
Es war einmal eine Paketbotin. Ihre Tage waren lang, ihre Knochen müde, ihr Lohn karg, ihr Scanner unnachgiebig. Sie hastete von Tür zu Tür, stets gehetzt, stets kontrolliert, stets das nächste Lieferfenster im Nacken. Sie war eine von vielen, ein Rädchen in einem Getriebe, das Amazon, DHL und Co. zum Glänzen brachte. Sie kannte die Abgründe prekärer Arbeit, sie verstand die Demütigungen, sie spürte am eigenen Leib, wie sich jede Zustellung wie ein weiterer Tropfen im Fass der Ausbeutung anfühlte.
Und dann, eines Tages, geschah das Wunder. Sie stieg auf. Nein, nicht durch Lohnerhöhung, nicht durch faire Arbeitszeiten, nicht durch gewerkschaftlichen Kampf. Sondern durch ein Mandat, ein Amt, einen Titel. Sie wurde Vorsitzende einer Arbeiterpartei. Eine Arbeiterpartei, die sich anschickte, für genau die Menschen einzutreten, deren Leidensweg sie so gut kannte.
Und plötzlich war alles anders.
Vom Lieferstress zur Lounge
40.000 Euro im Monat. Das ist kein Gehalt mehr, das ist eine Weltanschauung. Man gewöhnt sich schneller daran, als man denkt. An den Fahrdienst. An das unaufdringlich klimatisierte Büro. An das Privileg, nicht mehr an der Haltestelle zu stehen, während einem der Bus vor der Nase wegfährt, weil der Fahrer den Zeitplan einzuhalten hat. Nein, jetzt ist man der Fahrplan. Man diktiert ihn.
Und mit dem neuen Kontostand kommt die neue Perspektive. Plötzlich erscheinen die Streikenden irrational. Die Lohnerhöhungsforderungen maßlos. Der Sozialstaat überzüchtet. „Geht’s uns nicht allen gut?“ fragt sie in die Kameras. „Wir leben doch in einem der reichsten Länder der Welt.“
Dass „uns“ eine dehnbare Vokabel ist, fällt ihr nicht mehr auf.
Die Schönheit des Systems erkennen
Arbeiterpolitik ist anstrengend. Sie erfordert Konfrontation, Widerstand, den Willen, sich unbeliebt zu machen. Aber mit 40.000 Euro im Monat steigt der Bedarf nach Harmonie. Nach guten Beziehungen. Nach strategischen Bündnissen.
Und so geschieht es, dass die ehemalige Paketbotin nun auf Empfängen Champagnergläser schwenkt, während sie in Mikrofone sagt, dass „die Wirtschaft mit ins Boot geholt werden muss“. Dass „der Wandel nur gemeinsam mit der Industrie“ funktioniert. Dass „wir nicht in Klassenkampf-Rhetorik verfallen dürfen“.
Und siehe da: Die Talkshow-Einladungen häufen sich. Die Kolumnen in großen Zeitungen loben ihre „pragmatische Haltung“. Lobbyisten lächeln ihr wohlwollend zu. Und als sich in einer internen Sitzung die Frage stellt, ob man für die geforderten 12% mehr Lohn in der Logistikbranche eintreten solle, fällt ihr Blick unwillkürlich auf die Einladung zum nächsten exklusiven Forum.
Sie zögert einen Moment. Dann sagt sie: „Wir müssen realistisch bleiben.“
Ein Raunen geht durch den Raum. Der Generalsekretär nickt. Die Investoren atmen auf.
„Supsi“ – Eine Weltanschauung in drei Silben
„Supsi“ ist ihr neues Lieblingswort. Alles ist „supsi“. Der Mindestlohn? Supsi. Die Inflation? Supsi. Die Renten? Supsi. Die Wohnungskrise? Supsi. Die Streiks? Na ja, nicht ganz so supsi, aber wenn sie vorbei sind, dann bestimmt.
„Wir müssen positiv bleiben“, sagt sie dann.
Und wer nicht positiv bleibt, wer es wagt, die Kluft zwischen ihrem Gehalt und den Almosen eines Paketboten zu thematisieren, ist eben ein Querulant. Ein Ewiggestriger. Ein Neider.
So dreht sich das Rad. Die Paketbotin, die einst gegen den Niedriglohn kämpfte, verteidigt ihn nun mit eloquenten Phrasen. Die Arbeiterpartei, die einst für den kleinen Mann kämpfte, findet sich auf einmal sehr verständnisvoll für die Zwänge der Wirtschaft. Und die Klasse, die einst vertreten werden sollte, steht weiterhin an den Haltestellen, schiebt die Pakete durch die Stadt, zählt jeden Cent, während sie in der Talkshow verkündet:
„Wir haben schon viel erreicht.“
Und alle nicken.
Denn es ist doch alles so supsi.