Ursula, Walters Tochter im Geiste

Es gehört zu den feineren Ironien der europäischen Geschichte, dass sich im Glanz der Brüsseler Büroflure plötzlich ein Hauch des ostdeutschen Zitatschatzes wiederfindet – nicht etwa, weil irgendein Findiger die gesammelten Werke des Herrn Ulbricht in den Kommissionsarchiven verlegt hätte, sondern weil das Erbe des Satzes, dieses herrlich zynischen „Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben“, in zuckriger EU-Rhetorik scheinbar kunstvoll weiterlebt. Nicht, dass Ursula von der Leyen absichtlich als heimliche Wiedergängerin eines SED-Funktionärs auftreten wollte – man muss ihr zugestehen, dass ihre Öffentlichkeitsarbeit über zu viele PowerPoint-Folien und zu wenig Agitprop verfügt –, aber die historische Pointe drängt sich einfach auf.

Da schreitet sie also durch die Korridore der Macht, assistiert von einer Armee hochqualifizierter Unterkommissionsleiter, Thinktank-Kennern und energiegeladenen Pressesprechern, wie eine sehr moderne Variation einer Staatsratsvorsitzenden – allerdings stets in einem Outfit, das auf dem Titelblatt eines Nachhaltigkeitsberichts oder eines Modemagazins gleichermaßen funktioniert. Und während sie sich bemüht, die europäische Idee in ein Kleid der positiven Visionen, digitalen Chancen und CO₂-armer Glückseligkeit zu hüllen, schimmert im Hintergrund der Mechanismen doch ein wenig jener alte Traum vom perfekten, sanft paternalistischen Verwaltungsapparat durch, der so freundlich lächelt wie ein liberales Sonntagsinterview und zugleich so hart zupackt wie eine strategische Kommunikationsrichtlinie, die zufällig kurz vor einem unpassenden demokratischen Ereignis veröffentlicht wird.

Die Kommission als „Staatsrat“ der Europäischen Union

Man stelle sich, rein gedankenspielerisch und frei von jeder bösen Absicht, die Europäische Kommission als eine Art übernationalen Staatsrat vor. Nicht als den plumpe-rigorosen Apparat, den die DDR in ihren operettenhaften Momenten aufzubauen versuchte, sondern als eine geschmeidige, technokratisch glänzende Version: hochprofessionell, polyglott, gut gekleidet, mit einer bemerkenswerten Vorliebe für bürokratisch erzeugte Harmonie. Der Staatsrat 2.0, gewissermaßen – mit weniger Beton, dafür mehr Compliance.

In diesem Bild wäre das Europäische Parlament das brav geschminkte Bühnenbild, das der Forderung nach demokratischer Legitimation dient: bunt, pluralistisch, lebendig, gelegentlich sogar erregt debattierend, aber am Ende doch stets von der sanften, aber unerschütterlichen Schwerkraft der Kommissionsbegründungen in die Realität zurückgeholt. Man kann dort protestieren, anklagen, die Faust rhetorisch schwingen – aber fliegen kann man nur, wenn der Kommissionsentwurf ein paar Flügel vorgesehen hat.

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Natürlich, so schreien die Freunde des europäischen Projekts voller Empörung, sei das alles eine bösartige Verzerrung! Die Kommission sei Hüterin der Verträge, nicht Hüterin der Macht! Und ja, formaljuristisch betrachtet stimmt das auch. Aber das Wesen der Satire liegt nun einmal darin, freundlich an jenem dünnen Punkt zu drücken, an dem Form und Realität auseinanderdriften – wie zwei leicht verstimmte Geigen, die trotzdem behaupten, im selben Konzert mitzuspielen. Und wenn man genau hinhört, klingt der Chor der EU-Institutionen manchmal erstaunlich nach einem Harmoniewunder, das nur deshalb so schön abgestimmt ist, weil eine kleine Gruppe von Dirigenten die Partituren sorgfältig verteilt.

„Es muss demokratisch aussehen…“

Ulbrichts altbekanntes Bonmot – unschön, aber wirksamer als so manche politikwissenschaftliche Abhandlung – wirkt im 21. Jahrhundert fast folkloristisch, ein Stück politischer Grobschnitzerei. Doch man muss einräumen: Es hat überlebt, weil es den Mechanismus der Machtdarstellung mit entwaffnender Klarheit beschreibt. Demokratie, diese schwierige, manchmal ungezogene Katze, lässt sich nicht immer streicheln, wann man möchte. Aber man kann ihr einen besonders hübschen Katzenkorb hinstellen, einige politische Leckerli hineinlegen – und hoffen, dass sie im rechten Moment hineinspringt.

