Abgang eines Orakels

Wenn die Zukunft pensioniert wird

Es gibt Momente in der Geschichte, die wirken so leise, dass man sie fast übersieht – und gerade deshalb sollte man zweimal hinschauen. Klaus Schwab, jener säulenheilige Prophet der globalisierten Steuerungskultur, jener hyperaktive Taktgeber einer Weltelite, die sich nie verläuft, weil sie alle Karten besitzt, hat das Zepter abgegeben. Mit 88 Jahren, einer Zahl so doppelt-unendlich wie sein Einfluss, zieht er sich zurück. Der Mann, der in Davos mehr Weltordnung formulierte als sämtliche G7-Gipfel zusammen, geht. Und die Welt, ach, sie wird es nicht merken. Denn wie bei allen gut funktionierenden Systemen ist das eigentliche Genie nicht mehr die Idee, sondern die Maschine. Der „Great Reset“ hat längst Autopilot.

Schwab, das muss man ihm lassen, war kein gewöhnlicher Globalist. Er war die Matroschka-Figur des Neoliberalismus – Professor, Unternehmer, Strippenzieher, Showmaster, Zyniker mit Menschenbild. Sein WEF war keine Konferenz, sondern eine sakrale Versammlung des vernetzten Kapitalismus. CEOs, Politiker, Intellektuelle, KI-Gurus und irgendwie auch Bono: alle lauschten ihm, wenn er sprach. Oder besser: intonierte. Denn Schwab sprach nie. Er deklarierte. Mit deutscher Präzision, mit schwerer Stimme, die klang, als hätte sie die Klimaanlage der Welt direkt verschluckt. Und jetzt also: Rücktritt. Oder sagen wir besser – strategischer Selbstausstieg.

Das Wasser gehört uns – und wer durstig ist, hat eben kein Geschäftsmodell

Wer aber nun die Nachfolge dieses Endgame-Druiden antritt, ist keine leere Marionette. Peter Brabeck-Letmathe, ehemaliger Nestlé-Chef, ein Mann, der weiß, dass die Welt zwar drei Viertel aus Wasser besteht, aber man daran nicht zwangsläufig jemanden teilhaben lassen muss. Brabeck, dieser Technokrat des Zuckerwassers, hat sich einst den Zorn der Wassersozialromantiker zugezogen, als er erklärte, dass Wasser kein öffentliches Gut sein solle, sondern – wie jede andere Ware auch – einem Marktpreis folgen müsse. Eine Ansicht, so kühl formuliert, dass selbst die Gletscher schmolzen, nur um aus dem Markt zu fliehen.

Aber machen wir uns nichts vor: Brabeck sagt nur, was viele längst denken. Die Zeit der Gemeingüter ist vorbei. Öffentliche Daseinsvorsorge? Ein Sentiment für Bibliothekare. Die neue Weltordnung ist ein Supermarkt mit Gesichtserkennung. Bildung, Gesundheit, Energie, Information – alles wird skaliert, bepreist, verkauft. Und nun auch das Wasser. Und zwar nicht als Menschenrecht, sondern als Premium-Abo. Wer also künftig am Brunnen steht und kein digitales Zahlungsmittel dabeihat, darf immerhin den Algorithmus bewundern, der sein Scheitern protokolliert.

Davos ist tot – lang lebe Davos!

Doch zurück zum Weltwirtschaftsforum. Der Abgang Schwabs ist, bei aller Rhetorik, kein Ende, sondern ein zyklisches Ereignis. Denn der Globalismus stirbt nicht. Er verlagert sich. Er tarnt sich. Er aktualisiert seine App. Die Gipfel der Zukunft finden vielleicht nicht mehr in Davos statt, sondern im Metaversum. Aber die Teilnehmerliste bleibt gleich: Der Hedgefondsmanager, die Verteidigungsministerin mit ESG-Profil, der Digitalnomade mit Blockchain-Ideologie und der Philosoph, der für alles eine Fußnote parat hat – inklusive zum Thema Fußnoten.

Brabeck wird das WEF nicht neu erfinden. Warum auch? Die Marke funktioniert. Wie Coca-Cola oder Waffenexporte. Man muss nur den Inhalt ab und zu an den Zeitgeist anpassen. Früher sprach man von „Public-Private Partnerships“, heute nennt man es „Multi-Stakeholder-Dialogue“. Früher nannte man es Lobbyismus, heute „Impact Investing“. Die Welt verändert sich nicht – sie wird nur eloquenter in ihrer Rechtfertigung. Und wer ein Problem damit hat, bekommt ein Panel.

