
Die Transformation einer deutschen Spezialität
Es beginnt wie alle großen Tragikomödien: mit den besten Absichten. Einst waren es moralische Fanatiker in autoritären Regimen, die Denunziation als edles Mittel der sozialen Hygiene feierten. In der DDR hieß es „Wachsamkeit“ – ein Euphemismus, der ein System der totalen Überwachung bemäntelte, in dem Nachbarn zu Spitzeln, Freunde zu Verrätern und Familien zu Minenfeldern wurden. Erich Mielke, jener notorisch paranoide Chef der Staatssicherheit, hätte sich damals wohl kaum träumen lassen, dass seine Idee einer durchideologisierten Überwachungskultur eines Tages ein Comeback feiern würde – dieses Mal nicht unter den Fittichen des Staates, sondern jener „Zivilgesellschaft“, die stets vorgibt, den Autoritarismus zu bekämpfen.
Heute, im Zeitalter der Empörungskultur und digitaler Prangermechanismen, erlebt die alte DDR-Tugend des Anschwärzens eine regelrechte Renaissance. Sie ist nur bunter, gendergerechter und scheinbar moralisch höherwertig. Doch unter der bunten Fassade des progressiven Engagements schlummert dieselbe alte Gier nach Kontrolle, dieselbe Lust an der Erniedrigung des Gegners, dasselbe Vergnügen am Strafritual des öffentlichen Bekenntnisses. Willkommen bei STASI 2.0.
Wenn jeder zum kleinen Inquisitor wird
Haben Sie schon einmal etwas Unwokes gesagt? Vielleicht einen unpassenden Witz gemacht, der keine Gendersternchen enthielt? Haben Sie gar die Dreistigkeit besessen, an einem Grillabend zuzugeben, dass Sie nicht genau wissen, wie viele Geschlechter es aktuell gibt? Keine Sorge – wenn Sie es noch nicht selbst bereut haben, wird sich jemand finden, der es für Sie erledigt. Willkommen in der Welt der zivilgesellschaftlichen Meldestellen, jener digitalisierten Kummerkästen, die sich rühmen, das Internet (und zunehmend auch das reale Leben) von „Hassrede“ und „Mikroaggressionen“ zu befreien.
Das Prinzip ist so genial wie perfide: Eine Mischung aus Big Brother und Nachbarschaftswache, kombiniert mit der moralischen Hybris eines spätkapitalistischen Hyperindividualismus. Was früher die Polizeistation war, ist heute eine E-Mail-Adresse: melde@aktivgegenhass.de. Hier wird gesammelt, kategorisiert und sanktioniert. Ohne Rechtsstaat, ohne Verfahren – dafür mit einem gut geölten Netzwerk aus NGOs, Aktivisten und Social-Media-Tribunalen.
Die Grenzlinie zwischen berechtigter Kritik an Volksverhetzung und hysterischem Überwachungswahn verschwimmt dabei in einem Nebel aus subjektiven Befindlichkeiten. Der Witz, der Ihnen gestern noch ein Lächeln entlockte, könnte morgen als „toxisch“ oder „ableistisch“ deklariert werden. Es ist die Ära der totalen Unsicherheit: Der Denunziant ist nicht länger der Böse, sondern der selbsternannte Held im Kampf gegen das Böse.
Die neue Moral
Der historische Blick auf Systeme wie die Stasi offenbart ihre grundsätzliche Widersprüchlichkeit: Sie predigten Solidarität, spalteten aber die Gesellschaft. Ähnliches geschieht heute unter dem Banner von Diversity und Inklusion. Die „Meldestellen gegen Hass“ (oder jede andere unliebsame Meinung) sind der ironische Höhepunkt einer neuen sozialen Moral, die nicht mehr auf universellen Werten basiert, sondern auf partikularen Identitäten.
Das Problem: Identitätspolitik basiert per Definition auf Ausschluss. Der Kampf gegen Diskriminierung wird zum Kampf um Deutungshoheit, und der moralische Diskurs wird zu einem Nullsummenspiel. Wer nicht woke genug ist, wird zum Gegner – oder schlimmer noch: zum Täter. Die Kategorien sind flexibel, die Kriterien elastisch. Es ist ein System, in dem niemand sicher ist, außer dem Denunzianten selbst.
Der digitale Pranger
Während die Stasi noch auf verschlossene Aktenschränke und heimlich beschlagnahmte Briefe angewiesen war, hat STASI 2.0 ein viel effizienteres Instrumentarium zur Verfügung: die sozialen Medien. Die digitale Revolution hat aus jedem Smartphone einen Pranger gemacht, aus jeder Timeline ein Tribunal. Die Strafen sind nicht mehr Gefängnis oder Berufsverbot, sondern das, was der Soziologe Pierre Bourdieu als „symbolische Gewalt“ bezeichnete: Verlust des Ansehens, des Netzwerks, des Jobs – kurzum: der Existenz.
Was dabei besonders pikant ist: Anders als die Stasi operieren die modernen Denunzianten nicht im Dunkeln. Sie sind stolz auf ihre Arbeit und präsentieren ihre „Erfolge“ in Likes, Shares und Kommentaren. Der Mob ist der Richter, die Algorithmus-Logik die Guillotine. Und am Ende triumphiert die moralische Siegerpose über jedes rationale Argument.
Erich Mielkes feuchte Träume
Erich Mielke, der Mann, der „alle Menschen liebte“, wäre angesichts dieser Entwicklungen sicherlich stolz. Die Denunziation ist demokratisiert, die Überwachung privatisiert, und die Kontrollmechanismen haben sich von der staatlichen Bürokratie auf die Plattform-Ökonomie verlagert. Es ist eine Welt, in der sich alte Überwachungsstrukturen und neue Technologien auf bizarre Weise zu einem moralischen Überwachungsstaat verschmelzen.
Doch wie endet diese Geschichte? Vielleicht mit einem kollektiven Augenöffnen, einer Rückbesinnung auf Werte wie Meinungsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit. Oder mit einer düsteren Pointe, in der die einstigen Denunzianten irgendwann selbst den Empörungskanon zu spüren bekommen, den sie entfesselt haben. Denn eines lehrt uns die Geschichte: Jede Guillotine fordert irgendwann auch die Köpfe ihrer Schöpfer.