
Das Märchen von den „Verhältnissen“
„Wir leben seit Jahren über unsere Verhältnisse“, donnert der frisch gekrönte Kanzler Friedrich Merz von seiner Kanzel, als spräche er nicht zum deutschen Wahlvolk, sondern zu einer Horde zügellos verschuldeter Glücksspieler im Hinterzimmer einer Kneipe. Ein Satz, so hohl und gleichzeitig so schwer beladen, dass er klirrt wie eine zu voll gefüllte Porzellantasse, die gleich am Unterteller zerbricht. Denn was sind diese „Verhältnisse“? Für Merz, BlackRock-Jünger, Eigentümer eines Privatflugzeugs und lebenslanger Lobbyist des Finanzadels, bedeutet „über die Verhältnisse leben“ vermutlich: einmal im Jahr Business Class statt im Learjet fliegen. Für den Rest der Republik hingegen: beim Discounter zwischen Nudeln und Dosentomaten die No-Name-Marke greifen, weil Barilla schon Luxusware ist.
Der Satz funktioniert aber, weil er eine alte deutsche Tugend anspricht: die Selbstgeißelung. Wir sollen wieder dankbar dafür sein, dass wir überhaupt noch Kartoffeln haben. Wir sollen uns schuldig fühlen, dass wir auf der Couch Netflix einschalten, anstatt im Dunkeln bei Kerzenschein Goethes „Faust“ rezitierend die Stromrechnung zu sparen. Denn Schuld ist das Schmiermittel der deutschen Politik, und Merz hat den Kanister davon in die Hand genommen.
„Ran an die sozialen Sicherungssysteme“ – Der politische Kannibalismus
Kaum war die erste Floskel verklungen, folgte die zweite: „Wir müssen ran an die sozialen Sicherungssysteme.“ Das klingt zunächst wie eine selbstverständliche Verwaltungsaufgabe, ein bisschen Wartung am Motorblock des Sozialstaates. Doch die Metapher verrät den wahren Geist: „ran an“ klingt nicht nach Reparatur, sondern nach Raubzug. Man geht „ran an“ ein Stück Fleisch, „ran an“ die Beute, „ran an“ das Sparschwein. Merz meint: die sozialen Sicherungssysteme sind ein Buffet. Und er, der Kanzler, steht mit dem Filetiermesser bereit, während das Volk bestenfalls die Knochen abnagen darf.
Natürlich wird es nicht „die da oben“ treffen. Wer Dividenden kassiert, Boni bezieht und Aktienpakete im Schrank liegen hat, wird keine Rentenkürzung spüren, keine Arbeitslosenversicherung benötigen, kein Bürgergeld beantragen müssen. Betroffen sind die Kassiererin, der Paketfahrer, die Pflegekraft – also genau jene, die seit Jahren das Hamsterrad am Laufen halten und dabei angeblich „über ihre Verhältnisse“ leben. Man könnte es auch „Klassensatire in Echtzeit“ nennen: der Millionär erklärt dem Mindestlöhner, er müsse endlich bescheidener werden.
Merz’ Verhältnis zur Realität
Vielleicht sollte man kurz daran erinnern: Friedrich Merz ist nicht irgendein Politiker, der sich aus der Provinz hochgearbeitet hat, die Armut am eigenen Leib erfahren und sich durch Nacht- und Nebenjobs das Jurastudium erkämpft hat. Nein, dieser Mann ist das wandelnde Finanzkapital in Person. BlackRock-Vorstand, Lobbyist der globalen Geldmaschine, ein Mensch, der im wahrsten Sinne des Wortes abgehoben ist – nicht nur geistig, sondern auch physisch, mit seinem Privatflugzeug.
Wenn er also von „Verhältnissen“ spricht, spricht er von seinem Verhältnis zur Wirklichkeit: ein Verhältnis, das ungefähr so eng ist wie das von Wagner-Opern zur TikTok-Generation. Er könnte genauso gut predigen: „Liebe Leute, ihr lebt alle über eure Verhältnisse, weil ihr euch den Luxus erlaubt, noch zu atmen. Atmen ist CO₂-intensiv, teuer und volkswirtschaftlich zweifelhaft. Hört gefälligst auf damit, bevor wir wieder in die schwarzen Zahlen kommen.“
Nudeln gegen den Jetstream
Während also der Kanzler über die Sicherungssysteme philosophiert, sitzt die Durchschnittsbürgerin mit einem Einkaufswagen im Discounter und rechnet im Kopf: Nudeln 79 Cent, Dosentomaten 49 Cent, Streukäse 1,29 Euro – macht 2,57 Euro, und wenn man den ganzen Monat jeden Tag Spaghetti kocht, bleibt vielleicht noch Geld übrig, um am Wochenende ein Stück Butter zu kaufen.
Im Kanzleramt hingegen wird darüber diskutiert, ob man nicht die Mehrwertsteuer auf Kaviar senken sollte, um den internationalen Standortvorteil Deutschlands zu sichern. Denn die wahren Sorgen der Republik sind ja: Wie kriegt man die Porsche-Flotte CO₂-neutral, ohne dass die Dividenden leiden? Wie sorgt man dafür, dass Privatjets weiterhin steuerlich günstiger sind als die Monatskarte für die Regionalbahn?
Ein Land spart sich kaputt
Deutschland hat ein bemerkenswertes Talent: Es kann den Gürtel enger schnallen, bis die Luft wegbleibt – und trotzdem behaupten, man müsse noch enger schnallen. Jahrzehntelang wurde uns erzählt, die Rente sei sicher, wenn wir nur ein bisschen verzichten. Jahrzehntelang hieß es, das Gesundheitssystem funktioniere, wenn wir nur die Beiträge anpassen. Jahrzehntelang wurde gesagt, die Zukunft unserer Kinder sei gesichert, wenn wir nur jetzt tapfer durchhalten. Und jetzt, mit Merz im Kanzleramt, kommt die Pointe: Nein, alles falsch. Wir haben über unsere Verhältnisse gelebt.
Das ist die eigentliche Tragikomödie: Man spart und verzichtet, arbeitet und buckelt, glaubt und hofft – und am Ende steht ein Millionär mit Privatjet da und erklärt, man hätte zu viel verbraucht. Es ist wie in einem absurden Theaterstück, in dem die Bettler dem König das Brot wegessen sollen.
Schluss: Von Verhältnissen und Unverhältnismäßigkeiten
Natürlich stimmt es: Wir leben über unsere Verhältnisse. Nur nicht so, wie Merz es meint. Wir leben über unsere ökologischen Verhältnisse, über die Belastbarkeit des Planeten, über die Grenzen der Solidarität mit denen, die wirklich nichts haben. Wir leisten uns Politiker, die in ihrer moralischen und sozialen Blindheit unbezahlbar teuer sind.
Vielleicht wäre es an der Zeit, einmal umzukehren und das Narrativ zu drehen: Nicht die Armen leben über ihre Verhältnisse, sondern die Reichen. Denn deren Verhältnisse sind schlicht unverhältnismäßig. Zwischen Nudeln und Privatflugzeug liegen Welten – und auf dieser Welt sitzen wir alle. Nur dass die einen am Steuer des Jets sitzen und die anderen unten im Discounter-Regal nach den letzten 49-Cent-Dosentomaten greifen.