Volkslügenwagen

Es gibt Geschichten, die so absurd sind, dass man sie nicht erfinden könnte, selbst wenn man Kafka, Orwell und den Pressesprecher von VW gemeinsam in einen Raum sperrt. Der Dieselskandal – oder wie es in der Pressesprache heißt: „technische Unregelmäßigkeiten in der Emissionswertdarstellung“ – ist so ein Fall. Ein Epos des systematischen Betrugs, ein Lehrstück über institutionalisierte Verantwortungslosigkeit, ein biblisches Gleichnis, in dem das goldene Kalb nicht mehr angebetet, sondern einfach geleast wird. Und was passiert, wenn ein Weltkonzern auf frischer Tat beim globalen Kundenbetrug ertappt wird? Genau: nichts. Oder genauer gesagt: ein paar Rücktritte mit goldenen Fallschirmen, einige interne Umstrukturierungen mit den immer gleichen Nasen in neuen Etagen, und dann weiter so. Weiterrollen, weiterlügen, weiterdividenden.

Denn das eigentlich Skandalöse am Skandal ist nicht der Betrug selbst – der ist fast schon bewundernswert in seiner Chuzpe – sondern die Abwesenheit jeglicher persönlicher Konsequenz. Während Millionen Kundinnen und Kunden weltweit in dem Glauben fuhren, mit einem umweltfreundlichen Diesel unterwegs zu sein, lachten sich einige Topmanager vermutlich in ihren soundgedämmten Dienstlimousinen kaputt über die Naivität der Öffentlichkeit. Und diese Leute behaupten weiterhin, sie bekämen ihre sieben- bis achtstelligen Jahresgehälter wegen der „Verantwortung“. Ver-antwort-ung! Ein Wort, das in deutschen Vorstandsetagen nur noch als rhetorische Kulisse dient, irgendwo zwischen Vision, Leitbild und ESG-Zertifikat abgeheftet..

17 Millionen Gründe, warum Verantwortung nur ein Wort ist

Martin Winterkorn, der Mann mit dem strengsten Blick seit Einführung der Betriebswirtschaftslehre, wurde dereinst mit Standing Ovations von Gewerkschaftsseite für seine Bescheidenheit in Sachen Boni gefeiert. Der VW-Gesamtbetriebsratsvorsitzende Bernd Osterloh verkündete ungerührt, „Herr Winterkorn ist jeden Cent wert“. Man müsse schon betonen: es ging nicht um Cents. Es ging um 17 Millionen Euro. Jährlich.

Aber warum so viel? Na, wegen der Verantwortung natürlich! Sie wissen schon, jenes mythische Wesen, das in Vorstandskreisen als Argument für siebenstellige Einkommen herhalten muss – so oft beschworen wie die Liebe bei Schlagern, aber ähnlich bedeutungslos.

TIP:  Der Vergleich macht sie sicher

Die Realität sieht so aus: Wenn es gut läuft, war es die eigene Genialität. Wenn es schiefgeht, war es der Sachbearbeiter, der Praktikant, das System, das Wetter. Verantwortung als Dekoartikel auf der Gehaltsabrechnung.

Krankheit aus heiterem Himmel – Die Wunderheilung der Unantastbaren

Es gibt in der deutschen Wirtschaftsgeschichte ein epidemiologisches Phänomen, das dringend erforscht gehört: Das plötzliche Auftreten schwerer Krankheiten bei angeklagten Topmanagern. Ein Virus der Verantwortung? Ein Bandscheibenvorfall der Moral? Kaum steht eine Anklage im Raum, knicken Knie ein, knirschen Hüften, bricht die Wirbelsäule unter dem Gewicht des schlechten Gewissens – oder doch eher des eigenen Aktienpakets.

Winterkorn, der Mann mit der chirurgisch präzisen Managementhaltung, wurde „aus gesundheitlichen Gründen“ vom Verfahren entbunden. Hüfte, Knie, das volle orthopädische Programm. Für einen Gerichtssaal zu krank – aber ein Bayern-Match geht noch. Im VIP-Bereich. Aufrecht.

Es ist ja nicht so, dass man Mitleid verweigern möchte. Aber die Frage sei gestattet: Wie war seine Haltung zu Krankenständen der Mitarbeiter? Gab es da auch so viel Nachsicht, so viel menschliche Wärme, so viel Verständnis? Oder galt dort das Prinzip der Effizienz – krank ist, wer sich krank fühlt? Die Ironie ist bitter: Armut macht krank. Reichtum hingegen – der kann sich Krankheiten attestieren lassen.

Der Aufsichtsrat – Witzfigur mit Stempel und Siegel

Wer glaubt, die Verstrickung sei auf den Vorstand beschränkt, hat das System nicht verstanden. Denn da gibt es noch jene Männer und Frauen in den Aufsichtsräten, die halb aus Kapitalinteresse, halb aus Arbeitnehmervertretung bestehen – und zu 100 % im Dienste der eigenen Karriere schweigen.

„Mitwisserschaft“ ist ein zartes Wort für das, was hier praktiziert wurde: kollektives Wegsehen im Maßanzug. Dieselgate war kein Solo, sondern ein Chorgesang aus Feigheit, Opportunismus und Feierstimmung auf Aktionärsversammlungen. Das System war so durchtränkt von Lügen, dass niemand mehr wusste, ob man intern eigentlich die Wahrheit überhaupt noch buchstabieren konnte. Das Aufsichtsgremium, einst gedacht als Kontrollinstanz, war längst zur Wellnessabteilung des Konzerns verkommen – mit Ruhekabine für das Gewissen.

TIP:  Das NetzDG

Die USA: Strafen statt Stammtisch

Ein kurzer Blick über den Atlantik: In den USA zahlte VW sofort Milliardenstrafen. Keine Diskussionen, keine Hüftprobleme, keine betroffenen Mienen und schon gar keine Talkshowauftritte. Dort nennt man es: law enforcement. Hierzulande nennt man es: juristische Geduld. Manchmal auch: Verjährung.

Denn was hier geschieht, ist ein perfides Spiel auf Zeit. Man wartet, bis die mediale Empörung verebbt, bis das Interesse schwindet, bis die Krankheit als Deckmantel akzeptiert ist und die öffentliche Meinung längst wieder mit E-Auto-Subventionen beschäftigt ist. Und dann – still und leise – lässt man alles versanden. Der goldene Teppich wird wieder ausgerollt. Der nächste Posten wartet schon. Vielleicht nicht bei VW. Aber irgendwo, wo man wieder mit einem goldenen Füller unterschreiben darf.

Im Leo der Macht – und der Unantastbarkeit

Am Ende bleibt das Gefühl: Wer es einmal „nach oben“ geschafft hat, sitzt nicht einfach in einem Büro – er schwebt im „Leo“. In einem luftdichten, bestens gepolsterten Raum, wo weder juristische Konsequenzen noch moralische Maßstäbe eindringen. Der „Leo“ ist das Schutzschild der Leistungsträger – oder besser: der Überlebenden des Systems. Und während draußen Leute wegen geringfügiger Bagatellen ihre Jobs verlieren, sitzen drinnen Männer wie Winterkorn – versorgt, geschützt, verteidigt.

Die einen sprechen vom Rechtsstaat. Die anderen wissen: Es ist ein System der selektiven Gnade.

Und der größte Skandal? Dass es wieder einmal keine echten Konsequenzen gibt.


Demnächst im Kino: „Fast & Verlogen 9 – Dieselgate Reloaded“

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