Von der Friedensdividende zur Panzerdividende

Die Rückkehr des militärisch-industriellen Deliriums

Es war einmal, in jenem fernen, fast märchenhaften Jahrzehnt nach dem Fall der Mauer, als Europa sich einbildete, Geschichte sei etwas für Museen, Kriege etwas für ferne Kontinente, Panzer Relikte aus dem Kalten Krieg und Rüstungsausgaben – ein hässliches Wort, beinahe obszön – etwas, das man wie Bananenschalen in den Mülleimer der Geschichte entsorgen könne. Damals sprach man von der Friedensdividende, jenem sagenumwobenen Schatz, der sich aus den eingesparten Milliarden speisen sollte, die man nun statt in Marschflugkörper in Kindergärten, Universitäten, Solarpaneele und subventionierte Opernkarten stecken wollte. Doch der Traum endete, wie es sich für europäische Träume gehört, in einer Bürokratie. Und wie das bei Träumen nun einmal ist: Wenn man sie zu oft vertagt, kehren sie als Albtraum zurück.

Jetzt, anno 2025, ist die Lage wieder ernst – oder, wie man in Brüssel sagt, „komplex“ – und plötzlich sprechen die Verteidigungsminister wieder wie Generäle, die Think-Tanks röcheln vor Begeisterung, und überall tauchen Zahlen auf, die einst nur in der Astrophysik vorkamen. 100 Milliarden hier, 300 Milliarden dort – und das nur als „Startsignal“, nicht etwa als Endpunkt. Rüstung ist wieder sexy. Und nichts ist in Europa gefährlicher als ein Thema, das plötzlich sexy wird. Was in Mode ist, wird verteidigt – notfalls mit Waffengewalt.

Wer Wohlstand will, muss Krieg denken: Die neue Logik der Abschreckung

Was tun wir nicht alles für unser Sicherheitsgefühl! Früher waren es Videoüberwachung und Kampfhunde, heute sind es Raketenabwehrsysteme, Tarnkappentechnologie und Leopard-Panzer, die durch industrielle Wälder galoppieren wie mechanisierte Einhörner des Fortschritts. Wer heute sagt, dass Frieden durch Diplomatie gesichert werden könne, gilt als Romantiker. Wer hingegen empfiehlt, den Staatshaushalt zugunsten der Rüstungsindustrie umzugestalten, wird eingeladen, im Bundestag eine Expertenanhörung zu leiten – oder gleich in den Aufsichtsrat von Rheinmetall.

Wir haben gelernt, dass Wohlstand eine Nebenwirkung von Hochrüstung sein kann – wenn auch nicht für alle. Für die Einen bedeutet sie Dividenden, für die Anderen Butterverzicht. Denn wenn das nächste Sozialprogramm eingestampft wird, damit irgendwo in Litauen ein Nato-Depot klimaneutral beheizt werden kann, dann ist das kein Kollateralschaden, sondern geopolitische Vernunft. Wer sich beklagt, dass das Geld für Schulen fehlt, hat eben den Ernst der Lage nicht verstanden. Bildung schützt nicht vor Hyperschallraketen – auch wenn der Gedanke schön wäre. Und während Krankenschwestern mit Applaus bezahlt werden, erhalten Drohnenhersteller staatlich garantierte Abnahmeversprechen. Willkommen in der Realität 2.0.

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Abschreckung ist das neue Mitgefühl: Die Moral der Militärs

Selbstverständlich wird das Ganze in moralisch einwandfreier Verpackung geliefert. Niemand spricht vom „Wettrüsten“, sondern von „Abschreckungsfähigkeit“ und „strategischer Resilienz“. Wörter, die klingen wie aus der Managementberatung für aggressive Staaten. Man will ja nicht Krieg führen, man will ihn verhindern – mit möglichst vielen Waffen. Je mehr Panzer wir haben, so die neue Dialektik der Sicherheit, desto weniger müssen wir sie einsetzen. Ein logischer Fehlschluss, der in etwa so klingt wie: Je mehr Atommüll wir produzieren, desto sauberer wird die Umwelt – denn wir strahlen ja nur präventiv.

Die europäische Öffentlichkeit wird unterdessen konditioniert, als ginge es um ein neues Fitnessprogramm: Die Wehrhaftigkeit muss gestärkt, die Sicherheit trainiert, die Landesverteidigung „mental verankert“ werden. Das klingt dann nach einer Art Yoga für Patrioten. Und wer fragt, ob man nicht auch in Frieden investieren könnte, wird milde belächelt – oder mit ernstem Blick darauf hingewiesen, dass Pazifismus in Zeiten hybrider Bedrohungen naiv sei, wie ein Kind, das sich vor einem Sturm unter einem Regenschirm versteckt.

Satire oder Realität? Man weiß es nicht mehr so genau

Der Umstand, dass europäische Demokratien bereitwillig jene Summen mobilisieren, für die man noch vor fünf Jahren belächelt worden wäre, während sie gleichzeitig um jeden Euro für den Mindestlohn feilschen, ist keine Ironie der Geschichte. Es ist ihre Fortsetzung mit anderen Mitteln – nämlich buchhalterischen. Die Zahlenspiele, die früher dem Sozialetat galten, gelten nun dem Rüstungshaushalt. Man spricht von „langfristiger Investition“, „wirtschaftlicher Dynamisierung“ und „europäischer Souveränität“. Alles sehr vernünftig. Nur fragt sich niemand, wieso europäische Souveränität immer dann als besonders gefährdet gilt, wenn es darum geht, neue Kampfjets zu bestellen – nicht aber, wenn Krankenhäuser schließen.

Wer sich dieser Logik verweigert, steht schnell im Verdacht, „realitätsfern“ oder gar „russlandfreundlich“ zu sein. Denn wie jeder weiß: Kritik an europäischer Hochrüstung ist faktisch Beihilfe zur Destabilisierung. In einem Klima, in dem Satire kaum noch als solche erkannt wird, weil die Realität sie längst überholt hat, bleibt nur die Flucht nach vorn – ins Absurde. Man stelle sich eine Talkshow vor, in der Verteidigungspolitiker fordern, Panzer möge man künftig CO₂-neutral konstruieren, um beim Töten wenigstens das Klima zu schonen. Oh, Moment. Die gibt es ja bereits.

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Fazit: Der Frieden ist nicht tot – er riecht nur etwas nach Schmieröl

Europa rüstet auf – mit Inbrunst, Überzeugung und einer fast obszönen Ernsthaftigkeit, die nur durch gelegentliche Appelle zur „humanitären Dimension der Verteidigungspolitik“ gebrochen wird. Die Tatsache, dass all dies in Demokratien geschieht, ist kein Trost, sondern Teil des Problems. Denn Demokratie bedeutet nicht automatisch Weisheit – manchmal bedeutet sie auch: Zustimmung zur kollektiven Angstverwertung. Und Angst ist ein verdammt guter Ratgeber, wenn man Panzer verkaufen will.

Wir sollten uns also wirklich überlegen, ob wir in einem Europa leben wollen, das seine Vorstellung von Sicherheit aus dem Pentagon bezieht, seinen Sozialstaat opfert, um Raketenabwehr zu kaufen, und glaubt, Frieden sei etwas, das man mit genügend Kaliber sichern kann. Vielleicht ist es noch nicht zu spät, sich zu erinnern: Dass Sicherheit nicht nur eine Frage der Rüstung ist – sondern auch der Gerechtigkeit. Und der Vernunft.

Aber Vernunft ist bekanntlich nicht wehrfähig.

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