
Es gibt Erlebnisse, die brennen sich ein. Die erste Liebe. Der erste Kuss. Der Moment, in dem man feststellt, dass die Milka-Tafel jetzt 1,99 Euro kostet und nur noch 90 statt 100 Gramm wiegt. Ein Initiationsritus moderner Konsumbürgerlichkeit – irgendwo zwischen Ernüchterung, Fassungslosigkeit und dem dumpfen Gefühl, dass es so eigentlich nicht weitergehen kann, während es natürlich exakt so weitergehen wird.
Mondelez, das Multikonglomerat mit dem Namen eines Asteroiden, hat es wieder getan. Erst die Preise erhöhen, dann den Inhalt kürzen – ein Taschenspielertrick, der so durchschaubar ist, dass er schon wieder genial wirkt. Die Zauberer von Mondelez nennen es „Shrinkflation“, ein Begriff, der klingt wie eine Fitness-App aus dem Silicon Valley, dabei aber nichts anderes bedeutet als den systematisierten Griff in die Tasche der Verbraucher. 1,99 Euro für 90 Gramm Alpenmilch – das entspricht einer Preissteigerung von 48 Prozent, wenn man ehrlich rechnet. Und wenn man unehrlich rechnet, was die Marketingabteilung vermutlich bevorzugt, dann ist es natürlich eine „qualitative Premiumanpassung“, ein „Schritt in Richtung Nachhaltigkeit“ oder, noch besser, eine „Resilienzmaßnahme im globalen Lieferkettenmanagement“. Was immer das heißen soll. Der Konsument versteht es ohnehin nicht. Er kaut halt weiter. Schokolade. Frust. Realität.
Der schmelzende Sozialvertrag: Warum der Konsument schuld ist
Natürlich könnte man Mondelez jetzt vorwerfen, sie hätten die Dreistigkeit zur neuen Unternehmensphilosophie erhoben. Doch das wäre zu kurz gedacht – und außerdem viel zu bequem. In Wahrheit ist der moderne Konsument ein Komplize im System der stillen Enteignung. Er will es so. Er liebt es so. Er braucht es so. Denn Verzicht ist keine Option. Ein Leben ohne Milka? Undenkbar! Da müsste man ja selber backen, Schokolade von regionalen Manufakturen kaufen, die tatsächliche Kakaobauern bezahlen oder – Gott bewahre – den eigenen Konsum reflektieren.
Stattdessen kauft man also weiter. Und Mondelez weiß das. Die Ökonomie der kleinen Schritte hat längst den Bereich der Notwendigkeiten verlassen und ist in den Bereich der psychologischen Kriegsführung vorgedrungen. 90 Gramm statt 100? Merkt doch keiner. Oder wenn doch, dann wird es eben zähneknirschend akzeptiert. Die Menschen regen sich auf – ja, natürlich. Auf Twitter. Auf TikTok. In der Mittagspause. Und beim nächsten Einkauf greifen sie trotzdem wieder zur lila Kuh. Der moderne Verbraucher ist wie ein Hund, der seinen eigenen Schwanz jagt, nur mit weniger Würde und ohne Aussicht auf Erfolg.
Das Schlaraffenland war gestern: Willkommen in der Zuckersteuerhölle
Wer denkt, die Preisspirale sei eine zufällige Folge geopolitischer Verwerfungen, glaubt wahrscheinlich auch, dass der Weihnachtsmann noch selbst am Band steht und die Schokoladenhohlkörper liebevoll bemalt. Doch der Wahnsinn hat Methode. Mondelez ist nicht irgendein Hersteller – es ist ein Börsenunternehmen. Und an der Börse geht es nicht um Schokolade, sondern um Quartalszahlen. Jedes Gramm weniger ist ein Bonuspunkt für den CFO, jede Preiserhöhung ein Beleg für „Pricing Power“, jenes neoliberale Ungeheuer, das dafür sorgt, dass der Konsument jedes Jahr ein bisschen mehr blutet, während der Vorstand jedes Jahr ein bisschen mehr lacht.
Die Alpenmilch-Tafel ist dabei nur das Schlachtfeld einer viel größeren Auseinandersetzung: Der globale Konzernkrieg um Margen, Renditen und Shareholder-Value hat längst die Supermarktregale erobert. Es ist ein bitteres Schauspiel, bei dem der Konsument die Rolle des Komparsen spielt – unbezahlt, versteht sich – und trotzdem jeden Cent investiert, um wieder dabei sein zu dürfen. Ironischerweise wird er dabei immer dicker und immer ärmer zugleich. Willkommen im neuen Schlaraffenland: Die Regale sind voll, der Geldbeutel leer, und hinter jeder Ecke lauert die nächste Zuckersteuer.
Kapitalismus in Reinform: Von der Schokolade zur Zynikerschule
Man kann die Preiserhöhung bei Milka auch als Lehrstück betrachten. Wer wissen will, wie der Kapitalismus wirklich funktioniert, muss kein BWL-Studium absolvieren. Es reicht, eine Tafel Schokolade zu kaufen. Da steckt alles drin: Gier, Täuschung, Abhängigkeit, Selbstbetrug. Die Verpackung wird lilafarbener, die Kuh lächelt breiter, der Preis steigt, der Inhalt schrumpft – und das Spiel geht weiter. In den oberen Etagen wird mit Pokerface von „Wertschöpfung“ gesprochen, während unten die Kundschaft an der Kasse steht und sich fragt, ob man 2 Euro für eine Tafel Plastikmilch mit Zucker wirklich ausgeben sollte. Spoiler: Man tut es trotzdem.
Die wahre Pointe ist aber eine andere: Mondelez braucht uns nicht. Wir brauchen Mondelez. Wir sind längst gefangen im System der Markenabhängigkeit, dressiert durch Jahrzehnte der Werbung, genormt durch Geschmacksprofile, die unser Hirn so zuverlässig triggern wie der Pawlowsche Hund bei der Klingel. Milka schmeckt nach Kindheit, sagen sie. Milka schmeckt nach Heimat. Milka schmeckt nach Kuh. In Wahrheit schmeckt Milka nach Palmöl, Zucker und dem Gefühl, über den Tisch gezogen worden zu sein – aber das will niemand hören.
Und jetzt? Nichts. Natürlich nichts.
Die Empörung wird verrauschen. Das tut sie immer. Der Shitstorm ist das neue Ventil der bürgerlichen Hilflosigkeit: kurz mal Dampf ablassen, dann weiter konsumieren wie bisher. Vielleicht kauft der eine oder andere eine andere Schokolade. Vielleicht weicht man aus auf Eigenmarken oder Bio-Riegel. Aber spätestens an der Kasse wird der Konsument wieder in sein altes Muster zurückfallen. Milka ist ein Systemprodukt. Es geht hier nicht um Geschmack, sondern um Prägung.
Mondelez weiß das. Sie lachen vermutlich leise, während sie den nächsten Preiszettel ausdrucken. Und der Verbraucher? Der wird weiterkaufen. Natürlich. Was denn sonst? Verzicht ist unmodern, Wut ist folgenlos, und wer keine Milka isst, der hat wahrscheinlich auch keinen Netflix-Account, kein Prime-Abo und keinen Thermomix. Das ist kein Leben, das ist Askese. Und Askese ist im Jahr 2025 der einzige wirkliche Skandal.