SIE SCHEISSSEN AUF UNS

Vorbemerkung eines müden Beobachters

Es beginnt selten mit einem Knall, sondern fast immer mit einem Gähnen. Mit diesem speziellen, leicht schmerzhaften Gähnen, das sich einstellt, wenn man zum hundertsten Mal dieselben Phrasen hört, vorgetragen mit der Gravitas frisch polierter Marmorstatuen, deren größte Leistung darin besteht, unbeweglich zu bleiben und dabei den Eindruck tiefer Bedeutung zu simulieren. Politik, dieses angeblich lebendige Gespräch zwischen Regierenden und Regierten, ist so zu einer Art einseitigem Hörspiel verkommen: gut ausgeleuchtet, professionell eingesprochen, aber ohne Rückkanal. Das Publikum zahlt brav Eintritt, klatscht auf Kommando, darf aber weder den Saal verlassen noch Zwischenrufe wagen. Und während auf der Bühne von Werten, Verantwortung und Zukunft gesprochen wird, während mit ernster Miene Begriffe wie Solidarität, Sicherheit und Zusammenhalt dekliniert werden, sitzt man unten im Parkett und spürt dieses leise, aber hartnäckige Gefühl, dass die Eliten ganz einfach auf uns scheißen – nicht aus Bosheit, sondern aus jener routinierten Gleichgültigkeit, die entsteht, wenn man zu lange auf rotem Teppich unterwegs ist und vergessen hat, wie sich normaler Boden anfühlt.

Unsere Demokratie – ihr Besitzanspruch

„Unsere Demokratie“ – das klingt wie eine warme Decke an einem kalten Abend, wie etwas, das schützt und einschließt. Tatsächlich erinnert es eher an einen komplizierten Mietvertrag, bei dem man zwar regelmäßig zahlt, aber die Fußnoten nie zu Gesicht bekommt. Dieses „Unsere“ ist kein inklusives Pronomen, sondern ein Besitzanzeiger. Es markiert ein Revier. Demokratie wird zur Marke, zur Corporate Identity eines politischen Betriebs, der Macht nicht mehr als Leihgabe auf Zeit begreift, sondern als Erbmasse, verwaltet von einem immer gleichen Personal, das sich gegenseitig bestätigt, beruft und entschuldigt. Wer widerspricht, stört nicht etwa eine Debatte, sondern einen Prozess. Kritik gilt nicht als notwendiger Sauerstoff, sondern als Sand im Getriebe. Zweifel werden pathologisiert, Skepsis moralisch abgewertet, und plötzlich steht nicht mehr die Frage im Raum, ob eine Entscheidung gut oder schlecht ist, sondern ob sie „dem System schadet“. Augenzwinkernd – und doch bitterernst – ließe sich sagen: Es ist eine Demokratie, die so sehr geliebt wird, dass man sie vor den Demokraten schützen muss.

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Repräsentation ohne Repräsentierte

Hinzu kommt ein strukturelles Missverständnis, das längst zur stillschweigenden Doktrin geworden ist: Repräsentation wird mit Ersetzung verwechselt. Wer gewählt wurde, glaubt nicht selten, die Gewählten seien fortan entbehrlich. Das Volk mutiert zur Kulisse, zur statistischen Größe, zum gelegentlich zu befragenden Stimmungsbarometer, dessen Ausschläge man zwar registriert, aber nicht ernst nimmt. Beteiligung reduziert sich auf ritualisierte Akte, Mitsprache auf sorgfältig moderierte Formate, deren Ergebnisse folgenlos bleiben. So entsteht eine Politik, die formal legitimiert ist, sich aber inhaltlich entkoppelt hat – eine Herrschaft der Verfahren über die Anliegen, der Prozesse über die Lebensrealitäten.

Schutz vor Hass und Hetze oder die Liebe zur Leine

Kaum ein Begriff ist derzeit so nützlich wie jener von „Hass und Hetze“. Er ist moralisch unangreifbar, emotional hoch aufgeladen und von einer Dehnbarkeit, um die ihn jeder Gummiproduzent beneiden würde. Wer wollte schon für Hetze sein? Also nickt man zustimmend, während hinter dem Vorhang neue Filter, neue Überwachungsinstrumente und neue Sprachregelungen installiert werden. Natürlich alles nur zum Schutz. Schutz wovor? Vor verletzenden Worten heißt es. Vor Radikalisierung. Vor Desinformation. Gemeint ist oft etwas anderes: Schutz vor Kontrollverlust, vor unberechenbaren Meinungen, vor der anarchischen Zumutung freier Rede. Der Zyniker könnte sagen: Man liebt den Bürger so sehr, dass man ihm vorsorglich den Maulkorb anlegt – aus Fürsorge, versteht sich. Und der eigentliche Witz liegt darin, dass man uns dabei ernsthaft versichert, diese Leine sei in Wahrheit ein Sicherheitsgurt, angelegt zu unserem eigenen Besten.

