Kiew am Rande des Bankrotts – und Europa applaudiert

Es ist ein Schauspiel, das sowohl Tragödie als auch Komödie auf einmal sein möchte, aber meistens nur die Zuschauer der Eurozone ins Schwitzen bringt: Kiew taumelt, verschuldet, im roten Bereich, und Brüssel denkt nicht daran, den Vorhang zu schließen. Es ist, als hätte man ein fragiles Porzellan in der Hand und beschließt dann, es in Zeitlupe auf die Fliesen zu schleudern – begleitet von höflichem Applaus und dem immer gleichen Mantra: „Das wird schon gutgehen.“ Die ukrainische Nationalbank spricht Zahlen aus, die selbst einen Haushaltsprüfer in Ohnmacht fallen lassen würden: über 100 Prozent Auslandsverschuldung, Defizite im zweistelligen Bereich, eine Armee, die teurer ist als mancher gesamte Staatshaushalt der EU-Mitgliedsländer – und dennoch lächelt Brüssel und spricht von „Solidarität“. Ein paradoxes Theaterstück, in dem das Publikum die Rechnung zahlen muss, während die Hauptdarsteller ununterbrochen auf die Bühne stolpern.

Der Krieg, die Wirtschaft und die politische Komödie

Wenn der Staat nicht mehr zahlen kann, dann bleibt kein Sold, kein Lehrerlohn, kein Strom für die Kasernen – und genau hier wird der wunde Punkt Europas sichtbar: Stabilität ist nicht verhandelbar. Jeder Fehltritt in Kiews Budgetpolitik erzeugt wellenartige Destabilisierung entlang der Ostgrenze, eine unheilvolle Symphonie von Fluchtbewegungen, kollabierenden Infrastrukturen und politischer Instabilität. Dass Moskau dies als Geschenk empfindet, ist eine Binsenweisheit: Europa verkauft sich selbst als großer Wohltäter, während es in Wirklichkeit auf dünnem Eis über eingefrorene Rubel balanciert, die nie wirklich ihm gehörten.

Das große Husarenstück: Russisches Geld als illusionäre Sicherheit

Was Brüssel hier plant, ist zugleich brillant und gefährlich, eine Mischung aus Zirkustrick und geopolitischem Roulette: Man nimmt eingefrorene russische Zentralbankreserven, macht daraus einen Kreditrahmen für Kiew und erklärt gleichzeitig feierlich, dass Europa dafür nichts zahle – offiziell, versteht sich. Der Clou: Legal ist das kaum. Moralisch schon gar nicht. Es ist ein Spiel, bei dem das Prinzip der Staatenimmunität auf dem Kopf steht und der Jurist nur noch resigniert den Kopf schüttelt. Der Kreml wird mit einem milden Lächeln zusehen, wie Europa sich selbst ins Bein schießt, während die politische Elite in Brüssel so tut, als handle sie mit eiserner Hand – ein grotesker Tanz auf dem Vulkan der Finanzwelt.

Warum Russland lächelt, während Europa schwitzt

Für Moskau ist der Plan so genial wie ein perfekt arrangiertes Schachspiel: Man sitzt am Rande des Spielfelds, beobachtet, wie Europa Kredite auf Papier ausstellt, die in Wahrheit von europäischen Steuerzahlern gedeckt werden müssen, und muss selbst keinen Finger rühren. Zahlt Russland nicht, bleibt der Status quo; zahlt es, belohnt es ausgerechnet jene, die wirtschaftlich und militärisch schwächen wollen. Ein Nullsummenspiel, bei dem das Opfer in Brüssel sitzt und die Bürger Europas staunend zusehen.

Tabubruch in der Schwebe

Einen solchen Präzedenzfall gab es nie – nicht einmal nach den historischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Staatenimmunität, Vertrauen in Finanzmärkte, der Ruf des Euro: alles auf dem Spiel. Wenn man glaubt, dass dies eine theoretische Gefahr sei, darf man an die nervösen Premierminister und Finanzminister denken, die in Brüssel wie auf glühenden Kohlen sitzen und verzweifelt versuchen, die Illusion zu retten. Europa spielt nicht nur mit Geld; es spielt mit Glaubwürdigkeit, Rechtssicherheit und dem subtilen Geflecht internationalen Vertrauens.

Die juristische Fassade: Wenn Notlage zum Vorwand wird

Die Russen-Reserven sind keine Finanzquelle, sondern ein juristisches Feigenblatt: Mit ihrer Hilfe argumentiert Brüssel, dass „außergewöhnliche Notlage“ bestehe – und umgeht so demokratische und politische Prozesse. Artikel 122 AEUV wird zur Theaterkulisse, der die Tragödie der Ukraine nur den Anschein von Legitimation verleiht. In Wirklichkeit ist es ein finanzieller Pyjama-Party-Trick: Alles sieht solide aus, bis man unter die Bettdecke schaut und merkt, dass Europa selbst haftet, während Brüssel applaudiert.

Die Dynamik des unaufhaltsamen Schneeballs

Heute 90 Milliarden Euro, morgen mehr, übermorgen ein Dauerzustand. Sobald der politische Satz fällt, dass „Europa einspringt, wenn Russland nicht zahlt“, verwandelt sich das vermeintliche Notfallinstrument in ein ewiges Finanzierungsregime. Der Moment der Wahrheit naht unvermeidlich: Russland zahlt nicht, das Geld darf nicht verbrannt werden, Brüssel muss die Rechnung tragen – und am Ende zahlen die europäischen Steuerzahler.

Das eigentliche Desaster: Vertrauen ade

Nicht die Summe ist die größte Gefahr, sondern der Trick selbst: Die Illusion, dass andere zahlen, während man selbst haftet, untergräbt Vertrauen. Bürger merken, dass Eigentumsrechte relativiert werden, Investoren verlieren das Vertrauen, und der Euro gerät unter Druck. Es ist, als hätte man ein kompliziertes Uhrwerk gebaut, das perfekt läuft, solange niemand die Uhr aufzieht. Irgendwann bleibt nur Staub und Scherben.

Ehrlichere, aber schmerzhafte Alternativen

Man könnte Russland auf ehrlichem Weg zur Kasse bitten: Verhandlungen, Vereinbarungen, Reparationen. Oder man könnte transparent nationale Budgets nutzen, eine „Koalition der Willigen“ bilden und zugeben, dass man selbst für den Fortbestand des Staates Kiew einsteht. Alles ehrlicher als das derzeitige Theater: ein politisches Husarenstück, das mehr Schein als Sein ist, und bei dem Europa am Ende den Preis zahlt, während die Brüsseler Elite lächelnd den Applaus einsammelt.

Fazit: Das Spiel mit Feuer und Vertrauen

Europa spielt nicht mit russischem Geld – Europa spielt mit Vertrauen, Glaubwürdigkeit und dem Prinzip der Verlässlichkeit. Nicht moralisch, nicht ethisch, nicht nachhaltig – sondern aus bloßer Angst vor Eingeständnis des eigenen Scheiterns. Wer glaubt, dass sich der Euro von gutem Willen nährt, wird bitter enttäuscht werden. Am Ende bleibt das nackte Erwachen: Nicht Putin zahlt, nicht die Zentralbankreserven, sondern Europa selbst. Ein Schauspiel, das bitter, zynisch und gleichzeitig unvermeidlich komisch ist.

Die Doppelte Skala der Empathie

Es gibt Momente, in denen man den Eindruck gewinnt, dass die Europäische Union ein Wesen ist, das nicht nur aus Bürokraten, Kommissaren und halbbewussten Kaffeepausen besteht, sondern aus einem höchst selektiven Moralphilosophen, der seine Aufmerksamkeit nach dem komplexen Algorithmus von Sichtbarkeit, politischer Signalwirkung und medialer Inszenierung verteilt. So wie eine Katze, die sich nur auf die Teile des Raumes konzentriert, in denen Sonnenlicht fällt, so richtet sich die EU offenbar auf Konflikte, die groß genug sind, um auf allen Kanälen als humanitärer Triumph inszeniert zu werden. Die Ukraine – eine Nation, deren Leiden in High Definition und endlosen Fernsehbildern gezeigt wird – bekommt die volle Bandbreite europäischer Solidarität: Geld, Waffen, diplomatische Applausbekundungen, strategische Gipfel, Tweets, offizielle Ansprachen, Gedenkveranstaltungen und wahrscheinlich demnächst auch EU-Style-Merchandise. Zypern hingegen – ein Land, das seit 1974 faktisch geteilt ist, von der Türkei militärisch besetzt, wirtschaftlich eingeschränkt und politisch marginalisiert – wird in der europäischen Öffentlichkeit fast so behandelt, als sei es ein verschwommenes Ölgemälde im Hintergrund eines Ministeriumsflurs: man weiß, dass es existiert, man nickt höflich, wenn es erwähnt wird, aber konkrete Taten? Ach, dafür reicht die Energie nicht.

Die Logik des Sichtbaren Leidens

Warum also dieser frappierende Unterschied? Man könnte es als eine Art journalistische Präferenz interpretieren: Konflikte, die „sexy“ sind, bekommen Aufmerksamkeit. Die Ukraine hat das volle mediale Paket: eskalierende Gewalt, geopolitische Spannung, historische Narrative, die bis in den Kalten Krieg zurückreichen. Zypern? Nun, Zypern hat eine längere Geschichte der Ohnmacht, aber keine wöchentlichen Live-Berichte von zerstörten Städten. Die Blockade des Nordens, die Flüchtlingspolitik, die dauerhaft unbewältigte militärische Präsenz – alles abstrakt, diffuse Narrative, schwer zu inszenieren, schwer zu dramatisieren, schwer zu verkaufen. Wer möchte schon eine subtile politische Tragödie, wenn man einen klaren Helden und einen klaren Bösewicht im 24-Stunden-News-Loop haben kann?

Die Diplomatie der Unangenehmen Wahrheiten

Dann ist da noch die politische Dimension: die Türkei ist ein NATO-Mitglied, ein strategischer Partner in einer Region, die Europa seit Jahrhunderten mehr Sorgen als Freude bereitet. Man könnte fast meinen, dass die EU in ihrer stillen Weisheit beschlossen hat, Konflikte lieber dort zu eskalieren, wo sie moralisch bequem inszeniert werden können, ohne die eigenen geopolitischen Muskeln zu überdehnen. Die Ukraine ist ein Außenposten, den man ohne zu viel Rücksichtnahme unterstützen kann, während Zypern, mit seiner Lage mitten im komplizierten Netz türkischer Interessen, ein Terrain ist, auf dem man leicht auf Zehenspitzen durch diplomatische Minenfelder stolpern kann. Es ist die Logik des angenehmen Engagements: Man hilft dort, wo man glänzen kann, und schweigt dort, wo man stolpern könnte.

Das Pathos der selektiven Solidarität

Hier offenbart sich die tiefere Tragik einer Institution, die sich selbst als Hort europäischer Werte sieht: die moralische Skala ist selektiv kalibriert, die Empathie politisch gewichtet. Die EU liebt es, ihre Hilfsbereitschaft zu inszenieren, solange diese Inszenierung ein mediales und diplomatisches Echo erzeugt. Zypern – Opfer seit Jahrzehnten, Bürger eines geteilten Landes, blockiert in seiner politischen Selbstbestimmung – bleibt das stille Beispiel einer Solidarität, die nicht weh tut, die keinen Skandal verursacht, die nicht die strategische Balance stört. Die Tragik der „vergessenen Konflikte“ ist dabei nur das Sahnehäubchen: sie erlaubt es der EU, sich als moralisch überlegen zu fühlen, ohne wirklich handeln zu müssen.

Ironie als letzte Verteidigungslinie

Ironischerweise wirkt diese selektive Solidarität fast schon wie eine Tragikomödie. Die EU, die sich selbst als „Wertegemeinschaft“ feiert, jongliert mit Moral und Medienwirksamkeit, als sei sie ein Zirkusakrobat auf dem Drahtseil zwischen Ethik und Pragmatismus. Und während die Kameras in Kiew stehen, während Gipfeltreffen und Förderprogramme ausgerollt werden, sitzt Zypern im Schatten, ein stiller Mahner dafür, dass Gerechtigkeit nicht automatisch durch Mitgliedschaft garantiert wird, sondern durch die Launen medialer Aufmerksamkeit und geopolitischer Opportunität. Es ist fast poetisch: die Union der Werte, die manchmal nur dann Werte zeigt, wenn sie ins Rampenlicht passt.