Wem gehört die Zukunft? Spoiler: Nicht dir.

Der wahre Skandal am WEF war nie seine Existenz – sondern seine Selbstverständlichkeit. Man sitzt dort nicht, um Demokratie zu simulieren, sondern um sie zu optimieren. Nach oben. Dort wird nicht abgestimmt, sondern abgestimmt. Die Welt, so zeigt sich in Davos jedes Jahr aufs Neue, ist kein chaotisches Durcheinander, sondern ein einigermaßen gut funktionierendes Abo-Modell mit variablem Zugangscode. Und wer nicht drin ist, ist draußen. Punkt.

Brabeck ist der ideale Nachfolger, weil er keine Skrupel hat, sondern Kennzahlen. Weil er die Privatisierung der Lebensgrundlagen nicht als Rückschritt, sondern als Fortschritt sieht. Weil er weiß, dass Moral in PowerPoint-Slides immer nur eine Spalte ist – neben Umsatz und Risiko. Und weil er, vielleicht unbewusst, genau das lebt, was die neue globale Elite längst verinnerlicht hat: Die Welt ist nicht für alle da. Nur für die, die zahlen können. Für die anderen bleibt der Livestream.

Das letzte Glas Wasser gehört dem Algorithmus

Was bleibt also von Schwab, wenn der letzte Applaus verklungen ist und der letzte Panelist sein LinkedIn-Profil aktualisiert hat? Eine Welt, die gelernt hat, ihre Zukunft in Zahlenkolonnen zu pressen. Eine Welt, die ihre Hoffnungen an CEOs und KI-Cluster delegiert hat. Eine Welt, in der der Zugang zu Wasser, Luft, Bildung und Leben selbst nicht mehr durch Geburt, sondern durch Bonität bestimmt wird.

Herodot hätte gelacht. Oder geweint. Vielleicht beides. Denn während wir früher dachten, der Krieg sei das Ende der Zivilisation, wissen wir heute: Das Ende kommt leise, in Form eines Logins. Und wer dann durstig ist, kann ja den neuen CEO des WEF anschreiben. Vielleicht gibt’s einen Gratiscode fürs Probetrinken.

„Willkommen in der Freiheit™“

Ein totalitärer Reiseführer durch die Demokratie der Gegenwart

„Es war einmal eine Zeit, da dachte man, der Totalitarismus sei ein Relikt. Heute erkennt man: Er hat bloß ein neues Outfit, eine PR-Agentur – und WLAN.“

1. Unterdrückung der Meinungsfreiheit – Die Hofnarren sitzen heute im Gerichtssaal

Man könnte es Satire nennen – wenn es nicht so oft vor Gericht enden würde. In Polen verklagt der Staat kritische Künstler. In Ungarn werden oppositionelle Journalisten zum Schweigen gebracht. In Indien sitzt der kritische Reporter in Untersuchungshaft, in Russland sitzt er im Lager, in Saudi-Arabien sitzt er gar nicht mehr, weil man ihn in Istanbul zersägt hat. In Deutschland? Da fliegt einem schon mal der Shitstorm um die Ohren, wenn man öffentlich einen Gesundheitsminister kritisiert – während YouTube gleich prophylaktisch löscht. Willkommen im Zeitalter der Plattformzensur: Meinungsfreiheit gibt’s noch – aber bitte im Rahmen der Nutzungsbedingungen.

2. Staatliche Propaganda – Heute mit Sprechblasen in Regenbogenfarben

Früher nannte man es „Stürmer“, heute nennt man es „Kampagne für gesellschaftlichen Zusammenhalt“. Der Unterschied? Design. Die Methode bleibt dieselbe: Dauerbeschallung in Endlosschleife. In Russland lobt das Fernsehen täglich Putins Friedenswillen, während Bomben fallen. In China ist alles, was Xi sagt, automatisch wahr. Und im Westen? Da verkaufen uns Nachrichtensprecher auf TikTok militärische Eskalation als moralische Pflicht. Waffenlieferungen heißen plötzlich „solidarische Unterstützung“. Zivile Kollateralschäden? Leider notwendig. Friedensdemos? Irgendwie verdächtig. Alles nur Haltung, Baby.

