon wusste. Es ist nicht die Schuld der Jugend, die hier zur Debatte steht, sondern die Lebenslüge der Reife. Dass Grass Mitglied der Waffen-SS war, ist ein historischer Fakt. Dass er dies öffentlich verschwieg, während er anderen die Geschichtsvergessenheit ankreidete, ist ein intellektueller Offenbarungseid – einer, den man nicht mit ein paar Versen aufwiegen kann, wie tiefsinnig sie auch formuliert sein mögen.

Denn der Skandal liegt nicht in dem, was gesagt wurde, sondern darin, wer sich anmaßte, es zu sagen. Der Mann, der einst in SS Uniform stand, als andere deportiert wurden, stand später auf Podien, als wären die Flecken auf seiner Biografie bloß Druckerschwärze. Und als er endlich seine Vergangenheit einräumte, tat er es im Duktus einer Beichte, die mehr Rechtfertigung war als Reue. So wurde aus dem Schriftsteller ein Fall für die literarische Ethikkommission – gäbe es denn eine.

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Die Rezeption: Empörung, Verklärung, moralischer Tourismus

Die Reaktionen auf Grass‘ Gedicht schwankten zwischen empörter Ablehnung und verschwörerischer Zustimmung, zwischen feuilletonistischem Entsetzen und altlinkem Schulterklopfen. Und wie immer in Deutschland, wenn es um Schuld und Israel geht, verläuft die Debatte nicht entlang von Argumenten, sondern entlang von Identitäten: Wer sagt’s, wann sagt er’s, und wie viel Unschuld darf man ihm noch unterstellen?

So wird aus einem moralisch ambivalenten Text ein Schlachtfeld kultureller Projektionen: Die einen sehen den mutigen Mahner, der den Finger in die Wunde legt. Die anderen sehen einen alten Mann, der mit kalkuliertem Skandal die eigene moralische Unschuld zurückkaufen will. Und beide haben ein bisschen recht – was die ganze Angelegenheit so unerträglich macht.

Denn der Grass-Fall ist kein literarischer Skandal. Er ist ein nationalpsychologischer. In ihm spiegelt sich das deutsche Bedürfnis nach moralischer Erlösung, nach gerechter Empörung, nach einem letzten Aufbäumen gegen die eigene Geschichte – und sei es auf dem Rücken eines Gedichts.

Vom Sprechen, Schweigen und dem Recht auf Wahrheit

Was gesagt werden muss? Vielleicht, dass das Recht, die Wahrheit zu sagen, nicht nur vom Inhalt, sondern auch von der Integrität des Sprechers abhängt. Wer jahrzehntelang schwieg über das eigene Versagen, hat das moralische Kapital verspielt, um sich als Warner aufzuspielen. Er kann sich äußern, natürlich – das ist sein Recht. Aber er muss damit leben, dass ihm niemand mehr zuhört, ohne einen bitteren Beigeschmack zu verspüren.

Und gerade in Zeiten, in denen politische Haltungen wieder mehr von Gefühlen als von Fakten getragen werden, wiegt das Vertrauen in den moralischen Sprecher schwerer denn je. Wer sich selbst zum Richter erklärt, sollte wenigstens den eigenen Tatbestand offenlegen, bevor er andere verurteilt. Sonst wird aus Kritik nur Projektion, aus Engagement nur Eitelkeit, aus Mahnung nur Pose.

Ein Contra gegen den Wahnsinn: Wenn Täter zu Richtern werden

Wir leben in einer Zeit, in der moralische Autorität schnell beansprucht wird – auf Twitter, auf Bühnen, in Essays. Doch selten wird gefragt, wer sie eigentlich verdient. Günter Grass hat mit seinem Gedicht ein Thema angesprochen, das diskutiert werden darf, muss sogar. Aber sein eigenes Leben hatte ihn dafür disqualifiziert. Es ist, als würde ein Veganer, der heimlich Fleisch isst, auf einem Kongress gegen Massentierhaltung sprechen – mit blutigen Händen in der Jackentasche.

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Und darin liegt der eigentliche Wahnsinn: Dass wir verlernt haben, zwischen Argument und Absender zu unterscheiden – nicht, um Argumente zu diskreditieren, sondern um Maß zu halten im moralischen Furor. Wer Täter war und jahrzehntelang dazu schwieg, sollte nicht glauben, dass er durch Worte allein zum Richter wird. Er bleibt – wenn auch literarisch verpackt – Teil des Problems, das er beklagt.

Die Moral von der Geschichte

Was gesagt werden muss? Dass Wahrheit nichts verliert, wenn sie von den Falschen geschwiegen wird – aber alles, wenn sie von den Falschen verkündet wird.
Günter Grass hat uns ein letztes Mal gezeigt, was passiert, wenn persönliche Eitelkeit sich mit moralischer Selbstinszenierung paart: Es entsteht kein Diskurs. Es entsteht ein deutsches Drama in Versform. Mit einem tragischen Helden, der keiner war, und einer Botschaft, die in der Mündung der eigenen Biografie verhallt.

Denn was gesagt werden muss, sollte man nicht jahrzehntelang verschweigen –
und schon gar nicht, wenn man es sich erst sagt, nachdem man selbst erwischt wurde.

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