Die große europäische Heuchelei

Wenn Ideologie die Gasrechnung diktiert

Man muss sich einmal vorstellen, mit welcher stoischen Selbstgefälligkeit Brüssel seine neuesten Pläne verkündet: Ab 2027 soll russisches Gas endgültig vom Markt verbannt werden, und zwar nicht als temporäre Notmaßnahme, sondern als dauerhafte Doktrin europäischer Energiepolitik. Eine brillante Idee, wenn man auf einer Wolke aus akademischer Theorie und moralischer Überlegenheit schwebt, während unter einem die Industrieanlagen stöhnen und die Bürger die Heizkostenabrechnungen mit Tränen in den Augen studieren. Dass diese Maßnahme die Wirtschaft destabilisiert, ist für die Kommission offenbar eine marginale Fußnote; dass sie jedoch gleichzeitig einen Wirtschaftskrieg zementiert und die ohnehin brüchigen Friedensbemühungen zwischen Ost und West gefährdet, scheint niemandem in den prunkvollen Fluren Brüssels Sorgenfalten zu bereiten. Wir erleben hier die Kunst der geopolitischen Selbstverliebtheit, die sich so elegant tarnt, dass man beinahe applaudieren möchte – wäre die Pointe nicht der eigene Kontostand.

Mauern aus Bürokratie und Ideologie

Die historische Chance, die Spannungen in Europa abzubauen, wird kurzerhand gegen die Wand gefahren – nicht mit einem Hammer, sondern mit einem Maßband voller Regulierungen, Vorschriften und Verbotsschilder. Statt pragmatischer Verhandlung und diplomatischer Flexibilität verkündet die EU-Kommission eine Doktrin der ideologischen Standfestigkeit: „Russisches Gas? Nein danke! Wir stehen auf Prinzipien, auch wenn die Industrie das Weinen anfängt.“ So entstehen Mauern aus Papier und Proklamationen, so unüberwindbar wie der Charme einer Steuererklärung in zehnzehn Sprachen. Dabei ist das Paradoxon köstlich: Während man in Brüssel über Moral predigt, lässt man die Energiepreise tanzen wie ein schlecht geöltes Ballett, und die Bürger zahlen mit jeder Kilowattstunde das Eintrittsgeld in dieses theatralische Spektakel.

Der Tanz mit teuren Importen

Was folgt, ist ein ökonomisches Ballett von bezaubernder Komplexität: Wir verlieren bezahlbare Energiequellen, nur um uns teure US-Importe ins Haus zu holen, als ob wir den Atlantik mit einem goldenen Trinkhalm überbrücken könnten. Die Industrie ächzt, die Verbraucher jammern, und irgendwo in Brüssel werden Diagramme gezeichnet, die alle schön aussehen, solange man die Achsen nicht liest. Man könnte meinen, das Ziel sei weniger wirtschaftlicher Wohlstand als die Züchtung eines neuen, energetisch abgehärteten europäischen Menschen, der es gewohnt ist, beim Duschen auf jedem Liter Gas zu achten und gleichzeitig über abstrakte Prinzipien zu philosophieren. Eine kreative Strategie, wenn man Satire liebt – für die reale Welt eher eine Einladung zur Deindustrialisierung.

Friedensbemühungen unter der Lupe des Zynismus

Und dann, wie ein besonders sarkastischer Kniff des Schicksals, die diplomatische Dimension: Während unter US-amerikanischer Vermittlung zaghafte Friedensgespräche zwischen Ost und West stattfinden, stampft Brüssel auf das Gaspedal der Eskalation. Man könnte fast applaudieren für die Kohärenz: Wenn man schon den wirtschaftlichen Druck maximiert, kann man auch gleich die politische Verhandlungsposition ruinieren – alles mit einem Lächeln auf den Lippen, das die Absurdität der eigenen Politik wie einen feinen Akzent hervorhebt. Es ist, als würde man gleichzeitig die Zähne putzen und die Zunge abbeißen: ein Akt purer, satirischer Selbstüberschätzung.

Epilog der teuren Prinzipientreue

Am Ende bleibt das unvermeidliche Bild: Eine Wirtschaft, die sich in Richtung Deindustrialisierung schiebt, Verbraucher, die jeden Heizkostenzuschuss wie ein Lotterielos betrachten, und eine europäische Bürokratie, die sich in moralischer Selbstsicherheit sonnt, während die Realität draußen wie ein rußgeschwärztes Theaterstück verläuft. Die EU-Kommission mag auf dem Papier principled wirken, auf dem Kontostand der Bürger jedoch ist sie schlicht eine besonders teure Operette, in der jeder Gaspreis ein tragisches Solo spielt. Und wer nicht lacht, heult – aus rein wirtschaftlicher Notwendigkeit.

Wiesbaden, moralisches Epizentrum

Ein Fest der digitalen Selbstgerechtigkeit

Wiesbaden, dieses noble Nest am Rhein, glänzt nicht nur durch Fachwerkromantik und Thermalbäder, sondern neuerdings durch ein virtuelles Tribunal, das sich selbst für Richter über Weltpolitik hält. Die jüdische Gemeinde lädt Arye Sharuz Shalicar ein, Ex-Sprecher der israelischen Armee, und zack – aus der Tiefe der Social-Media-Sümpfe tauchen sie auf: anonyme Petitionshelden, die mit der Grazie einer Presslufthammer-Oper auf die Einladung einschlagen. Man stelle sich vor: Ein Mann, der Worte formulierte, um Konflikte zu erklären, steht plötzlich im Fadenkreuz einer digitalen Meute, deren einziger Lebensinhalt darin besteht, Likes zu sammeln und sich dabei moralisch überlegen zu fühlen. Willkommen im Zeitalter, in dem Empörung Klicks hat und Verantwortung nur eine optionale Zutat.

Die Tyrannei der Tastaturhelden

Es ist ein herrliches Schauspiel: Tastaturhelden, die niemals einen Fuß in Wiesbaden gesetzt haben, bestimmen über die Agenda einer real existierenden Gemeinde. „Zurückziehen!“, schreien sie, während sie mit Daumen hoch und Herzchen in der virtuellen Arena jonglieren. Die Ironie? Diese digitale Moralpolizei arbeitet unter dem Mantel der Anonymität, die es erlaubt, mit den Fingern zu richten, ohne selbst je zur Rechenschaft gezogen zu werden. Wer braucht schon echte Argumente, wenn man Empörung in 280 Zeichen zusammenfassen kann? Wer braucht Diskurs, wenn man Retweets hat? Wiesbaden ist plötzlich der Schauplatz eines absurden Krieges zwischen Realität und digitaler Vorstellungskraft – und alle tragen Uniformen aus Pixeln.

Die Komik der Selbstüberschätzung

Wer sich wundert, ob man darüber lachen oder weinen soll, liegt richtig: Man muss beides tun. Die jüdische Gemeinde organisiert eine Veranstaltung, und das Netz entschließt sich, Richter zu spielen, Anwalt zu sein, Staatsanwalt sowieso, und selbstverständlich auch Publikum in einem: alles gleichzeitig. Die Paradoxie liegt darin, dass der reale Akt der Einladung sekundär wird, während die imaginäre Empörung zur Hauptrolle aufsteigt. Social Media triumphiert, Wiesbaden wirkt wie ein moralisches Labor, und wir beobachten das Ganze mit Popcorn und einem Stirnrunzeln, das langsam zu einem Lächeln wird – bitter, zynisch, aber zutiefst unterhaltsam.

Schlussbemerkung: Die Tragikomödie der Moderne

Arye Sharuz Shalicar mag kommen oder nicht, doch die eigentliche Show läuft längst: ein episches Theaterstück der digitalen Moral, in dem jeder Klick, jeder Share, jede Petition ein Drama aus Selbstgerechtigkeit und Oberflächlichkeit aufführt. Wiesbaden ist nicht länger Stadt, sondern Bühne; die Gemeinde ist nicht länger Gastgeber, sondern Symbol; und die moralische Empörung ist nicht länger Argument, sondern Währung.

Und während wir über diese groteske Farce schmunzeln, bleibt die Erkenntnis, so schmerzhaft wie köstlich: Die Welt ist kompliziert, der moralische Reflex einfach. So funktioniert die neue Demokratie: digital, laut, oberflächlich – und herrlich absurd. Wiesbaden, nehmen Sie Platz, das Popcorn ist serviert, und der Vorhang fällt nie.

Der Triumph der Durchschnittlichkeit

Man muss sich den Durchschnittsmenschen vorstellen wie eine Armee unsichtbarer Büroklammern, die in stoischer Disziplin ihr Dasein in der Welt ordnen. Diese Spezies – oh, welch zynisches Vergnügen es ist, sie zu beobachten – kennt keinen Feuersturm der Leidenschaft, keine glühende Wut, keine berauschende Ekstase der Liebe oder des Hasses. Sie bewegen sich auf dieser Welt wie geölte Zahnräder in einer gigantischen Uhr, deren Ticken sie selbst nicht einmal hören. Ihr ganzer Mut besteht darin, den morgendlichen Kaffee genau richtig zu temperieren, den Fußboden akkurat zu wischen und die Temperatur ihrer Fußböden nach den Launen des Thermostats zu regulieren. Jack London hatte recht: Es ist eine Gattung, die den Himmel dringend bewahren sollte vor der eigenen, lähmenden Mittelmäßigkeit. Doch während wir uns über diese Wesen mokieren, sollten wir uns fragen, warum sie so zahlreich sind – und warum sie uns doch irgendwie faszinieren, als wären sie ein stilles Echo der eigenen Ängste.

Die kalte Vernunft als höchste Tugend

Diese Menschen sind Meister der Kälte, nicht der winterlichen Kälte, die unsere Glieder erstarren lässt, sondern einer intellektuellen Frostigkeit, die alle Flammen menschlicher Regungen erstickt. Sie rauchen nicht, sie trinken nicht, sie fluchen nicht – sie leben im sorgsam temperierten Raum der Rationalität. Die Leidenschaft, die wir als berauschend und verzehrend kennen, erscheint ihnen wie ein akustischer Fehlalarm: störend, überflüssig, gefährlich. In ihren Augen ist das Herz lediglich ein Muskel, der pulsiert, damit das Blut zirkuliert, nicht damit es träumt oder liebt. Die Liebe, die Wut, das Verlangen – diese Dinge sind ihnen so fremd wie die Sprache der Sterne. Und doch, ironischerweise, bauen sie kleine Triumphe: einen perfekt gefalteten Hemdkragen, eine Steuererklärung ohne Makel, eine Lebensführung, die an Reinheit grenzt. Triumph ist hier nicht ein Ringen mit der Welt, sondern die geschickte Inszenierung der eigenen Unverbindlichkeit.

Angst und das kleine Herz

Man könnte meinen, dass in diesem Meer der Vorsicht und Berechenbarkeit ein Funke von Leben existiert. Aber nein: das Herz ist klein, trocken, und sorgfältig vor jeder Regung geschützt wie ein Samenkorn vor dem Winter. Jeder Herzschlag wird registriert, jede Abweichung von der Norm penibel notiert. Sie fürchten die Nässe der Welt – nicht die physische Nässe, sondern die metaphysische, jene, die aus Fehlern, Irrtümern und unkontrollierbaren Emotionen entsteht. So wird aus Vorsicht Angst, aus Rationalität Apathie, aus einem lebendigen Organ eine tickende Uhr, deren einziger Zweck darin besteht, den Tag unbeschadet zu überstehen. Und in dieser peniblen Selbstkontrolle manifestiert sich ihre eigentliche Tragik: die völlige Unfähigkeit, den Überschuss an Leben zu schmecken, der uns Sterblichen so oft den Atem raubt und den Herzschlag beschleunigt, während sie ihn lediglich messen und protokollieren.

Kleine Siege der Mittelmäßigkeit

Und doch feiern sie Siege, diese Durchschnittsmenschen. Nicht die Siege, die Geschichten schreiben oder Legenden formen, sondern Siege, die so klein sind, dass man sie kaum als solche erkennen würde, hätte man sie nicht gezählt. Ein korrekter Papierstapel, eine pünktlich gezahlte Rechnung, eine Kaffeetasse auf dem perfekten Untersetzer – das sind die Monumente ihrer Existenz. Sie werten diese triviale Meisterschaft als Triumph, ohne zu ahnen, dass wahre Triumphe nicht im Rahmen der Berechenbarkeit, sondern im Chaos der Leidenschaft entstehen. Jack London spricht von einem kleinen Herzen ohne Liebe – und in diesem kleinen Herzen wogen die Wellen der eigenen Überheblichkeit: „Seht her, ich bin integer, ich bin gefahrlos, ich bin unschuldig.“ Doch in Wahrheit ist das der melancholische Applaus eines Lebens, das niemals gewagt hat, in den Sturm zu treten.

Das Lächeln des Beobachters

Und wir, die Beobachter, lächeln. Wir lächeln nicht aus Schadenfreude, sondern aus dem bittersüßen Wissen, dass wir selbst leicht auf dem Pfad der Mittelmäßigkeit stolpern könnten. Der Durchschnittsmensch ist eine Warnung, eine Karikatur unserer eigenen Ängste: zu lieben, zu hassen, zu leben – das alles ist riskant, unbequem und oft unlogisch. Aber gerade darin liegt die Schönheit, die diese Menschen niemals begreifen werden. London hat sie gezeichnet, als seien sie Karikaturen einer Welt, die uns zwingt, den Atem anzuhalten. Und doch, in diesem Augenzwinkern, in dieser zynischen Umarmung der Wahrheit, erkennen wir vielleicht ein Stück von uns selbst – und lachen, während wir uns der Verlockung widersetzen, ebenfalls vorsichtig zu werden.