3. Überwachungsstaat – Wir sehen dich gern, auch beim Zähneputzen

George Orwell hätte feuchte Augen: China setzt auf Social Scoring, Gesichtserkennung und Totalkontrolle. Aber auch der Westen hat gelernt: Die NSA liest mit, Amazon hört zu, Google denkt für dich – und dein Smart-TV weiß, wie oft du Popcorn kaust. Und wenn du auf der Straße protestierst, erkennt dich die Kamera. Noch besser: Dein eigenes Smartphone verrät dich. Denn wozu braucht man eine Geheimpolizei, wenn die Bürger ihre eigene Überwachung in der Hosentasche tragen?

4. Militarisierung und Gewaltmonopol – Frieden schaffen mit mehr Drohnen

Wer Frieden will, muss rüsten – so die neue Ethik. Deutschland baut eine „kriegsentscheidende Industrie“ auf, Frankreich plant Hyperschallwaffen, und die USA… nun ja, die haben nie aufgehört. Und der Bürger? Der darf demonstrieren – solange er keine Pyrotechnik zündet. Das Gewaltmonopol liegt beim Staat, und wenn der entscheidet, dass deine Meinung gefährlich ist, hilft dir kein Grundgesetz mehr, sondern höchstens ein Anwalt mit starken Nerven und schwachem WLAN.

5. Abschaffung individueller Rechte – Ein QR-Code entscheidet, wer du bist

Die Pandemie hat’s vorgemacht: Bewegungsfreiheit? Nur mit App. Versammlungsfreiheit? Bitte anmelden, registrieren, und möglichst still verhalten. Datenschutz? Im Ausnahmezustand optional. Ob Lockdown, Ausgangssperre oder Berufsverbot – alles möglich, wenn’s „dem Gemeinwohl“ dient. Und niemand hat gefragt: Was bleibt vom Individuum, wenn es nur noch als statistische Variable betrachtet wird?

6. Kontrolle der Wirtschaft – Der Staat als CEO deines Lebens

In China ist der Staat gleich CEO aller großen Unternehmen. In Europa tarnt man es geschickter: Subventionen, Notverstaatlichungen, „Systemrelevanz“. Wenn der Markt nicht spurt, wird er korrigiert – nicht durch Angebot und Nachfrage, sondern durch Erlass und Dekret. Und plötzlich entscheiden Beamte, was „nachhaltiges Wirtschaften“ bedeutet. Willkommen in der ESG-Wirtschaft, wo Moral der neue Marktmechanismus ist – aber nur, wenn sie zertifiziert ist.

7. Zentrale Kontrolle und Einparteiensystem – Vielfalt als Tarnung

Demokratie lebt vom Wettbewerb der Ideen – sofern sie in den gängigen Spektrum passen. In Russland gibt es formell mehrere Parteien – aber sie stimmen alle für Putin. In China gibt es sogar acht „Blockparteien“ – alle loyal zur KP. Und bei uns? Nun, wenn alle Parteien plötzlich denselben Krieg befürworten, dieselbe Energiepolitik propagieren und dieselbe Empörung teilen – dann wirkt das demokratische Spektrum plötzlich wie eine graue Tapete mit verschiedenen Mustern, aber demselben Kleister.

8. Ideologische Monopolisierung – Vielfalt? Ja. Aber bitte nicht im Denken.

Ob Klima, Gender, Corona oder Krieg: Wer abweicht, wird nicht debattiert, sondern diffamiert. Man darf alles sagen – aber wehe, man meint es ernst. Universitäten, Medienhäuser und NGOs sprechen im Chor. Die Ideologie ist fluide, progressiv und unantastbar. Wer fragt, ob zwei plus zwei nicht doch manchmal vier ergibt, wird gleich als „rechts“, „leugnerisch“ oder „delegitimierend“ markiert. Orwell sagt hallo.

9. Manipulation der Geschichte und Bildung – 1984 war kein Lehrbuch, sondern ein Tutorial

Die Kolonialzeit wird neu geschrieben, Statuen gestürzt, Lehrpläne ideologisch gereinigt. In Florida werden Sklaverei-Inhalte gestrichen, in Berlin ersetzt man Aufklärung durch „Perspektivwechsel“. Schüler lernen nicht mehr Geschichte, sondern Narrative. Und wer kritisch hinterfragt, ob Kolumbus wirklich schlimmer war als Stalin, bekommt einen Elternbrief.

10. Mobilisierung der Massen – Klatschen, Marschieren, Liken

Ob Black Lives Matter, Klimastreiks oder Corona-Applaus – der moderne Totalitarismus tarnt seine Mobilisierung als Graswurzelbewegung. In Wahrheit stehen PR-Agenturen, Thinktanks und Staatsgelder dahinter. Die Masse marschiert nicht mehr im Gleichschritt – sie tanzt auf TikTok. Aber der Takt kommt von oben.

