Warum hat Meinung plötzlich einen Korridor?

Vom Flur ins Korsett – die Metamorphose der Meinung

Man muss sich die Szene einmal plastisch vorstellen: Da schleicht eine Meinung, noch unschuldig wie ein Teenager auf Klassenfahrt, durch die weite Landschaft der Sprache. Früher durfte sie über Wiesen tollen, Berggipfel erklimmen, sogar auf dem Parkplatz von Philosophen herumlungern. Heute jedoch hat man ihr – man weiß gar nicht, wann genau – den Zutritt zum offenen Gelände untersagt. Stattdessen wird sie in einen Korridor gesperrt. Schlank, funktional, fensterlos. Rechts eine Wand, links eine Wand, vor ihr eine Tür, hinter ihr ein Wachhund. Man nennt das dann „Debattenkultur“, was ungefähr so ehrlich ist, als würde man ein Atomkraftwerk „Lagerfeuer“ nennen.

Die Architektur der Empörungsgesellschaft

Ein Korridor ist ein Durchgang, kein Aufenthaltsraum. Man hält sich nicht dort auf, man eilt hindurch. Meinung im Korridor bedeutet: bitte schnell, präzise, stromlinienförmig – keine Ausfälle nach rechts oder links, keine Tapetenwechsel, kein Teppich, auf dem man ausrutschen könnte. Alles steril. Wer zu lange stehenbleibt, gilt als verdächtig, wer gar einen Abzweig sucht, als subversiv. Und die Korridorgestaltung? Sie folgt der Architektur der Empörungsgesellschaft: möglichst schmal, damit die Reibung steigt. Wenn zwei Meinungen sich begegnen, bleiben sie stecken wie zwei übergewichtige Urlauber in der Hoteltür. Das erzeugt Reibungswärme, die wiederum auf Twitter als „heftige Debatte“ gelabelt wird.

Von der Landkarte zur Etikette

Der Begriff „Korridor“ stammt ursprünglich aus der Geopolitik. Da denkt man an Danzig, an Suwalki, an fremdbestimmte Streifen Land, die Staaten verbinden oder trennen. Dass dieser Begriff nun auf das unschuldige Feld der Meinungen übertragen wurde, ist mehr als ein sprachliches Kuriosum – es ist eine stille Drohung. Denn wer sagt „Meinungskorridor“, der sagt im gleichen Atemzug: Deine Gedanken sind nicht grenzenlos, sie sind durch fremdes Hoheitsgebiet limitiert. Man darf sich das vorstellen wie bei Monopoly: Dein Kopf ist eigentlich dein Eigentum, aber gewisse Felder gehören jetzt anderen. Ziehst du über deren Linie, zahlst du Miete in Form von Shitstorms, Arbeitsplatzverlust oder ewiger Cancelbarkeit.

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Toleranz als Sicherheitsdienst

Im Korridor wacht Toleranz, allerdings in einer sehr eigentümlichen Gestalt. Sie trägt Uniform, manchmal auch einen Genderstern im Abzeichen, und führt die scharfe Klinge der moralischen Hygiene. Toleranz bedeutet nicht mehr: „Du darfst anders denken, ich ertrage das“, sondern: „Du darfst anders denken, solange du es exakt so formulierst, dass meine Gefühle nie auch nur ansatzweise tangiert werden.“ Es ist, als hätte man die Sicherheitskontrolle am Flughafen auf jede Alltagssituation ausgeweitet: Gürtel ausziehen, Sprache entwaffnen, Ironie im Koffer gesondert anmelden. Wer Humor nicht deklariert, gilt als verdächtig. Satire darf zwar noch alles, aber besser nichts mehr, weil Satire inzwischen als konspirativer Schmuggelversuch von Gedankengift gilt.

Die Korridor-Ökonomie

Natürlich hat die Einengung der Meinungskorridore auch ökonomische Dimensionen. Medienhäuser, die früher noch stolz wie Marktplatzschreier ihre Differenzen ausstellten, bieten heute Paketlösungen an: Meinung im Abo, schmal portioniert, stets entlang der Mittellinie. Die Algorithmen, diese digitalen Flure des 21. Jahrhunderts, verengen zusätzlich. Wer zu oft links oder rechts abbiegt, findet sich im Keller des Diskurses wieder, wo man nur noch mit Gleichgesinnten Karten spielt. Der Korridor schrumpft also nicht nur räumlich, er wird auch ökonomisch verwaltet: Eintritt frei, aber Austritt verboten.

Der Spaß im Spalt

Doch ehe wir uns in kulturpessimistische Düsternis verlieren: Ein Korridor hat auch seine komischen Seiten. Er ist akustisch ein Traum – jedes kleine Wort hallt dutzendfach zurück. Ein leichtes Hüsteln wird zur Grundsatzfrage, ein ironischer Halbsatz zum Staatsverrat. Das macht das Spiel spannend. Wer hier den Witz wagt, kann gleich die gesamte Echokammer unterhalten. Und vielleicht liegt darin die letzte Hoffnung: Dass das Lachen, dieses anarchische Biest, die Tapeten aufsprengt und die Türen aus den Angeln hebt. Denn noch ist kein Korridor gebaut, der nicht irgendwann zu einem Raucherflur, einem Schwarzmarkt oder wenigstens zu einer spontanen Polonaise umfunktioniert wurde.

Fazit: Die Schmalspur der Freiheit

Warum also hat Meinung einen Korridor? Weil man es so eingerichtet hat. Weil der freie Marktplatz der Ideen zu unübersichtlich wurde und man lieber eine Einbahnstraße durchzieht, an deren Ende die Ausgabe der gültigen Narrative wartet. Aber Korridore haben auch etwas Unfreiwilliges, beinahe Slapstickhaftes. Wer darin läuft, stößt sich die Schultern, verliert die Orientierung, kommt ins Stolpern – und genau dort lauert das Subversive. Vielleicht ist es die eigentliche Aufgabe der Meinung, nicht brav durch den Korridor zu marschieren, sondern mit der Brechstange durch die Wand zu brechen. Nur um draußen wieder festzustellen: Auch dort wartet schon der nächste Flur.

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