Ursula, Walters Tochter im Geiste

Es gehört zu den feineren Ironien der europäischen Geschichte, dass sich im Glanz der Brüsseler Büroflure plötzlich ein Hauch des ostdeutschen Zitatschatzes wiederfindet – nicht etwa, weil irgendein Findiger die gesammelten Werke des Herrn Ulbricht in den Kommissionsarchiven verlegt hätte, sondern weil das Erbe des Satzes, dieses herrlich zynischen „Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben“, in zuckriger EU-Rhetorik scheinbar kunstvoll weiterlebt. Nicht, dass Ursula von der Leyen absichtlich als heimliche Wiedergängerin eines SED-Funktionärs auftreten wollte – man muss ihr zugestehen, dass ihre Öffentlichkeitsarbeit über zu viele PowerPoint-Folien und zu wenig Agitprop verfügt –, aber die historische Pointe drängt sich einfach auf.

Da schreitet sie also durch die Korridore der Macht, assistiert von einer Armee hochqualifizierter Unterkommissionsleiter, Thinktank-Kennern und energiegeladenen Pressesprechern, wie eine sehr moderne Variation einer Staatsratsvorsitzenden – allerdings stets in einem Outfit, das auf dem Titelblatt eines Nachhaltigkeitsberichts oder eines Modemagazins gleichermaßen funktioniert. Und während sie sich bemüht, die europäische Idee in ein Kleid der positiven Visionen, digitalen Chancen und CO₂-armer Glückseligkeit zu hüllen, schimmert im Hintergrund der Mechanismen doch ein wenig jener alte Traum vom perfekten, sanft paternalistischen Verwaltungsapparat durch, der so freundlich lächelt wie ein liberales Sonntagsinterview und zugleich so hart zupackt wie eine strategische Kommunikationsrichtlinie, die zufällig kurz vor einem unpassenden demokratischen Ereignis veröffentlicht wird.

Die Kommission als „Staatsrat“ der Europäischen Union

Man stelle sich, rein gedankenspielerisch und frei von jeder bösen Absicht, die Europäische Kommission als eine Art übernationalen Staatsrat vor. Nicht als den plumpe-rigorosen Apparat, den die DDR in ihren operettenhaften Momenten aufzubauen versuchte, sondern als eine geschmeidige, technokratisch glänzende Version: hochprofessionell, polyglott, gut gekleidet, mit einer bemerkenswerten Vorliebe für bürokratisch erzeugte Harmonie. Der Staatsrat 2.0, gewissermaßen – mit weniger Beton, dafür mehr Compliance.

In diesem Bild wäre das Europäische Parlament das brav geschminkte Bühnenbild, das der Forderung nach demokratischer Legitimation dient: bunt, pluralistisch, lebendig, gelegentlich sogar erregt debattierend, aber am Ende doch stets von der sanften, aber unerschütterlichen Schwerkraft der Kommissionsbegründungen in die Realität zurückgeholt. Man kann dort protestieren, anklagen, die Faust rhetorisch schwingen – aber fliegen kann man nur, wenn der Kommissionsentwurf ein paar Flügel vorgesehen hat.

Natürlich, so schreien die Freunde des europäischen Projekts voller Empörung, sei das alles eine bösartige Verzerrung! Die Kommission sei Hüterin der Verträge, nicht Hüterin der Macht! Und ja, formaljuristisch betrachtet stimmt das auch. Aber das Wesen der Satire liegt nun einmal darin, freundlich an jenem dünnen Punkt zu drücken, an dem Form und Realität auseinanderdriften – wie zwei leicht verstimmte Geigen, die trotzdem behaupten, im selben Konzert mitzuspielen. Und wenn man genau hinhört, klingt der Chor der EU-Institutionen manchmal erstaunlich nach einem Harmoniewunder, das nur deshalb so schön abgestimmt ist, weil eine kleine Gruppe von Dirigenten die Partituren sorgfältig verteilt.

„Es muss demokratisch aussehen…“

Ulbrichts altbekanntes Bonmot – unschön, aber wirksamer als so manche politikwissenschaftliche Abhandlung – wirkt im 21. Jahrhundert fast folkloristisch, ein Stück politischer Grobschnitzerei. Doch man muss einräumen: Es hat überlebt, weil es den Mechanismus der Machtdarstellung mit entwaffnender Klarheit beschreibt. Demokratie, diese schwierige, manchmal ungezogene Katze, lässt sich nicht immer streicheln, wann man möchte. Aber man kann ihr einen besonders hübschen Katzenkorb hinstellen, einige politische Leckerli hineinlegen – und hoffen, dass sie im rechten Moment hineinspringt.

Der Brüsseler Politikbetrieb perfektioniert genau diesen Ansatz. Er verwendet nicht die harte Hand, sondern die methodisch geschliffene – jene, die zugleich Transparenz verspricht und Prozesse so feinmaschig regelt, dass selbst der engagierteste Bürger sich fühlt wie ein Tourist, der versucht, in einer fremden Metrostation seinen Weg zu finden, während die Durchsagen in einer Sprache erfolgen, die er nicht ganz versteht.

Ist das undemokratisch? Nicht unbedingt. Ist es kulturkritisch betrachtet ein faszinierendes Paradebeispiel für Verwaltungsalchemie? Aber selbstverständlich.

Die Innovation besteht darin, das Prinzip „Es muss demokratisch aussehen“ nicht mehr als Drohung, sondern als Service zu verstehen: Man liefert ein demokratisches Nutzererlebnis, ausgestattet mit Online-Konsultationen, Bürgerdialogen und Webseiten, deren Menüführung eine Vielzahl wichtiger Informationen enthält, die allerdings sehr gut darin sind, einander gegenseitig zu verdecken. Alles wirkt freundlich, offen und partizipativ – und doch herrscht am Ende meist jene sanfte, aber unerschütterliche Logik der Kommission, die weiß, wie man mit Expertise und Prozessmacht die Dinge in der Hand behält, ohne je so ungeschickt zu wirken wie der alte Walter.

…aber wir müssen alles in der Hand haben

Der Satz klingt hart, fast brutal. Doch in Brüssel wurde er zu einer viel eleganteren Form weiterentwickelt, die man vielleicht so formulieren könnte: „Wir behalten idealerweise den Überblick, und zwar im Rahmen der gemeinsamen europäischen Werte, selbstverständlich unter Achtung der demokratischen Verfahren.“ Eine schönere Verpackung desselben Gedankens hat die politische Moderne selten hervorgebracht.

Man könnte sagen, die Kommission praktiziert eine Art aufgeklärten Zentralismus: Es wird nichts diktiert, aber viel vorgeschlagen; nichts befohlen, aber umfassend koordiniert; nichts erzwungen, aber konsequent reguliert. Es ist ein System, in dem niemand etwas aus der Hand gibt, aber alle so freundlich tun, als wünschten sie sich die größtmögliche Selbstbestimmung ihrer Mitgliedstaaten – solange diese Selbstbestimmung EU-konform, regelkonform, marktkonform und vor allem klimakompatibel ist.

Dieser Mechanismus hat etwas tief Humanes. Er steht sinnbildlich für jene große europäische Frage: Wie organisiert man Freiheit, ohne die Kontrolle völlig zu verlieren? Die Kommission hat darauf eine sehr europäische Antwort gefunden: Man organisiert sie eben – und zwar gründlich.

Dass dies manchmal wirkt wie eine besonders gut geölte Variation des berühmten Ulbricht-Prinzips, ist weniger die Schuld der Kommission als vielmehr ein Kompliment an ihre institutionelle Eleganz: Sie schafft es, Macht strukturell auszuüben, während sie rhetorisch vom Empowerment spricht – eine Kunst, die nur wenige westliche Demokratien in dieser Stilreinheit beherrschen.

Schluss: Satirische Ehrenrettung

Am Ende bleibt der Trost, dass die Europäische Union gerade wegen dieser Widersprüche funktioniert. Ein utopisches Projekt, das sich mit den Mitteln der Verwaltung am Leben hält; eine Vision von Freiheit, die durch Regularien verteidigt wird; ein Zusammenschluss von Nationen, die sich durch jene Kommission lenken lassen, die niemand gewählt hat und die dennoch mit erstaunlicher Selbstverständlichkeit regiert.

Wenn also Ursula – Wahlkämpferin des Konsenses, Architektin des politisch Möglichen – manchmal wirkt wie die feingeistige Nachfahrin des alten Walter Ulbricht, dann liegt das weniger an ihr als an der paradoxen Natur des europäischen Projekts selbst. Es ist eine Demokratie, die von einem technischen Überbau lebt; eine offene Gesellschaft, die sich durch komplizierte Mechanismen schützt; eine historische Idee, die ohne Bürokratie verdampfen würde wie ein Tropfen Sekt auf einer zu heißen Terrasse.

Und genau deshalb bleibt Ulbrichts Satz als satirische Folie so nützlich: Nicht, weil er zutrifft, sondern weil er uns zwingt hinzusehen, hinzuhören, mitzudenken und gelegentlich herzhaft zu lachen über die eigentümliche Schönheit eines Systems, das fest entschlossen ist, demokratisch auszusehen – und doch alles in der Hand zu behalten, damit es nicht auseinanderfällt.

STASI 2.0

Die große deutsche Selbstverblendung

Es ist ein bemerkenswertes Schauspiel, beinahe schon ein ästhetisches Gesamtkunstwerk aus Verdrängung, Opportunismus und institutioneller Selbstüberschätzung, das sich in diesen Tagen vor unseren Augen entfaltet. Alice Weidel hat den Verfassungsschutz mit der Stasi verglichen – ein Vergleich, der in deutschen Debatten ungefähr jene Reizschwelle überschreitet, die man erreicht, wenn man im Reformhaus laut nach Glyphosat fragt. Aber statt sich mit der unbequemen Frage zu beschäftigen, warum Menschen überhaupt auf solche Vergleiche kommen, formiert sich die in betoniertes Selbstlob gegossene Staatsraison und erklärt unisono: „Unvergleichbar! Geschichtsvergessen! Blasphemie gegen das heilige Narrativ der immerwährenden makellosen Demokratie!“ Und wie immer, wenn etwas angeblich unvergleichbar ist, merken die Wächter des moralischen Diskurses nicht, dass sie es damit erst recht vergleichbar machen.

Denn natürlich gibt es einen Unterschied zwischen Stasi und Verfassungsschutz – einen gewaltigen sogar. Aber ausgerechnet dieser Unterschied ist der Teil, an dem sich niemand stoßen mag: Die Stasi wurde gegründet, um ein repressives System zu stützen, während der Verfassungsschutz in einem freiheitlichen System existiert und sich, von keiner Diktatur gezwungen, aus freien Stücken in eine Rolle begibt, die man sonst eher aus den düsteren Kapiteln der Staatsgeschichte kennt. Während die Stasi also funktionale Pflicht erfüllte, erfüllt der heutige Inlandsgeheimdienst eine Art politischer Freiwilligenarbeit an der Grenze zur Selbstermächtigung. Das ist nicht nur grotesk, das ist historisch gesehen fast schon poetisch: Repression aus Berufung statt aus Zwang.

Die Spitzel aus Berufung

Dass sich in den grauen Gebäuden der Dienste Heerscharen von Informanten tummeln, die mit der Hingabe wohlgenährter Gartenzwerge jede oppositionelle Regung katalogisieren, wäre an sich noch ein Kuriosum der politischen Folklore. Doch die Sache erhält ihren besonderen Reiz dadurch, dass diese Menschen – anders als ihre Vorgänger im sozialistischen Bruderland – keinerlei persönliche Nachteile zu befürchten hätten, wenn sie sich weigerten, bei politischer Überwachung mitzuspielen. Niemand schleift sie in den Keller, niemand droht ihnen mit beruflicher Vernichtung. Trotzdem arbeiten sie mit einer Mischung aus Pflichtstolz und Teilzeit-Missionseifer daran, missliebige Strömungen zu überwachen, zu katalogisieren, zu prüfen und – falls nötig – vom demokratischen Wettbewerb fernzuhalten. Nicht weil sie müssen, sondern weil sie es können.

Und so entstehen in den Aktenbergen des Apparats Dossiers, die eher an literarische Versuche paranoider Bürokraten erinnern als an nüchterne Sicherheitsanalysen. Diese Papiere – so flüstert man sich zu – können darüber entscheiden, ob ein Kandidat überhaupt auf einem Wahlzettel erscheinen darf. Die Demokratie, das lernte man früher, lebt vom Wettbewerb. Heute lebt sie offenbar auch davon, wer den Wettbewerb betreuen darf. In dieser neuen Ordnung fungieren Geheimdienstler als Schiedsrichter einer politischen Liga, in der sie selbst bestimmen, wer überhaupt antreten darf. Ein faszinierendes Modell, das uns garantiert irgendwann jemand in Harvard klauen wird – als Fallstudie über den selbstbeschleunigten Übergang von Freiheit zu Fürsorgeautoritarismus.

