Wahrheit funktioniert nur im Plural

Die monotheistische Sehnsucht nach der einen Wahrheit

Wahrheit funktioniert nur im Plural — eine Zumutung für jene, die noch immer glauben, das Universum sei ein pädagogischer Kindergarten, in dem eine übergeordnete Instanz mit dem didaktischen Holzlineal „die Wahrheit“ auf die Tafel schreibt, damit alle brav die gleiche Abschrift anfertigen. Doch die Wirklichkeit verweigert sich dieser autoritären Fantasie, und zwar mit einer trotzigen Beharrlichkeit, die man fast bewundern könnte, wäre sie nicht zugleich so furchtbar anstrengend. Denn wer nach der Wahrheit sucht, bewegt sich mental ungefähr auf dem Niveau eines Menschen, der im Supermarkt wütend verlangt, man möge doch gefälligst die richtige Sorte Joghurt aus dem Regal entfernen, damit nicht jeder selbst entscheiden müsse. Es ist die alte monotheistische Ideallinie: Die Welt wäre so viel einfacher, wenn bloß alles eindeutig wäre. Doch das Leben hat Humor, und zwar einen bitterbissigen. Darum gibt es Wahrheiten wie Sandkörner am Strand, und ähnlich wie Sand findet man sie an Orten, an denen man sie lieber nicht hätte — in Schuhen, in Gesprächen, in politischen Debatten und gelegentlich auch zwischen den Zähnen.

Die Pluralisierung des Offensichtlichen

Es ist ein merkwürdiger Befund: Während die Menschheit technisch Raketen in Umlaufbahnen schießen kann, scheitert sie kollektiv daran, unterschiedliche Wahrheiten auszuhalten, ohne sofort hysterisch die Demokratiesirene zu betätigen. Die eigentliche Revolution unserer Zeit ist nicht technologisch, sondern epistemologisch. Der größte Schock des 21. Jahrhunderts besteht darin, dass wir feststellen müssen, was eigentlich seit jeher galt: Realitäten sind portabel, individuell konfigurierbar und miteinander inkompatibel wie schlecht dokumentierte Softwarebibliotheken. Jeder trägt sein Wahrheitsbetriebssystem mit sich herum, patcht es gelegentlich mit Verschwörungstheorien, bugfixt es mit Faktenchecks und lässt dann doch wieder einen Trojaner namens „persönliche Überzeugung“ hinein. Dass aus dieser Mischung selten Stabilität entsteht, sondern eher eine unkontrollierbare Geräuschkulisse kollektiver Überzeugungsschlachten, wundert nur jene, die glauben, Wahrheit sei ein Produkt mit TÜV-Siegel.

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Überzeugungen: Die modischen Accessoires des Denkens

Wahrheiten sind Modeartikel geworden, Accessoires, die man zur Identitätsauffrischung trägt. Manche bevorzugen die klassisch-rationalistische Linie, andere mögen es esoterisch glitzernd, und eine nicht unerhebliche Gruppe trägt ihre Wahrheit bewusst schief wie eine rebellische Kappe, um zu signalisieren, dass sie keiner Norm verpflichtet ist. Und so stöckeln wir durch die Fußgängerzone der Meinungsmoden, jeder bemüht, sein eigenes Weltbild besonders auffällig zu präsentieren. Natürlich gibt es hin und wieder Zusammenstöße — wer trägt seine Wahrheit nicht gerne so breit, dass andere darüber stolpern? Doch anstatt das als unvermeidliches Resultat pluraler Existenz zu akzeptieren, neigt man dazu, der jeweils anderen Partei vorzuwerfen, sie laufe in Epistemologie-Clogs aus der letzten Saison herum. Die eigentliche Tragedy läuft im Hintergrund: Das Bedürfnis nach Einheitlichkeit war nie größer, und doch war die Chance darauf nie geringer.

