Vom segensreichen Mangel

Es gehört zu den hübscheren Paradoxien der Gegenwart, dass die Tugenden, die man als Kind den Armen eintrichtert, später in eleganten Feuilletons den Wohlhabenden als Lebenskunst verkauft werden. „Sparsamkeit“ – dieses Wort, das in den unteren sozialen Schichten klingt wie eine rustikale Drohung, blüht in den oberen Etagen der Gesellschaft zu einer Art ästhetischem Zen-Garten auf. Wer wenig hat, soll sich einschränken, weil es sich nicht anders schickt; wer viel hat, soll sich einschränken, weil es sich besonders schick macht.

Die Demut des Mangels als bürgerliche Dekoration

Es ist ein offenes Geheimnis, dass Askese, korrekt dosiert, den Wohlstand amüsanter macht. Der Verzicht auf Fleisch, Flugreisen oder maßlose Online-Bestellungen gerät – vorausgesetzt, er erfolgt freiwillig – zur raffinierten Selbstinszenierung. Eine handgetöpferte Porzellanschale mit sorgsam portioniertem Bio-Porridge sagt in den richtigen Kreisen mehr über den Lebensstil ihres Besitzers aus als ein geleaster SUV. Wer hätte gedacht, dass der Verzicht auf ein Croissant oder die Abwesenheit von Plastikstrohhalmen zur sozialen Distinktion taugen würde?

Der arme Schlucker hingegen, der seine Miete nicht mehr zahlen kann und sich das Croissant aus blankem Zwang verkneift, wird nicht als Vorbild gefeiert, sondern als tragischer Einzelfall bedauert – oder gleich unter Verdacht gestellt, seine Misere durch mangelnde Arbeitsmoral selbst verschuldet zu haben. Der Unterschied zwischen sparsam und arm liegt eben nicht im Haben, sondern im Wollen.

Die feinen Unterschiede der Entbehrung

Das ärgerliche an der Sparsamkeit ist, dass sie sich so hübsch verkaufen lässt, solange sie von jenen exerziert wird, die sie sich leisten können. Wer sich ein Tiny House für 200.000 Euro bauen lässt, lebt nachhaltig. Wer sich eine Einzimmerwohnung mit 12 Quadratmetern teilen muss, lebt prekär. Die Frage, ob der Verzicht auf Raum, Essen oder Komfort aus freiem Willen oder aus Not erfolgt, entscheidet über seine moralische Wertigkeit.

Die Reichen predigen Mäßigung, während sie sich in minimalistische Designwohnungen zurückziehen, deren leergeräumte Kühle ein kleines Vermögen gekostet hat. Die Armen sollen sparen, aber bitte ohne ästhetischen Mehrwert – keine handgewebten Decken aus Bio-Leinen, sondern Polyester-Fleecedecken aus dem Discounter, unter denen man notfalls auch erfriert.

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Kapitalismuskritik für Besserverdienende

Die Ideologie der Sparsamkeit ist in Wahrheit eine von oben nach unten durchgereichte Erziehungsmaßnahme. Wer predigt, dass weniger mehr sei, sorgt zuverlässig dafür, dass unten weniger und oben mehr bleibt. Kein Zufall, dass ausgerechnet in Zeiten von Inflation und Energiekrise das Ideal der Bescheidenheit eine Renaissance feiert. Plötzlich heißt es, man solle das Licht früher ausmachen, weniger heizen, kürzer duschen – nicht etwa, weil die Weltwirtschaft von einer absurd ungleichen Verteilung von Ressourcen geprägt ist, sondern weil ein wenig Selbstkasteiung dem Charakter ungemein zuträglich sei.

Die neoliberale Sparsamkeit schult die Armen zur Bescheidenheit und die Reichen zur Selbstzufriedenheit. Der eine friert aus Not, der andere aus Überzeugung – beide werden zu besseren Menschen, allerdings aus höchst unterschiedlichen Gründen.

Die moralische Gymnastik der Besitzenden

Der eigentliche Triumph der Wohlstandsgesellschaft besteht darin, dass sie es geschafft hat, den Mangel als Tugend zu inszenieren. Die Kunst besteht darin, die eigene Selbstbeschränkung so weit zu kultivieren, dass sie am Ende mehr kostet als der ursprüngliche Überfluss. Wer teure Detox-Retreats besucht, statt sich vollzufressen, ist nicht etwa ein gequälter Hungernder, sondern ein moralisches Vorbild. Es gibt keinen besseren Beweis für den Wohlstand als die Fähigkeit, ihm zeitweise zu entsagen.

Die Armen dürfen sich dieser Diät freilich nicht anschließen. Wer den ganzen Monat Haferflocken und Leitungswasser konsumiert, weil das Geld nicht reicht, wird niemals zum Vorreiter eines neuen Lebensgefühls stilisiert. Sparsamkeit ist nur dann eine Tugend, wenn sie nicht wirklich notwendig ist.

Fazit: Die Verklärung des Weniger

Sparsamkeit als Ratgeber für die Armen ist der blanke Hohn. Es ist die unsichtbare Zwangsjacke, die ihnen von einer Gesellschaft verpasst wird, die sich das „Weniger“ nur leisten kann, weil sie vorher ein obszönes „Mehr“ angehäuft hat. Die wohltemperierte Armut der Privilegierten bleibt ein Lifestyle, während die echte Armut der Besitzlosen nach wie vor ein Makel ist.

TIP:  DIE INSTRUMENTE DER VERGANGENHEIT

Man könnte nun darauf hinweisen, dass es eine kleine Unverschämtheit sei, den Verzicht zu einer moralischen Kategorie zu erklären, solange nur ein Teil der Gesellschaft überhaupt die Wahl hat, sich zu enthalten. Aber vielleicht ist genau das der Trick: Wer den Mangel freiwillig wählt, fühlt sich als besserer Mensch. Wer ihn gezwungenermaßen erleidet, gilt als gescheiterter Konsument.

Wohl dem, der so reich ist, sich das Weniger leisten zu können.

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