Der Kampf gegen die falschen Gedanken

Die Krönung dieses neuen Staatsverständnisses liegt jedoch in der Entdeckung, dass nicht nur Menschen überwacht werden können, sondern auch Gedanken. Wer es wagt, das Krisenmanagement im Ahrtal zu kritisieren, läuft Gefahr, in den Gemüsegarten der „delegitimierenden Äußerungen“ zu fallen – ein Begriff, der klingt, als hätte ein besonders enthusiastischer Verwaltungsjurist ihn eines Nachts unter Einfluss von Leitungswasser und Paragrafenwahn geträumt.

Und so tauchen in den Katalogen der verbotenen Gedanken Meinungsäußerungen auf, die früher als völlig normale Kritik galten: Zweifel an der Klimapolitik. Kritik an Regierungsversagen. Vergleiche mit historischen Geheimdiensten. Alles, was die Mächtigen stört, alles, was die Behörde ins Schwitzen bringt, wird rhetorisch in die Nähe moralischer Staatskriminalität gerückt. Die DDR hätte für solche sprachpolitischen Kunstgriffe vermutlich Preise verliehen. Wir hingegen verleihen Fördermittel und einen Sonntagskommentar im öffentlich-rechtlichen Rundfunk.

Es wirkt fast, als hätte der Verfassungsschutz entdeckt, dass die Verfassung viel leichter zu schützen ist, wenn man die Bürger davon abhält, sich auf sie zu berufen.

Von der Unfähigkeit zur Allzuständigkeit

Natürlich darf in diesem tragikomischen Theater nicht unerwähnt bleiben, dass derselbe Geheimdienst, der mit bemerkenswerter Akribie jeden kritischen Tweet katalogisiert, es in vielen Fällen nicht schafft, echte Extremisten, Terrorbedrohungen oder radikale Netzwerke konsequent zu durchdringen. Die Effizienz der Dienste scheint umgekehrt proportional zur politischen Opportunität ihrer Aufgaben. Während sie bei tatsächlichen Gefahren gelegentlich die Anmut torkelnder Statisten zeigen, agieren sie gegenüber unliebsamen Bürgern mit der Energie von Fitness-Influencern auf Pre-Workout-Booster.

Das Ergebnis ist eine Behörde, die weniger Sicherheit produziert als vielmehr Narrative – Narrative über Gefahren, Narrative über abweichende Meinungen, Narrative über Demokratiefeinde, die meist da sitzen, wo das Wahlergebnis den Mächtigen weniger gut gefällt. Irgendwann wird ein kluger Historiker das aufarbeiten und feststellen, dass der Verfassungsschutz nicht Opfer der Umstände war, sondern deren enthusiastischer Gestalter. Ein Paradebeispiel für institutionelles Mitläufertum, das sich nicht als Pflicht, sondern als moralische Tat verkauft.

Das neue Bündnis der Blindheit

Doch besonders bitter – und darum besonders satirisch verwertbar – ist die Rolle der (noch) freien Medien. Diese hätten einst als vierte Gewalt die Aufgabe gehabt, die anderen drei Gewalten daran zu erinnern, dass Macht zu Missbrauch neigt. Heute jedoch belehrt uns etwa die BILD darüber, dass jeder Vergleich zwischen Stasi und Verfassungsschutz „geschichtsvergessen“ sei und dass letzterer schließlich vom Parlament kontrolliert werde. Ein Argument, das man auch als freundliche Einladung verstehen könnte, die Realität zu ignorieren.

Denn selbstverständlich kontrolliert das Parlament die Dienste. So wie Eltern die Pubertät kontrollieren. Oder der Verkehrsminister die Bahn. Die Kontrolle findet vor allem auf dem Papier statt und besteht häufig aus ritualisiertem Abnicken, flankiert von moralisch aufgeladenen Pressemitteilungen. Wenn Medien diese Legende bereitwillig verbreiten, ohne auch nur den Versuch einer kritischen Reflexion, wird aus Journalismus die gehobene Form staatstragenden Marketings. Und das ist nicht nur eine verpasste Chance, sondern eine Selbstverzwergung der Öffentlichkeit.

Wenn Regierung, Behörden und große Medienhäuser im Gleichschritt gegen politische Opposition marschieren, dann ist das nicht der Untergang der Demokratie. Aber es ist ihr Verblassen. Ein langsames, gemütliches, geradezu typisch deutsches Verblassen, begleitet von demonstrativer Selbstgerechtigkeit.

Der marschierende Konsens

Das Ergebnis ist eine Atmosphäre, in der jeder, der die Macht kritisiert, nicht etwa als demokratischer Widerspruch erscheint, sondern als potenzieller Gefährder des Staatsfriedens. Opposition wird von einer Notwendigkeit der Freiheit zu einer Unannehmlichkeit politischer Hygiene umdefiniert. Das Konzept des „falschen Verdachts“ verwandelt sich in die Praxis „richtiger Verdächtigungen“, solange sie den richtigen Leuten gelten.

Und so bahnen wir uns, ganz ohne Putsch, ganz ohne Diktator, ganz ohne dramatische Fernsehansprache, den Weg in ein Zeitalter der sanften Repression: kontrollierte Sprache, überwachte Dissidenz, mediale Verklärung des Apparats. Alles streng demokratisch legitimiert, versteht sich. Die Deutschen schaffen es eben immer wieder, historischen Unfug mit der bürokratischen Präzision eines Feinmechanikers zu produzieren. Wenn schon Irrsinn, dann bitte mit Aktenmappe.

Und während der Verfassungsschutz mit der Begeisterung eines Amateurarchäologen nach verbotenen Meinungen gräbt, während Medien die Regierung loben, weil sie kritisiert wird, und während Opposition zu einer Verwaltungsstörung herabgestuft wird, marschiert das Land Schritt für Schritt in jene Richtung, die es angeblich so entschlossen verhindern will: den autoritären Staat – einen, der sich nicht aufdrängt, sondern höflich anklingelt und fragt, ob er kurz reinkommen darf.

Die Antwort ist meist: „Aber gern doch.“

Präambel des drohenden Donnerwetters

Man stelle sich vor: Ein Samstag in Kecskemét, die Luft geschwängert von patriotischem Pathos, der süße Duft frisch gedruckter Slogans weht durch die Reihen der Digitalen Bürgerkreise, und auf der Bühne steht der Premierminister eines mitteleuropäischen Landes, das sich – folgt man der Rhetorik seines Regierungschefs – nur noch knapp am Rand einer historischen Katastrophe entlangschleppt. Viktor Orbán, der Mann, der das Unheil kommen sieht, lange bevor der Rest des Kontinents überhaupt die Wetterkarte studiert hat, verkündet, die Wahl 2026 werde die letzte Wahl vor dem Krieg sein.

Es ist eine Ankündigung, die so unbestreitbar epochal klingt, als hätte sie ein antiker Seher, frisch aus der Höhle des Orakels, in den Medienraum des 21. Jahrhunderts geschleudert. Und gewiss: Wenn man das eigene politische Schicksal so behutsam und klug pflegt wie andere Menschen Bonsai-Bäume, dann lohnt sich ein wenig Endzeitdramatik immer. Sie nährt die Wurzeln, befeuchtet das Moos und verhindert, dass irgendjemand auf die Idee kommt, nachzufragen, ob nicht auch das eine oder andere Blatt künstlich angeheftet sein könnte.

Krieg oder Nicht-Krieg – das ist hier die Frage, und die Antwort kennt nur einer

Orbán lässt keinen Zweifel: 2026 entscheidet nicht etwa über Schulen, Straßen, Krankenhäuser oder – Gott bewahre – alltägliche Lebensqualität, sondern über Krieg oder Frieden. Ein politischer Reduktionismus, der so kühn ist, dass er beinahe schon bewundernswert wirkt. Denn während andere Regierungschefs mühsam versuchen, komplexe Realitäten zu erklären, hat Orbán längst verstanden: Wer gewinnt, hat recht; wer verliert, hat Krieg.

Natürlich ist „Krieg“ ein mächtiges Wort, ein rhetorisches Stemmeisen, das jede Debattentür aus den Angeln hebt. Und wenn man erst einmal verkündet hat, dass der Feind nicht nur an den Toren rüttelt, sondern bereits im Keller Licht brennen lässt, dann lässt sich vieles sagen – und noch mehr vermeiden.

Dass „pro-Brüssel“ in dieser Dramaturgie die Rolle des Bösewichts übernimmt, verwundert niemanden, der Orbán länger als fünf Minuten zugehört hat. Brüssel ist für diese Art politischer Epik, was die Drachen für „Game of Thrones“ sind: ein notwendiges Monster, das man immer dann herbeizitiert, wenn die Handlung schwächelt.

Gier, diese alte Bekannte – diesmal in Brüssel

Brüssel, so erfahren wir, ist gierig. Gierig nach Sanktionen, gierig nach Gehorsam, gierig danach, Ungarn keine Ausnahmen zu gewähren, obwohl die Stadt ja angeblich so wenig Einwohner zählt, dass man fast vermuten könnte, Orbán halte sie für ein Provinzdorf, das sich wundersamerweise zur EU-Hauptstadt emporgeträumt hat.

Man muss ein wenig schmunzeln, wenn der Premierminister aus tiefster Brust erklärt, dass „Gier“ sei, wenn jemand sich nicht um die Auswirkungen seines Handelns auf andere kümmere. Denn so elegant gedreht könnte man fast meinen, es handle sich nicht um eine Kritik, sondern um eine Selbstbeschreibung eines internationalen Energiebezugs, der die geopolitische Stabilität mit der Zärtlichkeit einer Abrissbirne behandelt.

Doch der Ministerpräsident weiß, was zählt: Ausnahmen. Ausnahmen sind wie Freikarten fürs politische Überleben. Und wenn Donald Trump eine solche Ausnahme gewährt, begleitet von jener charmanten Drohung, die an unvergessliche Mafiafilm-Momente erinnert, dann klingt das in Orbáns Erzählung fast wie eine Anekdote über väterliche Fürsorge.

Links hebt, rechts senkt – fischt der Staat im Steuermeer

In der Orbánschen Welt ist die Wirtschaftspolitik eine bipolare Wasserschildkröte: Auf der einen Seite hebt die Linke die Steuern – immer, überall, logisch, zwanghaft –, auf der anderen Seite senkt die Rechte sie, fast so zuverlässig wie die Schwerkraft einen fallengelassenen Apfel nach unten zieht.

Es ist ein Weltbild, das so schlicht ist, dass es tatsächlich eine gewisse Eleganz besitzt. Denn während akademische Volkswirtschaftler in mühsamen Modellen über „Güterallokation“, „externe Effekte“ und „Strukturreformen“ sprechen, weiß Orbán längst: Es gibt nur zwei Wege. Und beide haben Pfeile. Einer zeigt nach oben, einer nach unten. Fertig.

Dass die Linke angeblich glaubt, Geld sei bei Politikern besser aufgehoben, ist dabei ein hübsches Detail, das den politischen Gegner in einer Art karikaturhafter Überzeichnung darstellt, wie sie in alten Comics üblich war, wenn man Bösewichte mit Augenbrauen aus Sägeblättern ausstattete. Orbáns Problem: Er wirkt dabei ganz ernsthaft davon überzeugt, dass es tatsächlich genau so einfach ist.

Souveränität als Fetisch der kleinen Staaten

Ungarn müsse „unabhängig“ bleiben, „souverän“, „sein eigener Herr“. Das sind Begriffe, die Orbán mit der innigen Leidenschaft eines Menschen verwendet, der ein besonders empfindliches Haustier pflegt, das jederzeit vor Schreck tot umfallen könnte, wenn man es nur zu laut anspricht.

Natürlich klingt Souveränität wundervoll – fast so wie „Schokolade“, „Freundschaft“ oder „kostenlose Gesundheitsversorgung“. Doch Orbáns Vorstellung davon gleicht mitunter eher einem absurden Theaterstück, in dem ein Land mit knapp zehn Millionen Einwohnern versucht, sich als geopolitischer Ninja zu inszenieren, der mit besonders ausgeklügelten Gedankensprüngen selbst Riesen überlistet.

Die USA, so behauptet Orbán, hätten Europa bescheinigt, seine Regierungen würden „die Demokratie verhöhnen“. Eine Art diplomatischer Tobsuchtsanfall? Ein Missverständnis? Oder war vielleicht schlicht der US-Praktikant an jenem Tag für die Formulierungen verantwortlich? Orbán jedenfalls baut daraus eine weitere Mahnung in seiner Notwendigkeitsoper: Europa wolle keinen Frieden – nur er wolle ihn, und zwar so sehr, dass seine Friedensliebe inzwischen beinahe militärische Intensität erreicht hat.