11. Schaffung eines Feindbildes – Der ewige Andere

Mal ist es der Ungeimpfte, mal der Russe, mal der Kritiker mit Twitteraccount. Der Totalitarismus braucht keinen Teufel – er erschafft ihn. Medien helfen mit, Politiker füttern die Narrative, das Volk empört sich. Und alle sind sich einig: Der Feind ist schuld. Immer.

12. Rechtlosigkeit und Willkür – Der Paragraf beugt sich der Parole

In Belarus sitzen Menschen für ein weißes T-Shirt. In Hongkong für ein Lied. In Deutschland? Da reicht manchmal ein falscher Tweet, ein falsches „Like“ um Besuch vom Staatsschutz zu bekommen. Der Rechtsstaat lebt – aber er ist selektiv. Und immer häufiger ist nicht das Gesetz entscheidend, sondern dessen „kontextuelle Auslegung“.

13. Kontrolle von Religion und Kultur – Halleluja, aber bitte staatlich zertifiziert

In China werden Kirchen überwacht, Imame umerzogen. In Frankreich sind Kopftücher verdächtig, in Deutschland sind Kirchenglocken zu laut – aber Drag Story Hour in der Grundschule? Staatsförderung. Religion ja, aber nur, wenn sie sich in die staatliche Kulturagenda einfügt. Gott hat keine Lobby, aber der Kulturfonds schon.

14. Atomisierung der Gesellschaft – Jeder gegen jeden, alle fürs System

Freunde? Verdächtig. Familienbande? Belastend. Die neue Loyalität gilt der Regel, nicht dem Menschen. Während Nachbarn einander bei Verstößen melden, wie in Australien während der Lockdowns, wird sozialer Kitt durch Misstrauen ersetzt. Die Gesellschaft? Ein Cluster vereinsamter Individualisten mit Dauerverbindung zur Staatscloud.

15. Instrumentalisierung von Angst und Terror – Heute mit psychologischer Feinjustierung

Keine Sirenen mehr – aber Push-Mitteilungen. Keine Panzer auf der Straße – aber Bedrohungsszenarien im Feed. Pandemie, Krieg, Klimakatastrophe, Inflation – alles gleichzeitig. Angst macht gefügig. Angst verhindert Widerspruch. Angst ist die unsichtbare Uniform des modernen Untertanen.

16. Monopolisierung der Kommunikation – Kontrolle per Algorithmus

Twitter war mal frei, Facebook mal ein soziales Netzwerk. Heute entscheiden Algorithmen, was du siehst – und was nicht. In Russland macht das der Staat direkt. Im Westen macht es Meta, aber mit den „richtigen“ Flagellanten Partnern. Plattformen löschen nicht alles – nur das, was „unsicher“ ist. Die neue Pressefreiheit heißt: „In Übereinstimmung mit den Gemeinschaftsstandards entfernt.“

17. Opferbereitschaft – Stirb für das Klima, opfere für die Gerechtigkeit

Heize weniger, dusche kürzer, lebe ärmer – aber mit moralischer Überlegenheit. Der neue Totalitarismus fordert nicht mehr Leben – er fordert Lebensstil. Die Tugend ist Verzicht, das Ziel ein diffuses „Besseres Morgen“. Und wer fragt, ob das alles wirklich nötig ist, lebt bereits im Verdacht, nicht zu leiden – und das ist verdächtig.

18. Manipulation von Sprache und Begriffen – Das Ministerium für Wortdesign

Krieg heißt heute „militärische Sonderoperation“, Zensur ist „Plattformregulierung“, Inflation ist „Preisanpassung“. Sprache dient nicht mehr der Aufklärung, sondern der Umdeutung. Begriffe werden entkernt, neu gefüllt und dann moralisch aufgeladen. Wer die alten Bedeutungen verwendet, wird gecancelt – linguistisch und sozial.

19. Erschaffung einer neuen Realität – Das Metaversum der Macht

Die Realität ist, was regierungsnahe Experten sagen. Alles andere ist „Desinformation“. Es gibt keine objektiven Fakten mehr – nur noch zertifizierte Erzählungen. Die Wahrheit ist nicht länger ein Ziel, sondern ein Produkt. Willkommen in der Hyperrealität, in der Herodot ein Verschwörungstheoretiker wäre – und Kafka eine Gebrauchsanleitung.

Und so leben wir weiter – in der besten aller Welten. Oder wenigstens in der effizientesten. Denn Freiheit ist heute vor allem eines: eine rhetorische Ruine mit WLAN.

