Wie Frankreichs alte Linke sich in eine neue Sackgasse manövriert
Man sagt ja gern, die Geschichte wiederhole sich – mal als Tragödie, mal als Farce, gelegentlich auch als kafkaesker Verwaltungsvorgang mit dreifacher Durchschrift und Stempel «Dringend». Frankreich, dieses Land, das seit gut 250 Jahren an der Idee feilt, man könne Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit unter einen Hut bringen, erlebt eine neue Variation dieses uralten Refrains. Und diesmal, so scheint es, ist es eine tragikomische Operette, in der die Sänger die falsche Partitur studiert haben und das Orchester trotzig beschliesst, gleichzeitig Wagner, Debussy und die Titelmelodie von Mission Impossible zu spielen.
Denn plötzlich, inmitten des Rauschens der grossen politischen Selbstversicherungen, ist da dieser hässliche, alte Bekannte, der sich in französische Debatten zurückschleicht wie ein ungebetener Gast mit schlechtem Atem: der Antisemitismus. Und zwar nicht die blasse, konspirativ flackernde Version der Kellerphilosophen, sondern die breite, selbstbewusste, lautstark marschierende Form, die in Frankreichs Strassen wieder erschreckend salonfähig wird.
Während viele entsetzt die Hände ringen, zeigen zwei prominente Autoren – der frühere Charlie Hebdo-Chefredaktor Philippe Val und der Philosoph Michel Onfray – auf ein politisches Lager, das sich traditionell als moralischer Hochsitz verstand: die Linke, genauer gesagt der Teil, der heute unter dem Etikett «islamo-gauchisme» firmiert und unter der Fuchtel von Jean-Luc Mélenchon stolz behauptet, er sei die letzte Bastion der Unterdrückten.
Die neue Linke, die alte Blindheit
Man muss Mélenchon eines lassen: Er hat eine bemerkenswerte Begabung, sich stets in Richtung des lautesten Applauses zu drehen – solange der Applaus nicht aus bürgerlicher Mitte, jüdischen Gemeinden oder sozialdemokratischen Reihen kommt. Seine Partei La France insoumise präsentiert sich gern als rebellische Samaritertruppe, die gegen Imperien, Kapital, Patriarchat und alles kämpft, was unmodern, ungerecht oder unpraktisch erklärt werden kann.
Doch sobald es um Antisemitismus geht, erhebt sich in diesem Lager jene alte, unkaputtbare Verwechslung: die Idee, dass jede Gruppe, die sich als Opfer präsentiert, automatisch moralisch unfehlbar sei. Diese gedankenlose Hierarchie des Leidens – nach dem Motto: Wer als Unterdrückter gilt, darf jede Abscheulichkeit sagen, ohne dass man ihm deswegen die Schärpe der progressiven Unschuld abnimmt – ist der psychologische Kern ihres Problems.
Es ist ein wenig, als würde man einem Vegetarier zugestehen, dass er zwar keine Tiere isst, aber gern Katzen anzündet – weil er ja «eigentlich» zu den Guten gehört. Und so landet die extreme Linke in der grotesken Situation, mit islamistischen Hardlinern und Antisemiten zu kollaborieren, solange diese sich mit genügend dramatischer Stimme als Opfer westlicher Strukturen inszenieren.
Islamogauchismus – das Kind, das niemand erziehen wollte
Val und Onfray sind alles andere als höfliche Chirurgen. Sie operieren nicht mit feinen Instrumenten, sondern mit dem rhetorischen Flammenwerfer. Doch ihr Argument ist so unangenehm wie schwer zu widerlegen:
Der zeitgenössische französische Antisemitismus kommt nicht nur – und nicht einmal hauptsächlich – aus den bekannten rechtsextremen Abgründen, sondern aus der Fusion von radikalem Islamismus und postkolonial aufgeladenem Linksdiskurs.
Onfray beschreibt das Phänomen als eine Art moralische Verfahrensverirrung, bei der progressive Intellektuelle mit verzücktem Idealismus gegen alles Westliche wettern – und dabei blind werden für die autoritären, frauenfeindlichen, homophoben und nun einmal antisemitischen Ideologien, die sie in Schutz nehmen.