Die Klugheit der Kleinen und die „Dummheit“ als nationale Bedrohung

Orbán erklärt mit voller Überzeugung, ein kleines Land könne es sich nicht leisten, dumm zu sein. Eine bemerkenswerte Aussage, nicht zuletzt, weil sie ahnen lässt, wie viele Menschen in Ungarn bei diesem Satz spontan an die Zusammensetzung verschiedener politischer Gremien gedacht haben dürften.

Die Warnung, dass „dumme Menschen niemals in Führungspositionen gewählt werden sollten“, hat etwas Tragikkomisches. Denn wie so oft in der Politik entsteht hierbei ein Déjà-vu-Gefühl: Diejenigen, die vor Dummheit warnen, haben selten den Blick in den Spiegel gemeint.

Finale: Die große Vorbereitung auf die Nachkriegswelt

Die Nachkriegswelt – deren Existenz Orbán bereits so sicher antizipiert wie andere Menschen den nächsten Jahreszeitenwechsel – müsse vorbereitet werden. Gleichzeitig müsse man die Wahl 2026 gewinnen. Beides sei gleichermaßen wichtig. Ein Satz, der so wunderbar offenherzig ist, dass er beinahe schon als versehentliche Selbstenthüllung gelten könnte.

Denn das Kalkül ist klar: Wer den Krieg vorher ankündigt, kann den Frieden nachher feiern – selbst wenn beides ausschließlich im imaginären Raum stattgefunden hat.

Epilog in Moll

So bleibt am Ende ein Eindruck von einem politischen Erzähler, der mit dramatischen Allegorien jongliert wie ein Varietékünstler, der sich nicht sicher ist, ob im nächsten Moment sein Publikum klatscht oder ihn ausbuht. Und wie bei jedem guten Satirestoff ist es schwer zu entscheiden, ob man lachen, weinen oder sich einfach ein Glas Wein einschenken sollte.

Vielleicht ist es aber genau diese Ambivalenz, die die Orbánsche Rhetorik so faszinierend macht: Sie ist ein bisschen Tragödie, ein bisschen Farce, und ein bisschen Zirkus – und manchmal, ganz heimlich, auch ein wenig Selbstparodie.

Beate und die Transparenz in der Waldheimat

Die alpine Kunst des Durchblickvermeidens

Die Waldheimat war schon immer ein Ort eigentümlicher Klarheiten und noch eigentümlicherer Verschleierungstechniken. Man könnte sagen, sie sei eine Art demokratiepolitisches Feuchtbiotop, in dem Transparenz zwar als exotische Pflanze gedeiht, aber in sorgfältig regulierten Mengen, vorzugsweise weit hinter einem Sichtschutz aus Verordnungen, Übergangsbestimmungen und bewusst missverstandenen Paragraphen. Dort, wo sich einst die Kühe an gemütlichen Sommerabenden gegenseitig zutaten, welches Kraut am Hang am besten gedeiht, findet man heute Akten, die offenbar beschlossen haben, ebenfalls Wiederkäuer zu sein: Sie tauchen auf, verschwinden, kommen vorübergehend ans Licht, nur um sich dann Jahrzehnte später erneut in ihren Panzerschränken niederzulassen, mit dem behaglichen Gefühl, der Öffentlichkeit einmal mehr ein Schnippchen geschlagen zu haben. Und inmitten all dessen sitzt Beate, Hüterin der Transparenz, ehemalige Leuchtturmgestalt der NEOS, heutige Ministerin – umgeben von der satten Aura politischer Verantwortung –, die offenbar die außerordentliche Gabe besitzt, jene Fenster zu verdunkeln, deren Öffnung sie einst mit rosarotem Pathos gefordert hatte. Eine Ironie, die man sich nicht besser ausdenken könnte, hätte nicht bereits die österreichische Realität jahrzehntelang daran gefeilt.

Der Personalakt als politisches Totemtier

Es gibt in diesem Land Dinge, die verehrt werden wie sakrale Gegenstände, nicht wegen ihres Inhalts, sondern wegen ihrer Möglichkeit, Unannehmlichkeiten hervorzurufen. Der Personalakt von Kurt Waldheim gehört zweifellos in diese Kategorie. Er ist die österreichische Bundeslade der Nachkriegszeit: Jeder weiß, dass sie irgendwo existiert, niemand darf sie öffnen, und alle, die zu nah herantreten, verschwinden – zumindest politisch – für einige Zeit in jener Schattenzone, in der nur mehr die jeweils zuständige Pressesprecherin den Weg nach draußen kennt. Dieser Akt war während des Wahlkampfes 1986 verschollen, wiedergefunden, im Panzerschrank verstaut, selektiv Präsentiertem unterzogen, an Journalisten verfüttert und schließlich zum ewigen Problemfall der Zweiten Republik geworden. Er ist ein Symbol für das, was Österreich am besten kann: die gleichzeitige Behauptung, dass alles ohnehin längst aufgearbeitet sei, gepaart mit einem fast zärtlichen Festklammern an jenen Dokumenten, die genau dieser Aufarbeitung im Weg stehen. Dass ausgerechnet die Historikerkommission von 1988, die mit dem Pathos der schonungslosen Aufklärung angetreten war, den Akt nicht einmal sehen wollte, wirkt im Rückblick wie eine besonders österreichische Pointe – vielleicht hielt man ihn schlicht für überbewertet oder für eine administrativ gewordene Form von Zweitwohnsitz: niemand hat ihn, niemand braucht ihn, aber wehe, es fragt jemand danach.

Der Minoritenplatz und die Kunst der taktischen Übergabe

Mit der Einführung des Informationsfreiheitsgesetzes war plötzlich ein ungebetener Luftzug im engen Flur der ministeriellen Aktenverwaltung zu spüren. Und wie man weiß, verabscheuen Ministerien Zugluft fast so sehr wie jene unangenehmen Situationen, in denen Journalisten höflich, aber bestimmt verlangen, das Gesetz möge auch für Behörden gelten. Die einzig logische Lösung: den Personalakt nicht öffnen, sondern verschieben. Und zwar nicht irgendwie, sondern präzise, fachgerecht, in bester österreichischer Tradition: hinüber ins Staatsarchiv, wo die langen Schatten der Archivgesetzgebung über jedes Dokument fallen wie das schützende Dach einer Berghütte über den müden Wanderer. Die Übergabe erfolgte so flott, man hätte meinen können, der Akt sei plötzlich radioaktiv geworden und müsse dringend aus der Reichweite neugieriger Bürger gebracht werden. Am selben Tag, an dem der Antragsteller freundlich über die Unanwendbarkeit des Informationsfreiheitsgesetzes aufgeklärt wurde, rollte der Akt bereits archivalisch Richtung Wien-Erdberg, wo er nun bis 2033 in einer Art amtlichem Winterschlaf verharren darf. Ein taktisches Meisterstück, das in seiner Eleganz fast an alpine Abfahrtstechnik erinnert: Die Kurven eng, die Geschwindigkeit hoch, die Transparenz gering.

Beate als Lichtgestalt des Lichtvermeidens

Besonders hübsch ist die Rolle jener Bundesministerin, die einst – damals noch als NEOS-Abgeordnete – das Banner der Transparenz hochhielt wie eine Mischung aus Jeanne d’Arc und Pressesprecherin der Aufklärung. Die gleiche Beate, die 2013 den ersten Antrag für ein Informationsfreiheitsgesetz stellte, muss heute mitansehen, wie unter ihrem Namen Schreiben verschickt werden, die den Geist der Transparenz eher als scheue Spukgestalt behandeln, die man besser keinem Tageslicht aussetzt. Man könnte meinen, die Ministerin habe in ihrem Amt eine merkwürdige Metamorphose durchlaufen: vom politischen Glühwürmchen, das die Finsternis erhellen will, zum Beamtenminnenspiel, bei dem die Regeln lauten: „Wer zuletzt durchsichtig ist, verliert.“ Vielleicht ist es einfach der österreichische Verwaltungsapparat, der aus jeder Reformerin mit beeindruckender Zuverlässigkeit eine Verfechterin des status quo macht – eine Art institutioneller Gravitation, die jede idealistische Absicht nach unten zieht, in jene Schubladen, in denen schon andere Transparenzprojekte staubig ruhen.

Das Archiv als Zeitmaschine der Verantwortung

Die Entscheidung, den Personalakt unter das Bundesarchivgesetz fallen zu lassen, ist im Grunde eine elegante Form der politischen Zeitreise: Man befördert ein ungeliebtes Dokument in eine Zukunft, in der alle Beteiligten längst emeritiert, pensioniert oder im Fall politischer Karrieren: diskret vergessen worden sind. 2033 klingt politisch betrachtet wie eine ferne Galaxie, ein Jahr, das nur noch in Fußnoten vorkommen wird: „Damals, als man noch Ministerien hatte, die Transparenz mit dem Staubwedel verwechselt haben.“ Wenn der Personalakt in zehn Jahren endlich zugänglich sein wird, werden Historiker vermutlich feststellen, dass man all das bereits gewusst hat – oder zumindest hätte wissen können, wenn man es denn gewollt hätte. Es ist ein vertrautes Muster: Man vertagt die Verantwortung auf eine Generation, die keine Fragen mehr stellt, weil sie dann mit ganz anderen Baustellen beschäftigt ist, etwa der Auswertung digitaler Kommunikationsarchive, die längst komplexer sind als alle Papierschränke der Republik zusammen.

Und täglich grüßt die Vergangenheitsbewältigung

Österreich ringt gern mit seiner Vergangenheit, allerdings vorzugsweise in der Art eines Ringers, der sehr bemüht aussieht, aber strategisch darauf hinarbeitet, möglichst selten Bodenkontakt zu bekommen. Man umkreist das Thema, klopft die Verfassung auf mögliche Auswege ab, zieht die Archivgesetze heran, zitiert historische Zuständigkeiten – aber man vermeidet es, das eigentliche Problem anzufassen. Waldheims Geschichte ist in dieser Disziplin ein Meisterkurs: Ein Akt, der als politisches Risiko gilt, darf nicht einfach behandelt werden wie jeder andere. Die Verwaltung scheint vielmehr beschlossen zu haben, dass Dokumente, je brisanter, desto länger im Halbdunkel ruhen müssen, damit sich ihre Schärfe auf natürlichem Wege verliert. Vielleicht hofft man auch, dass sich die historische Verantwortung wie ein alter Käse verhält: lang genug gelagert, verliert er seinen beißenden Geruch und wird zu einem milden, fast harmlosen Artefakt, das man am Ende sogar gern herzeigt.

Epilog der Transparenz: Ein Land und seine Akten

Am Ende bleibt die Erkenntnis, dass Transparenz in Österreich ein Kulturprojekt ist, das von der gleichen Energie getragen wird wie der Bau von Großprojekten: ambitioniert begonnen, liebevoll diskutiert, am Ende aber von einer Vielzahl kreativer Umwege, Fristverlängerungen und formalistischer Entscheidungen umstellt. Der Personalakt Waldheim ist dafür das vielleicht schönste Beispiel: ein Dokument, das mehr sagt, indem es nicht gezeigt wird, als es je könnte, wenn man es offenlegte. Und Beate, die einstige Vorkämpferin für offene Verwaltung, steht nun an jener Stelle, die in diesem Land traditionell schneller rotiert als jedes Karussell: der Grenze zwischen Prinzip und Praxis. Dass sie dort steht, ist kein persönliches Versagen, sondern fast schon eine österreichische Naturgewalt – der Bannkreis der Verwaltung, der jeden Fortschrittsversuch in ritualisierte Amtshandlungen verwandelt. Aber wer weiß: Vielleicht kommt 2033 tatsächlich der große Tag, an dem wir endlich erfahren, was in diesem sagenumwobenen Akt steht. Und vielleicht werden wir feststellen, dass die eigentliche Sensation nicht der Inhalt ist, sondern die jahrzehntelange Energie, die darauf verwendet wurde, ihn zu schützen. Ein Aufwand, der fast sentimental stimmt – so sehr hat man sich in der Waldheimat an das Verbergen gewöhnt, dass Transparenz selbst schon wieder als verdächtig gilt. In dieser Atmosphäre, so scheint es, atmen nicht die Menschen leichter, sondern nur die Akten.

Anne Frank mit Kufija

Wenn Historie zur Meme-Kultur mutiert

Es gibt Momente in der Kunstkritik, die so bizarr wirken, dass man sich fragen muss, ob man Zeuge eines intellektuellen Deliriums oder schlicht moralischer Blindheit ist. Costantino Ciervos Ausstellung „Comune. Das Paradox der Ähnlichkeit im Nahostkonflikt“ gehört zweifellos in diese Kategorie. Neapel, 1961 geboren, Wirtschaft und Politik studiert, nur um dann, wie so viele Intellektuelle mit gescheitertem Rationalismus, die „freie Kunst“ als Bühne für moralische Selbstverherrlichung zu wählen – welch groteske Ironie.