Nachruf aus Weihrauch und Amnesie

Der Papst ist tot. Möge er in Frieden ruhen – aber bitte nicht in einem Nebel aus halbgaren Heiligenlegenden und journalistischem Gedächtnisschwund. Noch ehe der Leichnam abgekühlt ist, werden in den Redaktionen des Westens bereits Hagiografien wie am Fließband produziert. Der weiße Rauch, der über dem Vatikan aufsteigt, signalisiert nicht etwa die Wahl eines neuen Oberhaupts, sondern die Auslöschung kritischer Erinnerung. Franziskus, der als Jorge Mario Bergoglio auf einem argentinischen Fußballfeld vermutlich besser aufgehoben gewesen wäre als im Vatikanpalast, wird jetzt als „Papst der Armen“, als „Reformer“, gar als „Marx-verstehender Hirte“ verklärt. Eine PR-Rekonstruktion, so weichgespült wie das Taufwasser im Petersdom. Man möchte meinen, der Herrgott selbst habe das Drehbuch geliefert – und gleich die kritischen Passagen ausradiert. Willkommen im postmortalen Weichzeichnerjournalismus, wo sich selbst der Papst noch ins säkulare Heldennarrativ einfügt, solange er tot genug ist.

Ein Papst bleibt ein Papst – auch im Jogginganzug des Fortschritts

Verstehen wir uns nicht falsch: Franziskus war in vielem besser als seine Vorgänger. Er war warmherziger als Ratzinger, weniger mumifiziert als Johannes Paul II., und er sprach gerne über Armut, was in der katholischen Kirche bereits als Revolution gilt. Doch ein linkes Feigenblatt macht noch keinen linken Baum. Seine scheinbar progressive Rhetorik täuschte nicht darüber hinweg, dass er, wie alle Päpste vor ihm, mit dem eisernen Griff des Dogmas regierte. Ein Jesuit mit einem Lächeln, das mehr verbarg als enthüllte. Der Reformer, der Reformen verweigerte. Der Kritiker des Kapitalismus, der nie seine Bankverbindungen löschte. Der bescheidene Papst, der sich weigerte, die patriarchalen Grundpfeiler der Kirche auch nur anzuritzen. Ein Che Guevara des Gewissens vielleicht – aber einer, der seine Mütze gegen die Mitra tauschte, seine Zigarre gegen Dogmen und seine Revolte gegen ein „Aber nicht zu schnell“.

Feminismus: Erdbeeren auf dem klerikalen Kuchen

Wer glaubt, Franziskus sei ein Freund der Frauen gewesen, kennt vielleicht die Schlagzeilen, nicht aber die Fußnoten. Ein paar weibliche Theologinnen hier, eine nette Geste da – und schon spricht man vom „feministischen Papst“. Dabei war der Heilige Vater in Genderfragen nicht einmal im vorvorletzten Jahrhundert angekommen. Der Feminismus sei eine Spielart des Machismo, nur „mit Rock“, dozierte er. Und weil er ein Mann war, dachte er vermutlich: Wer einen Rock trägt, meint es nicht ernst. Frauen als Priesterinnen? Ein kategorisches Nein. Frauen als Gleichgestellte? Höchstens symbolisch. Frauen in der Liturgie? Als Dekoration, als liturgische Beistellung, als Erdbeere auf dem Sakramentenkuchen. Schön anzusehen, aber keinesfalls tragend.

Und wehe, sie wollen keine Kinder. Dann droht die metaphysische Schelte: „alte Jungfer“, das Urteil eines Papstes, der offenbar nicht zwischen weiblicher Selbstbestimmung und katholischer Fortpflanzungspflicht unterscheiden konnte. Der Uterus war für Franziskus kein Raum der Freiheit, sondern ein organischer Dienstleister in der klerikalen Geburtenökonomie. Willkommen im Paradies der unbefleckten Entmündigung.

Homosexualität: Toleranz mit Rückspiegel

„Wer bin ich, um zu urteilen?“ – dieser Satz machte Karriere. Franziskus’ fünf Worte der scheinbaren Öffnung gegenüber homosexuellen Menschen gingen um die Welt. Doch wie so oft bei päpstlichen Aussagen ist es der Kontext, der das Dogma zementiert. Denn wenn man den Satz aufdröselt, bleibt eine klare Diagnose übrig: Homosexualität sei zwar nicht kriminell, aber behandlungsbedürftig. Frühzeitige psychiatrische Betreuung sei sinnvoll, so der Pontifex auf einer Pressekonferenz, als ob er nicht über Menschen, sondern über eine besonders renitente Form von Pubertät spräche. „Frociaggine“, der vulgär-italienische Begriff für „Schwuchteln“, den er intern verwendete, entlarvt die sprachliche Patina, die seine öffentliche Diplomatie zu kaschieren versuchte. Nein, Franziskus war kein Verbündeter der Queer-Bewegung. Er war ihr freundlicher Gegner. Er lächelte beim Ausschluss.