Val wiederum, selbst gezeichnet von dem, was der islamistische Terror seinen Kollegen bei Charlie Hebdo angetan hat, verweist darauf, wie grotesk die Linke sich selbst verrät: ausgerechnet jene politische Tradition, die einst gegen religiösen Fanatismus kämpfte, klatscht heute jenen Beifall, die im Namen einer vermeintlich antirassistischen Moral den Judenhass wieder salonfähig machen.
Das Pariser Theater des Absurden
Wer die französische Linke verstehen will, muss begreifen, dass sie Empörung für eine heilige Disziplin hält. Empörung ist ihre tägliche Gymnastik, ihr ideologisches Stretching, ihr Sonntagsspaziergang. Doch diese Empörung ist selektiv – wie ein Raucher, der sich über Autoabgase beschwert.
Wenn ein jüdisches Schulkind in einem Vorort bedroht wird – Stille.
Wenn Judenfeindlichkeit aus dem islamistischen Milieu kommt – Abwiegeln.
Wenn hingegen eine israelische Regierung etwas tut, das man kritisieren kann – und man kann eine Menge kritisieren –, dann rollt sofort der ganze moralische Tross heran, mit Fanfaren, Transparenten und vielen wohlfeilen Parolen.
Der Antisemitismus wird dabei selten als solcher benannt. Stattdessen wird er camoufliert, wie ein schlecht überspieltes Schmuggelpaket, versehen mit Etiketten wie «Systemkritik», «Anti-Imperialismus» oder «Solidarität mit den Unterdrückten». Es ist jene semantische Nebelmaschine, die Val und Onfray so vehement attackieren: die intellektuelle Feigheit, die sich hinter Betroffenheitslyrik versteckt.
Ein Land am Rand einer moralischen Nebelwand
Frankreich ist müde geworden, sagen viele. Müde der ewigen Debatten, müde der ständigen Krisen, müde jener moralischen Verrenkungen, die nötig sind, um gleichzeitig universalistisch und partikularistisch sein zu wollen. Und doch, so zynisch das klingt: Frankreich ist nie müder, als wenn es gerade besonders wach sein müsste.
Heute müsste es hinschauen:
auf die Explosion antisemitischer Übergriffe,
auf die schwindende Sicherheit jüdischer Gemeinden,
auf die groteske Verzahnung zwischen progressiven Wortführern und fundamentalistischen Milieus.
Doch stattdessen diskutiert man darüber, ob der Begriff Islamogauchisme vielleicht beleidigend sei für die sensiblen Seelen der politischen Avantgarde. Man führt ein akademisches Minenfeld über Gender, Klassenkampf und Identitätspolitik, während im Hintergrund Menschen davonlaufen, weil ihr Nachbar sie plötzlich für einen kolonialistischen Agenten des Weltzionismus hält.
Schluss: Die Mistkerle sind nicht unsichtbar – man will nur nicht genau hinsehen
Und wer zu lange wegschaut, wird irgendwann Teil des Problems
Die Wahrheit ist bitter wie ein schlecht gezapfter Pastis: Der Antisemitismus in Frankreich steigt dramatisch – und zwar genau dort, wo man ihn am wenigsten zugeben will.
Val und Onfray provozieren, überzeichnen, polemisieren – gewiss. Aber sie tun es aus einer intellektuellen Verantwortung heraus, die der heutigen Linken zu entgleiten droht. Nicht weil sie konservativ wären, nicht weil sie reaktionär geworden wären, sondern weil sie einsehen: Wer im Namen des Guten das Böse ignoriert, ist nicht progressiv, sondern verantwortungslos.
Und vielleicht liegt darin die letzte Pointe dieses tragikomischen Dramas:
Die Linke wollte immer die Welt verändern.
Heute schafft sie es nur noch, sich selbst zu karikieren.
Wer jedoch Mistkerle nicht Mistkerle nennt, darf sich nicht wundern, wenn plötzlich so viele davon herumlaufen.