
Die Vernunft, dieses scheue Reh
Immanuel Kant, dieser alte Königsberger Pedant mit Hang zu Spaziergängen und Systematik, hat es uns bereits in der berühmten Formulierung eingetrichtert: „Der Friede ist das Meisterstück der Vernunft.“ Das klingt natürlich wunderbar erhaben – wie eine Fanfare der Aufklärung, die im Hintergrund von Posaunen der Geschichte begleitet wird. Nur: Die praktische Politik ist kein Konzertsaal der Vernunft, sondern eher eine schlecht gestimmte Dorfkapelle, die mit viel Enthusiasmus falsche Töne produziert. Man könnte sagen, dass die Vernunft, auf die Kant so sehr setzte, in den heutigen Machtzentren bestenfalls als unbezahlter Praktikant beschäftigt wird – ohne Schlüsselkarte, ohne Stimme, bestenfalls geduldet, wenn es darum geht, eine nette Fußnote in einer Rede zu zieren.
Die Politiker – Vernunftverweigerer aus Leidenschaft
Die gegenwärtige Politikergeneration – egal ob in Moskau, Washington, Brüssel oder Berlin – zeigt uns, dass Vernunft nicht nur Mangelware, sondern regelrecht suspekt ist. Wer zu sehr vernünftig argumentiert, gilt wahlweise als „naiv“, „putinverstehend“ oder „kriegsunwillig“ – was in diesen Zeiten ungefähr so anrüchig ist, wie im Mittelalter die Behauptung, die Erde sei keine Scheibe. Die politischen Bühnenakteure scheinen vielmehr einem kollektiven Trieb nach Machterhalt, Schlagzeilen und symbolträchtigen Gesten zu folgen. Vernunft würde hier nur stören, sie könnte womöglich dazu führen, dass man über Waffenlieferungen nachdenkt, bevor man sie euphorisch verkündet. Oder dass man hinterfragt, ob endlose Sanktionen nicht vielleicht auch die eigene Wirtschaft in die Knie zwingen, bevor sie den Gegner lähmen. Doch das wäre zu viel verlangt – und der Mangel an Vernunft wird im politischen Geschäft nicht als Defizit, sondern als Ausweis strategischer „Härte“ verkauft.
Diplomatie als Showgeschäft
Statt Vernunft sehen wir Inszenierung: Gipfeltreffen, bei denen die Teilnehmer mehr Zeit auf dem Roten Teppich verbringen als in Verhandlungsräumen. Pressekonferenzen, die mit Begriffen wie „Dialogbereitschaft“ jonglieren, während hinter den Kulissen bereits die nächsten Waffenpakete gezählt werden. Diplomatie ist zur Realsatire geworden, in der jeder die Rolle des Friedensfreundes spielt, um gleichzeitig das eigene Arsenal zu vergrößern. Würde Kant heute zusehen, er würde vermutlich seinen Spazierstock frustriert in den Königsberger Pflastersteinen zerbrechen und mit dem resignierten Seufzer nach Hause humpeln: „Sapere aude? Vergesst es, meine Kinder!“
Kriegslogik schlägt Vernunftlogik
Es ist, als ob die Vernunft in einer Arena gegen die Kriegslogik antreten müsste – David gegen Goliath, nur dass David diesmal unbewaffnet und schielend auftritt. Kriegslogik hat den unschlagbaren Vorteil, dass sie simpel ist: „Wir“ sind die Guten, „die anderen“ sind die Bösen. Fertig. Vernunft hingegen will komplizierte Kontexte beleuchten, historische Hintergründe erklären, Grauzonen anerkennen – und genau das passt nicht in die Sendezeit einer Talkshow oder die Schlagzeile eines Boulevardblattes. Kurz: Wer Vernunft bemüht, langweilt. Wer Kriegslogik bedient, begeistert. Politik entscheidet sich da lieber für Applaus statt Argumente.
Das Geschäft mit der Rüstung – Vernunft als Absatzhindernis
Man darf nicht vergessen: Frieden ist nicht nur das Meisterstück der Vernunft, sondern leider auch das Ruinprogramm der Rüstungsindustrie. Und wo Milliarden fließen, bleibt die Vernunft zuverlässig außen vor. Frieden produziert keine Aufträge, keine Jobs in sicherheitsrelevanten Industriezweigen, keine steigenden Aktienkurse. Vernunft wäre hier geradezu systemgefährdend. Deshalb werden Friedensappelle zwar höflich beklatscht, aber im Maschinenraum der Macht sofort in die Kategorie „nice to have, not to do“ einsortiert.
Fazit: Kant wäre heute nur ein Meme
Am Ende bleibt die bittere Pointe: Kants Satz vom Frieden als Meisterstück der Vernunft eignet sich heute besser für ein Instagram-Zitat auf sepiafarbenem Hintergrund als für reale Politikgestaltung. Man druckt ihn auf Tassen, hängt ihn in Lehrerzimmern auf, doch im Handeln der Mächtigen spielt er keine Rolle. Der Frieden bleibt eine intellektuelle Folklore, während die Wirklichkeit aus Drohnenbildern, Frontberichten und endlosen Schuldzuweisungen besteht. Vernunft hat keinen Platz am Verhandlungstisch, weil dort nur Platz für Machtkalkül, symbolische Härte und zynische Inszenierung ist.
Man könnte also sagen: Der Friede mag nach Kant das Meisterstück der Vernunft sein – doch die Akteure unserer Zeit haben beschlossen, dass sie lieber an zweitklassigen Grotesken basteln. Das Publikum klatscht brav Beifall, die Kassen klingeln, und die Vernunft steht draußen, raucht eine letzte Zigarette und fragt sich, ob sie sich nicht endgültig zur Ruhe setzen sollte.