Abtreibung: Der Arzt als Attentäter

Und wenn es ums Eingemachte ging, war Jorge Bergoglio ganz der alte Argentinier. Abtreibung? Nicht nur Sünde – sondern Mord mit Vorsatz. Die Ärztin, die eine Schwangerschaft beendet, sei eine „Auftragsmörderin“, ein Begriff, der mehr mit Tarantino als mit Theologie zu tun hat. Das Dogma war hier nicht nur unbarmherzig, es war theatralisch inszeniert. Ein päpstlicher Tarantismus in drei Akten: Schuld, Schuld und Schuld. Diese sprachliche Eskalation war kein Ausrutscher, sondern Kalkül. Man wollte Wirkung erzeugen – nicht durch Nachsicht, sondern durch Schock. Und man erzielte sie: Christen verließen die Kirche, doch das war der Preis für moralische Klarheit. Zumindest in einer Welt, in der Klarheit immer in eine Richtung wirkt – gegen die, die ohnehin schon kaum gehört werden.

Missbrauchsskandale: Nichts sehen, nichts hören, nichts glauben

Und dann wären da noch die Keller. Die dunklen, muffigen Räume unter der barocken Fassade, gefüllt mit Akten, Schweigen und Scham. Franziskus war kein Pädophilenschützer vom Schlage eines Barbarin oder Ratzinger – aber auch kein Aufklärer. Die Sauvé-Kommission empfing er nie. Den Bericht? Nie gelesen. In Argentinien ließ er Pater Grassi decken, der zwei Jungen missbraucht hatte. Als es um Kardinal Barbarin ging, empfahl Franziskus seinen Gläubigen, sich nicht von „linken Strömungen“ beeinflussen zu lassen. Als wäre Kindesmissbrauch eine politische Ideologie. Es ist die moralische Schizophrenie eines Systems, das Sünde predigt und systematisch vergisst. Die Leichen im Keller des Vatikans riecht man bis zum Tiber – aber man nennt sie dort Weihrauch.

Die Faust Gottes – oder: Das Blasphemieverbot für Anfänger

Selbst im Tod wusste Franziskus noch zu polarisieren. Er starb am Ostermontag, als wollte er noch ein letztes Mal das liturgische Drehbuch umschreiben. Und als Charlie Hebdo nach dem Anschlag um seine ermordeten Zeichner trauerte, sagte der Papst sinngemäß: Wer den Glauben anderer beleidige, müsse mit einem Faustschlag rechnen. Kein Wort über die Freiheit der Satire. Kein Wort über das Recht auf Gotteslästerung in einem säkularen Staat. Stattdessen ein päpstlicher Reflex, der an die Inquisition erinnert, nur mit freundlicherem Branding. Dass in Frankreich die Blasphemie seit 1881 legal ist, war ihm entweder entfallen oder egal. Der Glaube stand über der Verfassung – wie immer.

Nachruf ohne Heiligenschein

Also ja: Der Papst ist tot. Möge er ruhen, aber nicht in einem Mantel aus Lügen. Wer Jorge Mario Bergoglio als „linken Papst“ verklärt, verkennt das Wesen des Vatikans: Er war Reformer im Schneckentempo, ein Menschenfreund mit Zensurhintergrund, ein konservativer Kommunikator, der wusste, dass ein Lächeln mehr erreicht als ein Dogma. Doch unter dem Lächeln: der gleiche alte Papst. Ein Reaktionär mit Zugang zu WLAN.

Vielleicht braucht die Welt genau das: eine Autorität, die sich nicht bewegt, um wenigstens so zu tun, als ob sie standhält. Aber verwechseln wir Stillstand nicht mit Fortschritt. Und verwechseln wir vor allem nicht höfliche Worte mit radikaler Veränderung.

Denn selbst ein Papst kann nett sein – und trotzdem vollkommen falsch liegen.

