STASI 2.0

Die große deutsche Selbstverblendung

Es ist ein bemerkenswertes Schauspiel, beinahe schon ein ästhetisches Gesamtkunstwerk aus Verdrängung, Opportunismus und institutioneller Selbstüberschätzung, das sich in diesen Tagen vor unseren Augen entfaltet. Alice Weidel hat den Verfassungsschutz mit der Stasi verglichen – ein Vergleich, der in deutschen Debatten ungefähr jene Reizschwelle überschreitet, die man erreicht, wenn man im Reformhaus laut nach Glyphosat fragt. Aber statt sich mit der unbequemen Frage zu beschäftigen, warum Menschen überhaupt auf solche Vergleiche kommen, formiert sich die in betoniertes Selbstlob gegossene Staatsraison und erklärt unisono: „Unvergleichbar! Geschichtsvergessen! Blasphemie gegen das heilige Narrativ der immerwährenden makellosen Demokratie!“ Und wie immer, wenn etwas angeblich unvergleichbar ist, merken die Wächter des moralischen Diskurses nicht, dass sie es damit erst recht vergleichbar machen.

Denn natürlich gibt es einen Unterschied zwischen Stasi und Verfassungsschutz – einen gewaltigen sogar. Aber ausgerechnet dieser Unterschied ist der Teil, an dem sich niemand stoßen mag: Die Stasi wurde gegründet, um ein repressives System zu stützen, während der Verfassungsschutz in einem freiheitlichen System existiert und sich, von keiner Diktatur gezwungen, aus freien Stücken in eine Rolle begibt, die man sonst eher aus den düsteren Kapiteln der Staatsgeschichte kennt. Während die Stasi also funktionale Pflicht erfüllte, erfüllt der heutige Inlandsgeheimdienst eine Art politischer Freiwilligenarbeit an der Grenze zur Selbstermächtigung. Das ist nicht nur grotesk, das ist historisch gesehen fast schon poetisch: Repression aus Berufung statt aus Zwang.

Die Spitzel aus Berufung

Dass sich in den grauen Gebäuden der Dienste Heerscharen von Informanten tummeln, die mit der Hingabe wohlgenährter Gartenzwerge jede oppositionelle Regung katalogisieren, wäre an sich noch ein Kuriosum der politischen Folklore. Doch die Sache erhält ihren besonderen Reiz dadurch, dass diese Menschen – anders als ihre Vorgänger im sozialistischen Bruderland – keinerlei persönliche Nachteile zu befürchten hätten, wenn sie sich weigerten, bei politischer Überwachung mitzuspielen. Niemand schleift sie in den Keller, niemand droht ihnen mit beruflicher Vernichtung. Trotzdem arbeiten sie mit einer Mischung aus Pflichtstolz und Teilzeit-Missionseifer daran, missliebige Strömungen zu überwachen, zu katalogisieren, zu prüfen und – falls nötig – vom demokratischen Wettbewerb fernzuhalten. Nicht weil sie müssen, sondern weil sie es können.

TIP:  Lösch Dich

Und so entstehen in den Aktenbergen des Apparats Dossiers, die eher an literarische Versuche paranoider Bürokraten erinnern als an nüchterne Sicherheitsanalysen. Diese Papiere – so flüstert man sich zu – können darüber entscheiden, ob ein Kandidat überhaupt auf einem Wahlzettel erscheinen darf. Die Demokratie, das lernte man früher, lebt vom Wettbewerb. Heute lebt sie offenbar auch davon, wer den Wettbewerb betreuen darf. In dieser neuen Ordnung fungieren Geheimdienstler als Schiedsrichter einer politischen Liga, in der sie selbst bestimmen, wer überhaupt antreten darf. Ein faszinierendes Modell, das uns garantiert irgendwann jemand in Harvard klauen wird – als Fallstudie über den selbstbeschleunigten Übergang von Freiheit zu Fürsorgeautoritarismus.

Der Kampf gegen die falschen Gedanken

Die Krönung dieses neuen Staatsverständnisses liegt jedoch in der Entdeckung, dass nicht nur Menschen überwacht werden können, sondern auch Gedanken. Wer es wagt, das Krisenmanagement im Ahrtal zu kritisieren, läuft Gefahr, in den Gemüsegarten der „delegitimierenden Äußerungen“ zu fallen – ein Begriff, der klingt, als hätte ein besonders enthusiastischer Verwaltungsjurist ihn eines Nachts unter Einfluss von Leitungswasser und Paragrafenwahn geträumt.

Und so tauchen in den Katalogen der verbotenen Gedanken Meinungsäußerungen auf, die früher als völlig normale Kritik galten: Zweifel an der Klimapolitik. Kritik an Regierungsversagen. Vergleiche mit historischen Geheimdiensten. Alles, was die Mächtigen stört, alles, was die Behörde ins Schwitzen bringt, wird rhetorisch in die Nähe moralischer Staatskriminalität gerückt. Die DDR hätte für solche sprachpolitischen Kunstgriffe vermutlich Preise verliehen. Wir hingegen verleihen Fördermittel und einen Sonntagskommentar im öffentlich-rechtlichen Rundfunk.