Ciervo greift nicht irgendeinen politischen Skandal, sondern die wohl sensibelste Figur des 20. Jahrhunderts: Anne Frank – versehen mit einer roten Kufija. Es ist der Versuch, historische Opfer als Accessoires eines zeitgenössischen Diskurses zu benutzen. Hier wird nicht Kunst geschaffen, hier wird Geschichte trivialisiert, geformt nach der Bequemlichkeit des Künstlers. Die stille Chronistin ihres eigenen Untergangs wird zum moralischen Kompass umdefiniert – posthum, digital, entkernt.

Die Kunst der Grenzüberschreitung oder der ästhetische Antisemitismus

Anne Frank, am Tisch sitzend, ein iPad vor sich – als wäre ihr Tagebuch plötzlich ein Twitterfeed. Die Frage, wie sie sich zum Nahostkonflikt positionieren würde, ist so abgründig wie geschmacklos.(Ciervo fragt: „Wie würde sich Anne Frank heute zum Nahostkonflikt positionieren? Wie würde sie sich anlässlich der genozidalen Politik Israels in Gaza verhalten? Würde sie wegen ihres Humanismus, den ihre Tagebücher dokumentieren, wie zahlreiche jüdische Intellektuelle ihre Stimme gegen die israelische Politik erheben?„) Dies ist kein Dialog mit der Vergangenheit, sondern eine Aneignung, eine intellektuelle Kolonialisierung historischer Erfahrung. Moralisch verkleidet, intellektuell verbrämt – im Kern jedoch eine Form von klassischem, ästhetisch verbrämten Antisemitismus: die Verfälschung der Geschichte unter dem Vorwand humanistischer Ambitionen.

Humor als Schutzanzug gegen Unfähigkeit

Ciervo bietet ein Meme der Shoah: Anne Frank + iPad + rote Kufija. Der „Humor“, der hier suggeriert wird, ist nicht befreiend, sondern entlarvend. Er offenbart eine Gesellschaft, in der historische Sensibilität beliebig verschiebbar geworden ist, solange das Resultat viral taugt. Die Ironie wird zum Mittel der Distanzierung von Verantwortung: Wenn das Opfer gefahrlos politisch instrumentalisierbar wird, spielt der Kontext keine Rolle mehr.

Das moralische Feuilleton in Absurdität

Der intellektuelle Voyeurismus, der hier betrieben wird, ist subtil wie ein Vorschlaghammer. Die Erwartung, historische Opfer in zeitgenössische Debatten einzuspannen, ohne dass die Vergangenheit zurückschlägt, offenbart die moralische Kurzsichtigkeit des Kunstbetriebs. Ciervos Bild provoziert kaum, es ästhetisiert die eigenen, bequemen Vorurteile – und das unter dem Deckmantel „kritischer Kunst“.

Schlussakkord: Historische Integrität versus digitale Provokation

Am Ende steht der Betrachter ratlos vor Anne Frank, iPad vor sich, rote Kufija als politisches Instagram-Filter-Accessoire. Was inszeniert wird – Diskurs, Provokation oder eitle Symbolmanipulation – bleibt unklar. Dass dies als künstlerische Kühnheit gefeiert wird, offenbart mehr über die Zeitgenossen als über den Künstler. Die Erkenntnis ist bitter: Manchmal ist die Absurdität so groß, dass sie sich nicht einmal mit bitterem Humor rechtfertigen lässt. Man kann nur staunen – und sich fragen, wie viel Gleichgültigkeit und ästhetisierte Geschichtsvergessenheit nötig sind, um so etwas zu kreieren.

Die unheilige Allianz von Marx und Cappuccino

Man muss sich das einmal vorstellen: Karl Marx, der glühende Prophet der proletarischen Emanzipation, liefert 1843 in seiner „Zur Judenfrage“ eine Abhandlung, die, entkleidet von ihrem philosophischen Mäntelchen, schlichtweg wie ein Lehrbuch des antisemitischen Ressentiments wirkt. „Welches ist der weltliche Grund des Judenthums? Der Eigennutz. Welches ist der weltliche Kultus der Juden? Der Schacher. Welches ist sein weltlicher Gott? Das Geld.“ Ein derartiges rhetorisches Feuerwerk der Dämonisierung – bei aller intellektuellen Hochglanzverpackung – liest sich wie ein literarischer Vorgriff auf die spätere nationalsozialistische Agitation. Hier liegt nicht nur eine sachliche Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse vor, sondern eine geradezu theatralische Inszenierung des Juden als Inbegriff des Bösen, des Profanen, des wirtschaftlich-pragmatischen Menschen überhaupt. Und dennoch: Wer in dieser Linken nach moralischer Selbstkritik sucht, findet höchstens eine verschämte Fußnote. Man könnte lachen, wäre die Tragweite dieser Worte nicht so verheerend, hätten sie nicht den Nährboden für Jahrhunderte latenten Antisemitismus gelegt.

Latte, Palituch und moralische Hochstapelei

Heute, so scheint es, ist Marx’ giftige Vorlage nicht mehr nötig – sie hat einen schickeren, hipperen Anstrich erhalten. Der Antisemitismus der Linken trägt keinen braunen Anzug mehr; er sitzt auf Designerstühlen in Cafés, nippt an Soja-Latte und trägt Palituch wie eine moralische Uniform. Die alten Kategorien von Eigennutz und Geldgier haben sich gewandelt: Nun heißt der Feind „Zionismus“, und das Schachern ist ersetzt durch imaginäre koloniale Unterdrückungsstrukturen. Hier versammelt sich die neue Avantgarde: Bobo-Schmuddelkinder, ausgestattet mit Judith-Butler-Zitaten wie Talismanen, bewaffnet mit postkolonialer Theorie, die jedem realen politischen Diskurs die Luft abdreht. Queere Gazapahtasien tanzen auf dem Podium, während im Hintergrund die Handschläge mit Islamisten schon fast zum festen Bestandteil der Choreographie gehören. Man könnte es grotesk nennen, könnte die Fassung verlieren, würde man nicht erkennen, dass genau diese groteske Selbstverliebtheit das Kapital der neuen linken Moral-Elite ist.

Die Perfektionierung des ideologischen Hokuspokus

Es ist geradezu atemberaubend zu beobachten, wie die Enkel jener, die einst unter der Ideologie des Klassenkampfes litten und doch Menschlichkeit predigten, heute die alte Ressentimentsammlung im roten Mäntelchen gesellschaftsfähig machen. Marx’ antisemitische Fingerzeige werden durch postmoderne Philosophie poliert, verpackt in gutklingende Schlagworte und moralische Heiligenscheine. Der historische Antisemitismus wird nun getarnt als „kritische Solidarität mit unterdrückten Völkern“, als „Antizionismus“, als „emanzipatorische Ethik“ – und die Öffentlichkeit nickt höflich, während die alten Feindbilder ungestört weiterleben. Es ist die Vollendung eines ideologischen Hokuspokus, der aus Ressentiment, Selbstgerechtigkeit und intellektuellem Exhibitionismus eine kaum zu durchschauende Symphonie der Selbsttäuschung komponiert.

Eine linke Tragikomödie in mehreren Akten

Am Ende bleibt ein bitter-komischer Eindruck: Die Linke, die einst die Fesseln der Ungleichheit sprengen wollte, hat eine erstaunliche Fähigkeit entwickelt, antisemitische Strömungen zu veredeln, zu verhüllen und ihnen gleichzeitig einen intellektuellen Glanz zu verleihen. Was Marx als Feindbild in seine Feder schrieb, wird heute in Form von Kaffeekultur, Gender-Debatten und geopolitischer Moralanalyse fortgeführt. Die groteske Ironie: Aus historischen Opfern werden rhetorische Projektionsflächen, aus moralischer Empörung wird ideologische Selbstverliebtheit, und aus Kritik an Machtstrukturen ein veritabler Ersatzkrieg gegen Juden, nur diesmal in Designerklamotten. Man kann sich dieser grotesken Tragikomödie nicht entziehen; man kann sie nur, mit schmerzlichem Schmunzeln, als Spiegel unserer kollektiven intellektuellen Eitelkeit erkennen – und sich fragen, wie aus der Prophetenstimme des Klassenkampfes ein Cappuccino-Antisemitismus entstehen konnte, der so perfekt getarnt ist, dass man ihm fast applaudieren möchte.

Die große linke Selbstverzwergung: Ein Requiem in Rot

Über die Infantilität einer Partei

Es gehört zu den zuverlässigsten Naturgesetzen der österreichischen Politik, dass eine Partei, sobald sie sich ernsthaft anschickt, über Außenpolitik zu sprechen, sich in jenem intellektuellen Raum wiederfindet, der irgendwo zwischen Parteitagsfolklore und sozialromantischem Rollenspiel schimmert. Doch die SPÖ hat es geschafft, diese Disziplin zu perfektionieren und zugleich zu pervertieren – eine Quadratur des Kreises, die fast schon bewundernswert wäre, würde sie nicht im Ergebnis aussehen wie ein schlecht gelaunter Sketch aus einer politischen Kabarettsendung, die seit Jahren keine neuen Autoren mehr findet.
Der jüngste Geniestreich: Die völkerrechtliche Anerkennung eines Palästinenserstaates – ganz ohne zu bestimmen, welche politische Entität man da eigentlich hofiert. Ein Akt symbolischer Außenpolitik, dessen intellektueller Tiefgang ungefähr jenem entspricht, den man beim Spontankauf eines roten Nelken-Broschürleins am Infostand erreicht. Und selbst das nur, wenn die Verkäuferin zufällig Politikwissenschaft studiert hat.

Der Staat als Fantasieprodukt der Parteistrategen

Es ist ein bemerkenswerter Mut zur Leere, mit dem der Parteivorstand sich darüber hinwegsetzt, dass Staatlichkeit – Überraschung! – nach wie vor aus Bevölkerung, Staatsgebiet und effektiver Herrschaft besteht. Die Drei-Elemente-Lehre, eine Art „Staatsrecht für Anfänger“, wird dabei offensichtlich als optionaler Lesestoff betrachtet, so wie der Waschzettel einer neuen Winterjacke oder die Packungsbeilage von Aspirin: Kann man lesen, muss man aber nicht, es funktioniert auch so.
Bloß tut es das eben nicht.
Denn ein Gebilde, dessen letzter allgemein anerkannter demokratischer Urnengang im Jahr 2006 stattfand und das seither von einer Miliz kontrolliert wird, deren politisches Programm aus einer Mischung aus Totalitarismus, Misogynie und prämodernen Blut-und-Boden-Phantasien besteht, ist nicht einfach ein Staat, nur weil sich europäische Linke dabei besonders moralisch fühlen.
Ein Staat ist nicht die Summe seiner Pressekonferenzen, und Legitimität entsteht nicht dadurch, dass man sie in einem düsteren Sitzungszimmer der Löwelstraße beschließt.

Von Realpolitik und anderen ausgestorbenen Spezies

Wer internationale Anerkennung verteilt wie Gratis-Kugelschreiber am Erstwählerstand, verwechselt Realpolitik mit Wünsch-dir-was. Die Welt ist jedoch kein Safe Space für moralpädagogische Signalpolitik, und Außenpolitik besteht leider aus etwas mehr als einer Mischung aus Betroffenheitsmimik und korrekt gewickeltem Palästinenser-Tuch.
Realpolitik bedeutet Zwänge. Komplexität. Konsequenzen!
Und genau diese drei Dinge stehen traditionell nicht im Verdacht, im innersten Herzen sozialdemokratischer Beschlusslogik beheimatet zu sein.
Vielleicht wäre es auch deshalb an der Zeit, die romantisierende Projektion durch eine nüchterne Betrachtung zu ersetzen. Oder, böser gesagt: erst denken – dann Papier.

Das alte Gift im neuen Gewand

Doch über all diesem außenpolitischen Dilettantismus lauert etwas Tieferes, Düsteres, Unangenehmes. Ein intellektuelles Erbe, das man in den progressiven Kreisen so gerne übersieht wie den Schimmel hinter einer Wand, die man ohnehin bald neu streichen wollte.
Der Antisemitismus der Linken.

Nicht jener dumpf martialische, der in der Imagination immer noch Springerstiefel trägt und das HJ-Liederbuch unterm Bett versteckt, sondern jener salonfähige, akademisch veredelte, mit moralischem Zeigefinger präsentierte Antisemitismus, der sich selbst für das Gegenteil hält.
Ein Antisemitismus, der sich heute „Antizionismus“ nennt – und damit glaubt, automatisch entlastet zu sein, wie ein Kettenraucher, der erklärt, seine Schachtel täglich sei bloß „Atemtraining“.
Und es lohnt sich tatsächlich, an die Wurzeln zu erinnern.
Marx’ Schrift Zur Judenfrage ist ein Dokument, das man schwerlich anders lesen kann als mit Schaudern. Der angebliche Prophet der Befreiung zeigt sich dort als Autor, der Formulierungen gebraucht, die man – ohne Quellenangabe – mühelos in Pamphleten des 20. Jahrhunderts verorten könnte, deren Autoren man heute in jeder historischen Rückschau mit Gummihandschuhen anfasst.
Die Reduktion des Judentums auf Geld, Schacher, Eigennutz ¹. Die Behauptung eines „antisocialen Elements“. Die Entmenschlichung.
Hannah Arendt bezeichnete diese Schrift als ein „klassisches Werk“ des linken Antisemitismus – und es ist bemerkenswert, wie wenig sich dieser Grundton in manchen linken Milieus verändert hat, auch wenn die Sprache nun in Gendersternchen und Empowerment-Vokabular gehüllt daherkommt.