Heuchler an den Hebeln

Selig sind die PR-BeraterPolitik zwischen Hostie und Haushaltskürzung

Kaum schließt sich der Papstpalast hinter dem letzten Grußwort, beginnen die Uploads. Die Timeline füllt sich. Sie kramen sie hervor, diese kunstvoll vergilbten Fotos mit päpstlicher Aura, wie andere Leute ihre Grundschulbilder mit dem Klassenhasen. Dort stehen sie, die Abgeordneten, Ministerinnen, Kanzlerkandidaten mit mittelmäßigem Lateinabitur – nebeneinander aufgereiht wie Ministranten der Moral, geschmückt mit dem ewigen Lächeln politischer Selbstvergewisserung: „Ich war bei ihm. Ich habe den Papst gesehen.“ Das allein scheint zu genügen, um sich für den nächsten Sozialabbau moralisch zu immunisieren.

Man beruft sich auf Nächstenliebe, wie andere auf Parkplätze: nur, wenn man gerade keinen findet. Und so wird die Caritas zur Karriereleiter, das Evangelium zur Elevator-Pitch, das „Was ihr dem Geringsten getan habt“ zur Textbaustein-Vorlage im Social-Media-Team. Dabei ist längst klar: Der Geringste im Land kann lange warten, bis sein Wohngeld ausgezahlt wird. Die Nächstenliebe dieser Politik endet dort, wo der Finanzvorstand des Verteidigungsministeriums sein Excel-File aufmacht.

Und morgen dann: „Die Bürgerinnen und Bürger müssen verstehen…“

Heute noch brüderlich in der Basilika, morgen wieder brutal im Bundestag. Denn das Ritual ist bekannt, die Dramaturgie eingeübt: Zuerst ein paar wohlfeile Worte über das Elend der Welt, dann die pragmatische Hinwendung zur Realität – also zur Kürzung von Kindergeld, zur Streichung von Frauenhäusern, zur Schließung von Sozialberatungen. In bester Tradition der biblischen Pharisäer wird das Gute gepredigt und das Gegenteil praktiziert – aber mit ministerieller Überzeugung.

Und wehe dem, der widerspricht! Der wird belehrt, der „verstehe die Komplexität nicht“, der solle „nicht moralisieren“, der solle „Realität anerkennen“. Die Realität, das ist der neue Gott. Und er ist ein knallharter Buchhalter. Seine Jünger heißen Subventionsabbau, Ausgabendisziplin und Bürokratieentlastung – letzteres natürlich nur für die Reichen. Alle anderen dürfen ihre Unterlagen bitte digital und doppelt hochladen, damit man ihnen mit bestem Gewissen die Hilfen verweigern kann.

Was würde Jesus kürzen?

„Da aber Jesus ihre Bosheit erkannte, sprach er: Was versucht ihr mich, Heuchler?“ (Mt 22,18) – man könnte meinen, das stünde in einem Live-Ticker zur aktuellen Haushaltsdebatte. Es ist eine Frage, die heute kaum jemand stellt. Was würde Jesus kürzen? Das Elterngeld für Gutverdiener? Die Rüstungsausgaben? Den Dienstwagenpool? Oder vielleicht die Sendezeit von Talkshows, in denen man über „faule Arbeitslose“ debattiert, während die Mietpreise explodieren und Kinder ihre Schulbrote teilen müssen?

Doch die Antwort ist bekannt: Jesus wäre heute nicht eingeladen – zu unbequem, zu direkt, zu sehr an den Armen interessiert. Ein Sozialromantiker, ein Spinner, vielleicht gar ein Linkspopulist. Und vor allem: einer, der sich nicht für Selfies hergeben würde, wenn man ihn am Tag danach beim Bundesrechnungshof ans Kreuz nagelt.

Heuchelei als Grundwert der Mitte

Wer heute die Politik der sogenannten Mitte betrachtet, erkennt ein Schauspiel voller Widersprüche und PR-geölter Phrasen. „Wir müssen sparen!“ heißt es, während Rüstungsfirmen wie Hensoldt Milliardenkredite durchgewunken bekommen wie ein EU-Kommissar beim Lobbyempfang. „Wir dürfen niemanden zurücklassen!“ – außer natürlich die Alleinerziehenden, die Langzeitarbeitslosen, die Obdachlosen, die Geflüchteten und all jene, die kein Twitterprofil und keinen Spendenverein hinter sich haben.

Die große politische Heuchelei funktioniert, weil sie ritualisiert ist. Es gibt Sprechakte für jedes Desaster, Floskeln für jede Wunde, Narrative für jedes Scheitern. Und während im Hintergrund das soziale Netz zerfasert wie ein antiker Wandteppich, zitiert man Franz von Assisi – um ihn dann durch die Excel-Tabelle zu jagen.