Es wirkt fast, als hätte der Verfassungsschutz entdeckt, dass die Verfassung viel leichter zu schützen ist, wenn man die Bürger davon abhält, sich auf sie zu berufen.

Von der Unfähigkeit zur Allzuständigkeit

Natürlich darf in diesem tragikomischen Theater nicht unerwähnt bleiben, dass derselbe Geheimdienst, der mit bemerkenswerter Akribie jeden kritischen Tweet katalogisiert, es in vielen Fällen nicht schafft, echte Extremisten, Terrorbedrohungen oder radikale Netzwerke konsequent zu durchdringen. Die Effizienz der Dienste scheint umgekehrt proportional zur politischen Opportunität ihrer Aufgaben. Während sie bei tatsächlichen Gefahren gelegentlich die Anmut torkelnder Statisten zeigen, agieren sie gegenüber unliebsamen Bürgern mit der Energie von Fitness-Influencern auf Pre-Workout-Booster.

TIP:  Die unsichtbaren Fäden der Macht

Das Ergebnis ist eine Behörde, die weniger Sicherheit produziert als vielmehr Narrative – Narrative über Gefahren, Narrative über abweichende Meinungen, Narrative über Demokratiefeinde, die meist da sitzen, wo das Wahlergebnis den Mächtigen weniger gut gefällt. Irgendwann wird ein kluger Historiker das aufarbeiten und feststellen, dass der Verfassungsschutz nicht Opfer der Umstände war, sondern deren enthusiastischer Gestalter. Ein Paradebeispiel für institutionelles Mitläufertum, das sich nicht als Pflicht, sondern als moralische Tat verkauft.

Das neue Bündnis der Blindheit

Doch besonders bitter – und darum besonders satirisch verwertbar – ist die Rolle der (noch) freien Medien. Diese hätten einst als vierte Gewalt die Aufgabe gehabt, die anderen drei Gewalten daran zu erinnern, dass Macht zu Missbrauch neigt. Heute jedoch belehrt uns etwa die BILD darüber, dass jeder Vergleich zwischen Stasi und Verfassungsschutz „geschichtsvergessen“ sei und dass letzterer schließlich vom Parlament kontrolliert werde. Ein Argument, das man auch als freundliche Einladung verstehen könnte, die Realität zu ignorieren.

Denn selbstverständlich kontrolliert das Parlament die Dienste. So wie Eltern die Pubertät kontrollieren. Oder der Verkehrsminister die Bahn. Die Kontrolle findet vor allem auf dem Papier statt und besteht häufig aus ritualisiertem Abnicken, flankiert von moralisch aufgeladenen Pressemitteilungen. Wenn Medien diese Legende bereitwillig verbreiten, ohne auch nur den Versuch einer kritischen Reflexion, wird aus Journalismus die gehobene Form staatstragenden Marketings. Und das ist nicht nur eine verpasste Chance, sondern eine Selbstverzwergung der Öffentlichkeit.

Wenn Regierung, Behörden und große Medienhäuser im Gleichschritt gegen politische Opposition marschieren, dann ist das nicht der Untergang der Demokratie. Aber es ist ihr Verblassen. Ein langsames, gemütliches, geradezu typisch deutsches Verblassen, begleitet von demonstrativer Selbstgerechtigkeit.

Der marschierende Konsens

Das Ergebnis ist eine Atmosphäre, in der jeder, der die Macht kritisiert, nicht etwa als demokratischer Widerspruch erscheint, sondern als potenzieller Gefährder des Staatsfriedens. Opposition wird von einer Notwendigkeit der Freiheit zu einer Unannehmlichkeit politischer Hygiene umdefiniert. Das Konzept des „falschen Verdachts“ verwandelt sich in die Praxis „richtiger Verdächtigungen“, solange sie den richtigen Leuten gelten.

TIP:  Prolog der Abscheu

Und so bahnen wir uns, ganz ohne Putsch, ganz ohne Diktator, ganz ohne dramatische Fernsehansprache, den Weg in ein Zeitalter der sanften Repression: kontrollierte Sprache, überwachte Dissidenz, mediale Verklärung des Apparats. Alles streng demokratisch legitimiert, versteht sich. Die Deutschen schaffen es eben immer wieder, historischen Unfug mit der bürokratischen Präzision eines Feinmechanikers zu produzieren. Wenn schon Irrsinn, dann bitte mit Aktenmappe.

Und während der Verfassungsschutz mit der Begeisterung eines Amateurarchäologen nach verbotenen Meinungen gräbt, während Medien die Regierung loben, weil sie kritisiert wird, und während Opposition zu einer Verwaltungsstörung herabgestuft wird, marschiert das Land Schritt für Schritt in jene Richtung, die es angeblich so entschlossen verhindern will: den autoritären Staat – einen, der sich nicht aufdrängt, sondern höflich anklingelt und fragt, ob er kurz reinkommen darf.

Die Antwort ist meist: „Aber gern doch.“

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