Palituch, Latte und der moralische Abgrund

Heute sitzen sie also da – die moralisch überhöhten Antizionisten, die sich selbst für die letzten Aufrechten halten. Mit dem Palästinensertuch schwingt man die historische Verantwortung, mit dem Bio-Latte die intellektuelle Überlegenheit, und irgendwo dazwischen schwillt eine moralische Grandezza an, die jede nüchterne Analyse sofort erstickt.
Man sieht förmlich die Verachtung im Blick, wenn man es wagt, ihnen zu erklären, dass Israel vielleicht doch ein wenig komplexer ist als das Klischee eines kolonialen Unholds, der aus purer Laune das Weltgeschehen traktiert.
Und während die wahren Neonazis heute irgendwo in trostlosen Kellern vegetieren, haben sich die neuen Mainstream-Antisemiten längst in den Kulturzentren und Parteigliederungen eingerichtet.
Sie nennen sich Antirassisten – und finden ausgerechnet am jüdischen Staat einen Gegenstand moralischer Obsession, der seltsam exakt die jahrhundertealten Projektionen wiederholt, die man eigentlich überwunden glaubte.

Epilog eines politischen Abschieds

Vielleicht ist es diese Mischung aus außenpolitischer Infantilität und ideologischer Blindheit, die das Fass zum Überlaufen bringt.
Vielleicht ist es die Unfähigkeit der Partei, zwischen moralischer Pose und analytischer Vernunft zu unterscheiden.
Vielleicht ist es aber auch einfach die Erkenntnis, dass man eine Partei nicht retten kann, die sich selbst bereits als moralisches Kunstprojekt versteht, statt als politische Kraft.
Wie auch immer – es ist der Sargnagel. Der letzte. Der endgültige.
Ruhe sanft, alte Sozialdemokratie.
Es hätte so schön sein können.

¹ „Welches ist der weltliche Grund des Judenthums? Das praktische Bedürfnis, der Eigennutz. Welches ist der weltliche Kultus der Juden? Der Schacher. Welches ist sein weltlicher Gott? Das Geld.“ Die Passagen von Marx über Juden lesen sich zuweilen wie Originaltexte von Nazis. Das Judentum sei „ein allgemeines gegenwärtiges antisociales Element“. In der jüdischen Religion liege „die Verachtung der Theorie, der Kunst, der Geschichte, des Menschen als Selbstzweck„. Selbst „das Weib wird verschachert„.

Eine historische Einordnung

Der Heilige Nikolaus von Myra war kein Türke

„Lernen Sie Geschichte!“ Ein Satz, der wie ein höflicher Vorschlag klingt, aber oft eher wie eine schallende Ohrfeige gemeint ist. Auch dann, wenn man die Diskussion um den Heiligen Nikolaus verfolgt, jenen berühmten Bischof aus Myra, der seit Jahrhunderten in der christlichen Tradition als mildtätiger, großherziger Schutzpatron der Kinder, Seefahrer und Händler verehrt wird. Doch in der Ära der postmodernen Wokeness scheint selbst der Heilige seiner Identität beraubt zu werden: „Nikolaus war ein Türke!“ wird uns plötzlich in den sozialen Medien und selbst in vermeintlich seriösen Diskursen entgegengeworfen – als wäre das eine historische Tatsache.

Nun, meine Damen und Herren, es wird Zeit für einen kleinen Ausflug in die Vergangenheit. Der Heilige Nikolaus von Myra war kein Türke. Und nein, er wurde auch nicht in der Türkei geboren. Die Türkei existierte im 3. und 4. Jahrhundert schlicht und ergreifend nicht. Genauso wenig wie die Turk Völker, die erst Jahrhunderte später von den zentralasiatischen Steppen in Richtung Anatolien zogen. Die Region, in der Myra (das heutige Demre) lag, gehörte damals zur römischen Provinz Lykien – einem stark hellenisierten, christlich geprägten Gebiet. Kurz gesagt: Die Turk-Völker hatten in der Gegend so viel verloren wie ein Veganer in einer Grillparty-Schlange.

Ein Bischof in ohne türkischen Reisepass

Nikolaus wurde etwa im Jahr 270 nach Christus geboren, vermutlich in der Stadt Patara, einer antiken Metropole in Lykien, das heute Teil der Türkei ist. Aber ein Mensch aus Lykien als „Türke“ zu bezeichnen, ist in etwa so akkurat wie die Behauptung, Julius Cäsar sei Italiener gewesen, weil Rom heute in Italien liegt. Das ist nicht nur historisch falsch, sondern auch intellektuell faul.

Die Welt, in der Nikolaus lebte, war Teil des römischen Imperiums. Griechen und Römer dominierten die Kultur, die Sprache und die Religion. Nikolaus selbst war ein Christ, und zwar in einer Zeit, in der das Christentum noch keine Staatsreligion war, sondern oft von römischen Kaisern verfolgt wurde. Man könnte also argumentieren, dass Nikolaus’ Leben selbst ein Zeugnis des Widerstands gegen die staatliche Unterdrückung war – lange bevor moderne Staaten oder Religionen wie der Islam in der Region Fuß fassten.

Die Idee, Nikolaus als „Türken“ zu deklarieren, basiert auf der simplen Tatsache, dass sein Geburts- und Wirkungsort in der heutigen Türkei liegt. Doch diese geografische Verortung sagt nichts über die Identität oder die Kultur des Heiligen aus. Es ist, als würde man behaupten, ein Wikinger, der einst in Schweden lebte, sei ein „EU-Bürger“, weil Schweden heute in Europa liegt.

Wokeness und die Neuverpackung der Geschichte

Die Behauptung, Nikolaus sei „türkisch“, ist daher mehr als nur eine historische Ungenauigkeit. Sie ist ein Paradebeispiel für die intellektuelle bequeme Unredlichkeit, die sich aus der Angst speist, kulturelle Unterschiede offen anzusprechen. In der Ära der Wokeness, in der alles relativiert und entmythologisiert werden soll, wird die Vergangenheit immer häufiger instrumentalisiert, um moderne politische Narrative zu stützen.

Warum wird also so viel Energie darauf verwendet, Nikolaus mit der Türkei zu assoziieren? Vielleicht, weil es einigen Ideologen ein warmes, wohliges Gefühl gibt, wenn sie zeigen können, wie „offen“ und „tolerant“ die Welt schon immer gewesen sei. Die Tatsache, dass diese Toleranz im Falle von Nikolaus eine historische Fantasie ist, scheint dabei keine Rolle zu spielen.

Es ist natürlich nichts gegen interkulturellen Dialog einzuwenden. Im Gegenteil: Der Austausch zwischen Kulturen hat die Menschheitsgeschichte immer bereichert. Aber der Versuch, Nikolaus’ Geschichte umzudeuten, ist kein Dialog. Es ist ein Übergriff auf die Wahrheit, eine Verfälschung, die darauf abzielt, Traditionen zu entkernen und kulturelle Identitäten zu nivellieren.

Der Islam und der Heilige Nikolaus

Ein besonders faszinierender Aspekt dieser Narrative ist der Versuch, eine Verbindung zwischen Nikolaus und dem Islam herzustellen. Das Problem? Der Islam entstand erst mehrere Jahrhunderte nach Nikolaus’ Tod. Wie also hätte der Islam tolerant gegenüber einem christlichen Bischof sein können, der lebte, als die arabische Halbinsel noch von polytheistischen Stämmen geprägt war?

Hier wird nicht nur Geschichte verbogen, sondern geradezu ins Lächerliche gezogen. Es ist, als würde man behaupten, Newton habe seine Gravitationstheorie entwickelt, um der Raumfahrt der NASA den Weg zu ebnen. Oder dass Mozart seine Symphonien komponierte, um später TikTok-Remixes zu inspirieren.

Die Verteidigung der eigenen Kultur

Die eigentliche Tragik dieser Diskussion liegt jedoch nicht nur in der historischen Verfälschung, sondern in der dahinterliegenden Absicht. Der Versuch, Nikolaus als „türkisch“ zu vereinnahmen, ist Teil eines größeren Trends, der darauf abzielt, westliche Traditionen und kulturelle Identitäten zu relativieren.

Natürlich sollte man die Geschichte kritisch betrachten, auch die der eigenen Kultur. Aber es ist etwas völlig anderes, wenn man Traditionen ohne Rücksicht auf historische Fakten umdeutet, nur um einer modernen Ideologie zu dienen.

Nikolaus ist ein Symbol der christlichen Nächstenliebe, der Großzügigkeit und des Glaubens. Seine Geschichte gehört zur europäischen Kulturgeschichte, genauso wie seine Verehrung als Schutzpatron . Die Relativierung dieser Traditionen – ob aus politischer Korrektheit oder ideologischem Eifer – ist nicht nur respektlos gegenüber der Geschichte, sondern auch gegenüber den Menschen, die diese Werte bis heute leben.

Lernen Sie Geschichte

Der Heilige Nikolaus von Myra war kein Türke, genauso wenig wie er ein Produkt der Wokeness ist. Er war ein Bischof der christlichen Kirche, der in einer hellenistischen, römischen Welt lebte, lange bevor die Türkei, der Islam oder die moderne politische Korrektheit existierten.

Geschichte ist kein Spielplatz für Ideologen. Sie ist eine Wissenschaft, die Fakten und Kontexte erfordert. Und wenn wir eines aus der Geschichte lernen sollten, dann dies: Respekt vor der Wahrheit ist der erste Schritt, um die Zukunft zu verstehen – und Traditionen zu bewahren.

Ein Triumph der Bürokratie im Gewand der Moderne

Man stelle sich vor: In den glitzernden Hallen des europäischen Molochs namens Brüssel, wo Teppiche dicker sind als die Logik so mancher Gesetzestexte und Kaffeemaschinen an strategisch sensiblen Punkten installiert werden, um den politischen Puls zu überwachen, haben sich zwei Titanen der Gesetzgebung – das EU-Parlament und der Rat – endlich auf einen Kompromiss geeinigt. Ein Wunder, könnte man denken, angesichts der zahllosen Stunden, in denen Politiker auf engsten Raum konferierten, gestikulierten und sich in rhetorischen Turnübungen maßen, als stünde die Rettung der Welt auf dem Spiel. Doch was der mühsam errungene Konsens nun verkündet, ist nichts anderes als die feinsinnige Anerkennung von Genom-Editierung auf Pflanzenbasis. Ein bisschen revolutionär, ein bisschen konventionell, und vor allem ein triumphaler Sieg der Bürokratie, die es versteht, wissenschaftliche Innovation in eine Formalität zu verwandeln, die sich so anfühlt, als hätte man den Mars kolonisiert, während man nur die Tomatenbeete optimiert hat.

NGT1: Die neue Unschuld der Agrarwelt

NGT1, das neue Kürzel für „einfache genom-editierte Pflanzen“, klingt wie ein Passwort aus einem dystopischen Roman, könnte aber auch als Bezeichnung für ein futuristisches Getränk durchgehen. Doch nein, es handelt sich um Pflanzen, die Wissenschaftlern schon seit geraumer Zeit das Herz höher schlagen lassen – und Bauern ebenso. Denn das, was nun beschlossen wurde, ist nichts weniger als die weitgehende Gleichstellung mit herkömmlichen Pflanzen: keine Kennzeichnungspflicht, keine speziellen Anbauregeln, keine leidigen Kontrollmechanismen, die den Landwirt in endlose Formulare verstricken, während die EU-Aktenberge leise lachen. Man könnte fast glauben, man hätte einen geheiligten Vertrag zwischen Innovation und Bürokratie geschlossen – ein Pakt, in dem Wissenschaft und Gesetzgebung sich zähneknirschend die Hände reichen, während sie heimlich darüber witzeln, dass niemand wirklich versteht, was diese Pflanzen jetzt genau können oder dürfen.

Von der Etikettenschwindelei zur bürokratischen Selbstironie

Es ist schon bemerkenswert, wie sehr die EU darin brilliert, aus der Freiheit der Wahl eine akademische Herausforderung zu machen. Einst waren Kennzeichnungen eine heilige Pflicht, ein Bollwerk gegen den freien Willen des Verbrauchers, der nun vor lauter Informationen nicht mehr weiß, ob er Salat kauft oder ein biologisches Mini-Experiment. Heute, da NGT1 die Hallen der regulatorischen Gnade betreten, scheint alles einfacher. Fast schon zu einfach, als hätte man vergessen, die endlosen Tabellen auszufüllen, die sonst jede Innovation begleiten. Die Ironie liegt auf der Hand: Ausgerechnet eine Technologie, die potenziell alles verändert, wird in den Schoß der Normalität gelegt, während gleichzeitig das Bürokratietheater in allen anderen Bereichen in gewohnter Pracht weitergeht. Es ist, als ob man einen Feuerlöscher aus Gold goss, nur um ihn dann in einem staubigen Regal verschwinden zu lassen.