Der Brüsseler Politikbetrieb perfektioniert genau diesen Ansatz. Er verwendet nicht die harte Hand, sondern die methodisch geschliffene – jene, die zugleich Transparenz verspricht und Prozesse so feinmaschig regelt, dass selbst der engagierteste Bürger sich fühlt wie ein Tourist, der versucht, in einer fremden Metrostation seinen Weg zu finden, während die Durchsagen in einer Sprache erfolgen, die er nicht ganz versteht.

Ist das undemokratisch? Nicht unbedingt. Ist es kulturkritisch betrachtet ein faszinierendes Paradebeispiel für Verwaltungsalchemie? Aber selbstverständlich.

Die Innovation besteht darin, das Prinzip „Es muss demokratisch aussehen“ nicht mehr als Drohung, sondern als Service zu verstehen: Man liefert ein demokratisches Nutzererlebnis, ausgestattet mit Online-Konsultationen, Bürgerdialogen und Webseiten, deren Menüführung eine Vielzahl wichtiger Informationen enthält, die allerdings sehr gut darin sind, einander gegenseitig zu verdecken. Alles wirkt freundlich, offen und partizipativ – und doch herrscht am Ende meist jene sanfte, aber unerschütterliche Logik der Kommission, die weiß, wie man mit Expertise und Prozessmacht die Dinge in der Hand behält, ohne je so ungeschickt zu wirken wie der alte Walter.

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…aber wir müssen alles in der Hand haben

Der Satz klingt hart, fast brutal. Doch in Brüssel wurde er zu einer viel eleganteren Form weiterentwickelt, die man vielleicht so formulieren könnte: „Wir behalten idealerweise den Überblick, und zwar im Rahmen der gemeinsamen europäischen Werte, selbstverständlich unter Achtung der demokratischen Verfahren.“ Eine schönere Verpackung desselben Gedankens hat die politische Moderne selten hervorgebracht.

Man könnte sagen, die Kommission praktiziert eine Art aufgeklärten Zentralismus: Es wird nichts diktiert, aber viel vorgeschlagen; nichts befohlen, aber umfassend koordiniert; nichts erzwungen, aber konsequent reguliert. Es ist ein System, in dem niemand etwas aus der Hand gibt, aber alle so freundlich tun, als wünschten sie sich die größtmögliche Selbstbestimmung ihrer Mitgliedstaaten – solange diese Selbstbestimmung EU-konform, regelkonform, marktkonform und vor allem klimakompatibel ist.

Dieser Mechanismus hat etwas tief Humanes. Er steht sinnbildlich für jene große europäische Frage: Wie organisiert man Freiheit, ohne die Kontrolle völlig zu verlieren? Die Kommission hat darauf eine sehr europäische Antwort gefunden: Man organisiert sie eben – und zwar gründlich.

Dass dies manchmal wirkt wie eine besonders gut geölte Variation des berühmten Ulbricht-Prinzips, ist weniger die Schuld der Kommission als vielmehr ein Kompliment an ihre institutionelle Eleganz: Sie schafft es, Macht strukturell auszuüben, während sie rhetorisch vom Empowerment spricht – eine Kunst, die nur wenige westliche Demokratien in dieser Stilreinheit beherrschen.

Schluss: Satirische Ehrenrettung

Am Ende bleibt der Trost, dass die Europäische Union gerade wegen dieser Widersprüche funktioniert. Ein utopisches Projekt, das sich mit den Mitteln der Verwaltung am Leben hält; eine Vision von Freiheit, die durch Regularien verteidigt wird; ein Zusammenschluss von Nationen, die sich durch jene Kommission lenken lassen, die niemand gewählt hat und die dennoch mit erstaunlicher Selbstverständlichkeit regiert.

Wenn also Ursula – Wahlkämpferin des Konsenses, Architektin des politisch Möglichen – manchmal wirkt wie die feingeistige Nachfahrin des alten Walter Ulbricht, dann liegt das weniger an ihr als an der paradoxen Natur des europäischen Projekts selbst. Es ist eine Demokratie, die von einem technischen Überbau lebt; eine offene Gesellschaft, die sich durch komplizierte Mechanismen schützt; eine historische Idee, die ohne Bürokratie verdampfen würde wie ein Tropfen Sekt auf einer zu heißen Terrasse.

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Und genau deshalb bleibt Ulbrichts Satz als satirische Folie so nützlich: Nicht, weil er zutrifft, sondern weil er uns zwingt hinzusehen, hinzuhören, mitzudenken und gelegentlich herzhaft zu lachen über die eigentümliche Schönheit eines Systems, das fest entschlossen ist, demokratisch auszusehen – und doch alles in der Hand zu behalten, damit es nicht auseinanderfällt.

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