Die Sehnsucht nach Eindeutigkeit als politisches Geschäftsmodell

Man sollte meinen, dass Demokratien sich im Pluralismus sonnen, weil sie ja angeblich von ihm leben. In der Praxis jedoch wird pluralistische Wahrheit seit jeher als nervige Pflichtübung betrachtet, ähnlich wie die Steuererklärung: Man muss es halt machen, aber niemand hat Spaß daran. Politiker lieben die Vorstellung der einen Wahrheit, jedoch ausschließlich jener, die sie zufällig gerade vertreten. Ihre Kommunikation funktioniert nach dem Prinzip: „Es gibt viele Perspektiven, aber meine ist die Einzige, die zählt.“ Das Publikum spielt dieses Theaterstück gern mit, denn wer hat schon Lust, sich durch die Untiefen widersprüchlicher Fakten, Meinungen und Interpretationen zu wühlen? Viel bequemer ist es, der Wahrheit das demokratische Äquivalent einer Uniform anzuziehen und zu behaupten, sie sei dadurch naturgegeben.

Wahrheit als soziales Konstrukt, das sich weigert, so genannt zu werden

Es ist ein intellektueller Sport geworden, Wahrheit als Konstruktion zu entlarven — ein Spiel, das akademische Kreise mit fast erotischer Freude betreiben. Doch die Pointe liegt darin, dass Wahrheit selbst diese Beobachtung entweder ignoriert oder mit einem verächtlichen Schulterzucken beantwortet. Wahrheiten sind zäh. Sie sterben nicht, sie mutieren. Sie passen sich an, wie Echsen, die lernen, auf zwei Beinen zu gehen, sobald man ihnen den Lebensraum verwüstet. Die Sturheit der Wahrheit ist ein paradoxes Wunder: Sie ist flexibel genug, um sich zu vermehren, aber hartnäckig genug, um immer behaupten zu können, sie allein sei die ursprüngliche.

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Der Mensch als unfreiwilliger Kurator seines Wahrheitenkabinetts

Jeder Mensch trägt ein kleines Museum der Wahrheiten in sich, sehr schlecht kuratiert, mit wackeligen Exponaten, fragwürdigen Provenienznachweisen und einer Museumsführung, die spontan zusammenbricht, wenn jemand eine kritische Frage stellt. Dieses Museum ist kein Ort der objektiven Ausstellung, sondern der liebevollen Selbsttäuschung. Manchmal wird dort umgebaut, manchmal wird ein neuer Trakt eröffnet, gelegentlich wird ein komplettes Flügelwerk gesperrt, weil ein neuer Erkenntnisstrom durchbricht wie ein Wasserrohr. Und doch behauptet jeder, sein Museum sei das Louvre unter den Wahrheitsarchiven. Der Witz der Geschichte: Niemand hat je ein Ticket gelöst, und trotzdem drängen wir uns gegenseitig hinein.

Fazit: Wahrheit, das Chamäleon mit multiplen Persönlichkeiten

Wahrheit funktioniert nur im Plural, weil die Welt in Einzelstücken ausgeliefert wird. Wir können sie nicht bestellen wie Möbel aus einem skandinavischen Katalog. Es gibt keinen Bauplan, keinen universellen Schraubenschlüssel, keine Hotline für epistemologische Notfälle. Stattdessen gibt es nur uns — stolpernd, konstruierend, zweifelnd, widersprechend, oft lächerlich in unserem Bemühen, die Wirklichkeit zu sortieren wie eine Schublade voller Kabel, deren ursprünglicher Zweck für immer verloren ist. Doch im Chaos liegt auch eine Form von Freiheit. Plurale Wahrheit ist nicht gemütlich, sie ist nicht bequem, sie ist nicht tröstlich. Aber sie ist lebendig. Und das ist wahrscheinlich das Höchste, zu dem unser Denken imstande ist: Die Erkenntnis, dass Wahrheit dann am besten funktioniert, wenn sie nicht versucht, sich selbst zu monopolisieren.

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