Die humoristische Tragik der europäischen Entscheidungsfindung

Natürlich wäre es zu einfach, diesen Triumph der administrativen Evolution nur als pragmatischen Schritt zu feiern. Vielmehr offenbart er die zutiefst humoristische Tragik der europäischen Entscheidungsfindung: Jahrzehnte der Debatten, der Studien, der endlosen Ausschüsse, die am Ende nur bestätigen, dass ein Stück Gemüse fast genauso sein darf wie das andere, solange es nicht zu rebellisch ist. Die Politik applaudiert sich selbst für das, was die Natur längst kannte, und der Bürger steht staunend vor den Regalen, als hätte er gerade Zeuge eines diplomatischen Kabaretts geworden. Es ist Satire, die sich selbst schreibt, ein Theaterstück ohne Vorhang, in dem jeder Akteur glaubt, er sei der Protagonist, während die eigentliche Handlung – die stille, unspektakuläre Gleichstellung der Pflanzen – unbeachtet zwischen den Aktendecks der EU-Gesetzgebung dahinschleicht.

Fazit: Bürokratie, die leise die Welt verändert

So stehen wir also da: Ein Kompromiss, der eher wie ein stilles Nicken zwischen zwei alten Rivalen wirkt, hat den Weg geebnet für eine kleine Revolution im Gemüsebeet. NGT1-Pflanzen dürfen nun wachsen, ohne dass sie die kostbaren Flure der Bürokratie unnötig strapazieren. Es ist ein triumphaler Moment des administrativen Humors, ein Wink mit dem Zaunpfahl an die Wissenschaft: Macht ruhig, was ihr könnt, wir schauen nur zu – und unterschreiben am Ende den Keks des Fortschritts, während wir heimlich noch die Protokolle zählen. Europa zeigt einmal mehr, dass es nicht nur Regeln schreiben, sondern auch Geschichten erzählen kann – Geschichten, die zynisch, augenzwinkernd und herrlich absurd zugleich sind.

Sepp und der Passierschein A38

Es war einmal ein Mann namens Sepp, der, wie viele andere brave Bürger in diesem Land, ein Ziel hatte: er wollte einfach nur etwas erledigen. Vielleicht war es der Erwerb eines kleinen, harmlosen Dokuments, vielleicht auch nur der behördliche Nachweis, dass er existierte – wer kann das schon so genau sagen? Wie auch immer, er stand nun vor der unüberwindbaren Festung aus Schaltern, Formularen und Formularnummern, die man landläufig als „Verwaltung“ bezeichnet. Und hier kommt der berühmt-berüchtigte Passierschein A38 ins Spiel, jenes mythische Artefakt, das in der kollektiven Erinnerung der Bürger etwa denselben Stellenwert innehat wie der Heilige Gral oder die verschwundene Socke im Wäschetrockner.

Sepp, ein Mann von mittlerer Intelligenz, aber erstaunlicher Ausdauer, erkannte bald die tiefe Logik dieses bürokratischen Labyrinths: Je mehr Stempel, je mehr Unterschriften und je mehr Formulare man aufeinanderhäufte, desto klarer offenbarte sich die Staatsraison in ihrer reinsten Form. Jede Abteilung, jeder Beamte, jeder misstrauisch blickende Sachbearbeiter war ein Wächter über die Ordnung, die das Land so dringend benötigte. Und dennoch, trotz der äußeren Härte und inneren Kälte dieses Systems, schimmerte ein kaum merklicher Humor durch die Ritzen der Verwaltungsmauern: Man konnte sich schon vorstellen, dass irgendwo, tief in einem Amtszimmer, ein Beamter saß, der über die zahllosen absurden Regeln kicherte, während er Sepp einen weiteren Aufkleber auf sein Dokument klebte.

Der Passierschein A38 war aber mehr als nur ein Stück Papier. Er war ein Prüfstein für die Geduld, ein Spiegel der Seele des Bürgers, ein soziales Experiment in Sachen stoischer Resilienz. Wer ihn erlangte, konnte sich für eine kurze, glänzende Stunde als Sieger fühlen, nur um im nächsten Moment festzustellen, dass der nächste Schritt der Bürokratie noch verschachtelter, noch absurder und noch kleinkarierter war. Sepp lernte, dass Geduld nicht nur eine Tugend, sondern ein staatlich zertifizierter Lebensstil war, der in stundenlangen Warteschlangen, in einer Aktenvernichtungsanlage von Papierbergen und in der subtilen Gewalt des „Bitte setzen Sie sich wieder“ gemessen wurde.

Die Schellhornsche Jahrhundert Verwaltungsreform

Doch die Geschichte endet nicht mit Sepps triumphalem Scheitern oder sporadischem Erfolg. Nein, das Universum der Verwaltung ist stets in Bewegung, immer auf der Suche nach neuen Möglichkeiten, Effizienz und Sinnlosigkeit zu vereinen. Hier tritt die Schellhornsche Jahrhundertreform auf die Bühne – ein Ereignis, das in seiner ambitionierten Arroganz und administrativen Selbstverliebtheit so unvergleichlich ist, dass man es nur noch mit historischer Ironie betrachten kann.

Schellhorn, ein Mann mit beeindruckender Fähigkeit, Komplexität zu schaffen, wo einfache Lösungen ausreichen würden, präsentierte ein Konzept, das sowohl visionär als auch bürokratisch tödlich war. Ziel war es, die Verwaltung „moderner, digitaler und bürgerfreundlicher“ zu gestalten. Das Resultat war eine Verschachtelung aus neuen Formularen, zusätzlichen Genehmigungsschritten und einer Software, die man nur noch mit streng geheimer Liturgie bedienen konnte. Es war eine Revolution der Papierberge, eine Renaissance der Schreibtischstapel, ein Triumph der Komplexität über den Menschen.

Ironischerweise versprach die Reform Transparenz, doch ihre Umsetzung erinnerte eher an das Lesen eines mittelalterlichen Manuskripts ohne jegliche Vokale: Man verstand nichts, fühlte sich aber erhaben über die intellektuelle Herausforderung. Die Bürger, Sepp inklusive, wurden in eine Art kafkaesken Theaterproduktion geworfen, in der jeder Akt mit einem Formular begann und mit einer Verzweiflungstat endete. Und doch – welch feiner, subtiler Humor – das Ganze war so absurd, dass man beinahe applaudieren musste.

Die Schellhornsche Reform zeigte eindrucksvoll, dass bürokratische Kunst nicht nur in Effizienz oder Ordnung liegt, sondern in der Fähigkeit, den Menschen in den Wahnsinn zu treiben, während man ihn gleichzeitig glauben lässt, alles sei zu seinem Besten. Man könnte sagen, dass sie das Äquivalent einer Oper war, komponiert in Paragraphen und Stempeln, aufgeführt auf der Bühne der öffentlichen Verwaltung. Sepp, unser Held und Antiheld zugleich, war sowohl Zuschauer als auch Opfer, und seine Geschichte ist ein Lehrstück in Sachen Geduld, Komik und resignativer Bewunderung für die abstrusen Schönheiten des bürokratischen Universums.

In diesem Sinne lebt Sepp weiter – zwischen Aktenbergen und Formularen, stets auf der Suche nach dem legendären Passierschein A38, der vielleicht nie existiert hat, aber für immer in den Herzen der Bürger als Sinnbild des absurden Triumphs staatlicher Ordnung weiterlebt. Und die Schellhornsche Reform? Sie bleibt ein Mahnmal, dass der Mensch zwar Herr der Verwaltung sein könnte, doch in Wahrheit oft nur ihr humorvoller Statist ist.

Singt nicht mit Juden

Es ist immer wieder erstaunlich, wie ein Festival von glitzernden Kostümen, falschen Pailletten und kunstvoll geschminkten Lippenstiftflächen plötzlich zu einem geopolitischen Zirkus werden kann. Der Eurovision Song Contest, dieses versponnene, alljährliche Spektakel, das eigentlich von quäkenden Popstimmen, unkoordinierten Tanzchoreografien und dem subtilen Schmerz eines Live-Publikums lebt, ist nun offiziell ein Ort, an dem Staatenpolitik lautstark und mit hoher Oktanzahl durch die Lautsprecherboxen brüllt. Israel darf also teilnehmen – und Österreich darf die Bühne stellen – während die Welt zusieht und einige Länder empört den Kopf schütteln, als hätte jemand im Pausenraum des Multikulturalismus aus Versehen das Licht des rationalen Denkens ausgeschaltet.

Was für ein glorreicher Augenblick, wenn Musik plötzlich nicht mehr nach Harmonien, Tonarten oder gar nach dem intimen Flattern eines Herzschlags beurteilt wird, sondern nach der Frage, ob die politische Landkarte gerade ein bisschen zu sehr nach Konflikt aussieht. Der irische Sender RTÉ findet die Teilnahme „unzumutbar“ – angesichts des „entsetzlichen Verlusts von Menschenleben“. Unzumutbar also. Nicht moralisch problematisch, nicht politisch heikel, nein, schlicht unzumutbar. Welch ein Ausdruck für die elegante Grazie moderner Sprache! Man fragt sich, ob RTÉ auch den morgendlichen Toast ablehnt, weil in der Welt Menschen hungrig sind, oder ob nur dann Unzumutbarkeit greift, wenn sie nach Fernsehquoten schmeckt.

Musik, die von Geopolitik singt

Spanien, so meldet es José Pablo López, Präsident von RTVE, besteht auf der Maxime: ESC ist kein reiner Musikwettbewerb, sondern ein „Festival, das von geopolitischen Interessen dominiert wird“. Welch scharfsinnige Beobachtung! Ein Wettbewerb, der seit 1956 dazu diente, ein wenig Europa zusammenzuschweißen, Musik zu feiern und vor allem die kindliche Freude am Verstimmen in Mikrofonen zu ermöglichen, wird nun auf einmal zum Schachbrett internationaler Diplomatie. Man könnte fast applaudieren, wäre da nicht die schale Ironie: Länder, die mit dem ESC jährlich Millionen in die Finanzierung stecken, treten nun auf moralische Barrikaden, während der ORF, offenbar der unerschütterliche Don Quijote der musikalischen Neutralität, die Bühne aufbaut, als sei sie ein Friedenspalast.

Dass Deutschland, Frankreich, Italien, Großbritannien und Spanien zu den Hauptgeldgebern zählen, verleiht dem Boykottgedanken einen geradezu kafkaesken Charme. Es ist, als würde man einen Bankier bitten, die Zinsen zu boykottieren, weil ihm die Farbe des Geldes nicht gefällt. Und dennoch: Niederlande, Slowenien und andere Länder erwägen den Rückzug, als hätten sie den unheilvollen Traum eines ESC ohne diplomatische Verwicklungen durchlitten und wären nun zu politisch korrekt, um weiterzusingen. Man hört die imaginären Dirigenten schon stöhnen: „Mehr Geopolitik im Takt, bitte!“

Glitzernde Heuchelei

Und so sitzt man nun da, zwischen dem Schimmer von Sequins und dem dunklen Schatten der Realität, und fragt sich: Wie viele Lieder können noch von Liebe, Frieden und Einhörnern singen, bevor die politische Landkarte jede Note vergiftet? Der Eurovision Song Contest – einst ein frivoles Stelldichein der europäischen Selbstüberhöhung, heute ein Spiegelkabinett der moralischen Ambivalenz. Die Zuschauer starren gebannt auf den Bildschirm, während Journalisten die emotionale Unverträglichkeit von „Singen mit Juden“ analysieren, als handele es sich um ein metaphysisches Problem, das nur durch strikte Nicht-Teilnahme gelöst werden kann.

Inmitten all dieser absurden Schattierungen des Ernstes bleibt eine Wahrheit: Musik kennt keine Grenzen. Sie schert sich nicht um Embargos, Boykotte oder moralische Gutachten von der Sorte, die sich in Vorstandsetagen und Medienhäusern heimlich über Tee und Kekse austauschen. Musik ist subversiv, anarchisch, gelegentlich unerträglich, und vor allem: unberechenbar. Genau darin liegt die Ironie. Während Nationen sich in glänzender, diplomatischer Heuchelei sonnen, läuft im Hintergrund ein schief gesungenes Duett, das alles übertönt. Das Publikum jubelt, weint oder lacht, und für einen kurzen Moment ist die Welt wieder genau so absurd wie sie sein sollte.

Man kann also nur eins raten: Singt. Singt laut. Singt schlecht. Singt mit oder ohne Zustimmung der geopolitischen Eliten. Denn am Ende ist es die Musik, die bleibt – glitzernd, schrill, widersprüchlich, und vor allem unbestechlich.