
Alle diese Untersuchungen“, sagte Bärbel Bohley1 1991, „die gründliche Erforschung der Stasi-Strukturen, der Methoden, mit denen sie gearbeitet haben und immer noch arbeiten, all das wird in die falschen Hände geraten. Man wird diese Strukturen genauestens untersuchen – um sie dann zu übernehmen. Man wird sie ein wenig adaptieren, damit sie zu einer freien westlichen Gesellschaft passen. Man wird die Störer auch nicht unbedingt verhaften. Es gibt feinere Möglichkeiten, jemanden unschädlich zu machen. Aber die geheimen Verbote, das Beobachten, der Argwohn, die Angst, das Isolieren und Ausgrenzen, das Brandmarken und Mundtotmachen derer, die sich nicht anpassen – das wird wiederkommen, glaubt mir. Man wird Einrichtungen schaffen, die viel effektiver arbeiten, viel feiner als die Stasi. Auch das ständige Lügen wird wiederkommen, die Desinformation, der Nebel, in dem alles seine Kontur verliert.“
Man könnte meinen, die Freiheit hätte gesiegt, die Methoden der Unterdrückung wären mit dem Ende der DDR in den Orkus der Geschichte gekippt worden. Man könnte es meinen. Man könnte auch meinen, dass der moderne Mensch mit seinen individualistischen Idealen, seinem libertären Drang nach Selbstverwirklichung, seinen fähigen Händen an Smartphone und Tastatur heute freier wäre als je zuvor. Und dennoch – schleicht nicht der feine Nebel der Konformität wieder durch die Gassen, dezent duftend nach Fortschritt und Wohlanständigkeit? Es geht ja nicht mehr um grobschächtige Repression, um Folterkeller und schreiende Parteifunktionäre. Nein, es geht um subtilere Werkzeuge, feinjustierte Instrumente der Normierung.
Wie Anpassung zur Tugend wird
Wer braucht noch Gefängnisse, wenn sich die Menschen bereitwillig in den Zellen des digitalen Panoptikums einrichten? Warum direkte Zensur, wenn sich das gemeine Volk freudig selbst reguliert, mit moralisch überhöhter Strebsamkeit nach der einzig erlaubten Meinung? Die moderne Form der Disziplinierung ist nicht weniger effektiv als ihre groben Vorgänger – sie ist nur eleganter, feiner, durchtränkter von einem Gefühl moralischer Überlegenheit.
Das Geheimnis? Man nennt es heute nicht mehr „Unterdrückung“ – man nennt es „soziale Verantwortung“. Man nennt es „Haltung zeigen“. Wer anderer Meinung ist, ist nicht etwa „kritisch“, sondern „problematisch“. Man sperrt ihn nicht ein, aber man sperrt ihn aus.
Die neuen Tugendwächter
Wenn es doch nur die Bösen wären, die uns unterdrücken! Wenn es doch nur eine finstere Elite mit diabolischem Plan gäbe! Aber nein, es sind wir selbst, die sich gegenseitig in Schach halten. Wer früher für den falschen Witz beim „Genossen Abschnittsbevollmächtigten“ gemeldet wurde, kann heute mit einer Horde digitaler Sittenwächter rechnen. Sie kommen nicht mit klobigen Diktiergeräten, sondern mit Screenshots. Sie legen keine Akten an, sondern trendende Hashtags. Wer abweicht, wird nicht zum Umerziehungskurs geschickt – er verliert seinen Job, sein Netzwerk, seine Reputation.
Aber sei beruhigt: Es geschieht nicht aus Bosheit! Es geschieht im Namen des Guten, des Richtigen, des Wahren. Wer sich überwacht fühlt, hat eben ein schlechtes Gewissen. Und wer schweigt, gibt stillschweigend zu, auf der falschen Seite der Geschichte zu stehen.
Fortschritt mit unsichtbaren Ketten
Wie entkommt man dieser neuen Weltordnung der stillen Disziplinierung? Es gäbe Möglichkeiten: Radikaler Nonkonformismus, offene Rebellion, intellektuelle Redlichkeit. Doch das Problem ist: Der Druck, sich anzupassen, ist zu stark. Der Preis für Widerstand zu hoch. Es ist einfacher, sich der vorgegebenen Moral zu beugen, brav zu nicken, mit der Masse zu gehen – und insgeheim zu hoffen, dass man nie selbst in den Fokus dieser neuen Kontrollgesellschaft gerät.
Bärbel Bohley warnte 1991 vor genau diesem Szenario. Und doch haben wir nicht auf sie gehört. Warum auch? Es ist viel angenehmer, sich freiwillig zu fügen, als unter Zwang.
Schöne neue Welt. Oder war das jetzt auch schon wieder problematisch?
1 Bärbel Bohley (1945–2010) war eine deutsche Bürgerrechtlerin, Künstlerin und Mitbegründerin des Neuen Forums, einer bedeutenden oppositionellen Bewegung in der DDR. Sie setzte sich aktiv für Demokratie, Meinungsfreiheit und Bürgerrechte ein und wurde aufgrund ihres Engagements mehrfach von der Stasi überwacht und inhaftiert. Nach der Friedlichen Revolution 1989 spielte sie eine zentrale Rolle bei der politischen Umgestaltung der DDR und engagierte sich später für Transparenz bei der Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit. Trotz ihrer Verdienste um die deutsche Wiedervereinigung blieb sie eine kritische Stimme gegenüber politischen Entwicklungen in Deutschland.