Wir haben doch eh‘ die Wahl – Essen oder Heizen

Wie großzügig diese neue Form der Freiheit doch ist: Man überlässt uns die Wahl zwischen Kalorien und Kilowattstunden, zwischen leerem Magen und kalten Fingern, und verkauft das als Ausdruck erwachsener Selbstverantwortung. Endlich dürfen wir mitentscheiden – nicht über politische Weichenstellungen, nicht über Prioritäten der Macht, sondern darüber, welches Grundbedürfnis wir diesen Monat opfern möchten. Essen oder heizen, fragt man uns mit dem Tonfall eines wohlmeinenden Pädagogen, der weiß, dass echte Reife sich im Verzicht zeigt. Wer friert, hat eben zu viel gegessen, wer hungert, zu viel geheizt. Dass beides früher einmal als zivilisatorischer Mindeststandard galt, wird als nostalgische Marotte abgetan. Mangel heißt jetzt Resilienz, Armut heißt Anpassungsfähigkeit, und Verzicht wird zur moralischen Auszeichnung für jene, die sich alles andere ohnehin nicht mehr leisten können. Es ist die perverse Eleganz eines Systems, das seine eigenen Zumutungen naturalisiert und den Betroffenen dafür auch noch Dankbarkeit abverlangt. Essen oder heizen – das ist keine Krise, das ist ein Konzept. Und während man uns einredet, dies sei der Preis für eine bessere Zukunft, wird im Warmen entschieden, dass wir ihn gefälligst zu zahlen haben.

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Moral als Verwaltungsinstrument

Moral ist dabei weniger Kompass als Werkzeug. Sie dient nicht mehr primär der Orientierung, sondern der Disziplinierung. Wer auf der richtigen Seite steht, darf sprechen, wer Fragen stellt, steht schnell im Verdacht, auf der falschen zu stehen. Die Grenze zwischen Argument und Gesinnungsprüfung verschwimmt. So entsteht ein Klima, in dem nicht mehr zählt, was gesagt wird, sondern wer es sagt – und mit welcher Haltung. Moralische Empörung ersetzt Analyse, Etikettierung ersetzt Diskussion. Das Ergebnis ist eine öffentliche Debatte, die zwar laut ist, aber hohl klingt, weil sie sich ständig im Kreis der immergleichen Selbstbestätigungen dreht.

Alternativlos oder die Kunst des Schicksals

„Alternativlos“ ist kein Argument, sondern ein Zauberspruch. Er verwandelt politische Entscheidungen in Naturereignisse, vergleichbar mit Erdbeben oder Ebbe und Flut. Wer Alternativen fordert, gilt nicht als demokratischer Diskutant, sondern als Realitätsverweigerer, als jemand, der den Ernst der Lage nicht begriffen hat. Der Zug fährt bereits, heißt es, und wer noch fragt, wohin, wird mitleidig belächelt. Unabwendbarkeit wird zum neuen Normal, Verantwortung löst sich auf wie Zucker im heißen Tee: Niemand wollte es so, aber alle mussten es tun. Die Ironie dabei ist von jener bitteren Sorte, die im Hals kratzt: Je weniger Alternativen man zulässt, desto lauter beschwört man die Freiheit. Es ist die Freiheit, genau das zu wollen, was ohnehin beschlossen wurde – und sich dafür auch noch dankbar zu zeigen.

Vorbereitung als Dauerzustand

Wenn ständig von Vorbereitung die Rede ist, dann meint das längst nicht mehr Vorsorge im klassischen Sinne, sondern eine permanente geistige Mobilmachung. Man soll sich gewöhnen: an neue Bedrohungen, neue Opfer, neue Einschränkungen, die morgen schon selbstverständlich sein sollen. Ausnahmezustände werden normalisiert, Notmaßnahmen verstetigt. Krieg – ob real oder rhetorisch – wird nicht mehr ausschließlich als Katastrophe gedacht, sondern als Option, als Mittel zur Formung von Loyalität und innerer Geschlossenheit. Natürlich will niemand Krieg, beteuern jene, die ihn sprachlich täglich einüben, die Szenarien zeichnen, Feindbilder pflegen und Opferbereitschaft einfordern. Und während man uns erklärt, dass all dies zu unserem Schutz geschehe, drängt sich der Verdacht auf, dass es weniger um Sicherheit geht als um Disziplin. Ein Volk in ständiger Alarmbereitschaft stellt weniger Fragen, es funktioniert besser.

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Fazit

Am Ende bleibt das diffuse, aber hartnäckige Gefühl, dass hier etwas Grundlegendes verrutscht ist – nicht mit einem großen Knall, sondern mit der leisen Beharrlichkeit administrativer Selbstgewissheit. Politik hat sich vom Aushandlungsraum zur Belehrungsanstalt verwandelt, Demokratie vom offenen Versprechen zur geschützten Marke, Freiheit zur korrekt ausgeführten Pflicht. Unter dem Deckmantel von Schutz, Verantwortung und Alternativlosigkeit wird Zumutung normalisiert, Kontrolle moralisch geadelt und Mangel als Charakterfrage umgedeutet. Die Bürger erscheinen dabei weniger als Souverän, denn als zu verwaltende Größe, deren Zustimmung man voraussetzt, deren Einwände man aber als Störgeräusch empfindet.

Doch gerade in dieser Schieflage liegt auch der Rest an Hoffnung: im Erkennen der Mechanismen, im Durchschauen der Phrasen, im hartnäckigen Beharren darauf, dass politische Entscheidungen keine Naturgesetze sind und soziale Verelendung kein pädagogisches Mittel. Das zynische Lachen, die Satire, der polemische Widerspruch sind keine Flucht, sondern letzte Formen der Selbstbehauptung. Wer noch lacht, glaubt nicht mehr alles. Und wer nicht mehr alles glaubt, ist gefährlicher, als jede noch so gut gemeinte Kontrollmaßnahme es je verhindern könnte.

Trotzdem scheißen sie auf uns.

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