Die Messe ist gelesen, der Haushalt genehmigt

Und so läuft es weiter, wie es immer gelaufen ist, nur mit besseren Mikrofonen. Die Politiker*innen knien, posten, posieren. Die Kirchen nicken milde. Die Medien kommentieren neutral. Und die Armen? Die stellen sich hinten an. Bei der Tafel. Beim Jobcenter. Beim Mietgericht. Vielleicht beten sie. Vielleicht fluchen sie. Vielleicht erinnern sie sich an Herodots Satz. Vielleicht an Matthäus. Vielleicht auch nur daran, dass es Zeiten gab, in denen Worte wie „Gerechtigkeit“ und „Würde“ noch nicht wie Ironie klangen.

Doch eines ist gewiss: Wenn Jesus morgen käme – sie würden ihm eine PowerPoint zeigen. Und dann das Budget kürzen.

Wir halten fest: Haltung ist wichtiger als Hirn

Die Bewertungsgesellschaft: Wo das Argument stirbt und das Gefühl regiert

Es war einmal eine Gesellschaft, in der man sich noch stritt. Mit harten Worten, klaren Gedanken, spitzen Federn und aufgeschlagenen Büchern. Man zerriss sich in Zeitungsartikeln, duellierte sich mit Zitaten und konterte mit Fußnoten. Ein Argument galt nicht deshalb, weil es gefiel, sondern weil es durchdacht war – und vielleicht sogar unbequem. Doch diese Epoche ist vorbei. Tot. Begraben unter Likes, Empörungswellen und Talkshowgeschrei. Heute zählt nicht, was jemand sagt, sondern wer es sagt – und vor allem, wie.

Willkommen in der Ära der Meinungsbewertung. Wer heute noch wagt, einen Gedanken zu formulieren, der nicht vorher auf seine moralische Hautverträglichkeit getestet wurde, der lebt gefährlich. Er riskiert keine Replik, sondern eine Diagnose: „problematisch“, „toxisch“, „rechts offen“, „links verklärt“, „cis-normativ“, „nicht inklusiv“, „tone-deaf“, „technokratisch“, „kulturvergessen“ – die Etikettenregale sind gut gefüllt, und das Verfallsdatum des Arguments liegt meist vor der ersten Silbe.

Was zählt, ist nicht mehr, ob etwas stimmt, sondern ob es rein ist. In der Bewertungsgesellschaft wird nicht mehr geprüft, sondern gewogen. Und wehe, das Ergebnis entspricht nicht dem moralisch geforderten BMI der Gegenwart.

Moral als Maßstab: Der Fetisch der Gesinnung

Die Meinung von heute ist kein Gedankengebäude mehr, sondern ein Fashion-Statement. Man trägt sie wie ein T-Shirt: Haltung gegen Rechts, Haltung gegen Kapitalismus, Haltung gegen Haltungslosigkeit. Und wer keine hat – oder, schlimmer noch, eine falsche –, der wird in den digitalen Schafspelz der Ignoranz gekleidet. Diskussionen sind passé. Debatten sind zu gefährlich. Stattdessen gibt es Ratings. Bewertungsskalen. Kategorisierungen. Und am Ende immer dasselbe Fazit: „Darf man so nicht sagen.“

Der Moralismus unserer Zeit ist nicht etwa ein Rückfall in religiöse Dogmatik – das wäre immerhin ehrlich. Nein, er tarnt sich als Fortschritt. Als Bewusstsein. Als Gerechtigkeit. In Wahrheit ist er eine Reinigungsmaschine, die alles wegspült, was nicht dem Code entspricht. Und dieser Code lautet: Sag nichts, was man falsch verstehen könnte. Im Zweifel lieber gar nichts. Die neue Form der Tugend ist die Selbstzensur mit empathischem Lächeln.

Argumente? Wer braucht Argumente, wenn er Haltung hat? Wenn die Tränen in den Augen glänzen, wenn man für das Gute kämpft, dann ist jeder Gedanke, der zu differenziert, schon fast ein Verrat. Wo früher der Dissens das Herz der Demokratie war, ist heute die Übereinstimmung das Ideal: Alle gleich gut, alle gleich betroffen, alle gleich empört. Und wer abweicht, wird nicht kritisiert – er wird aussortiert.

Diskursverweigerung als soziales Kapital

In dieser neuen Welt zählt nicht der Gedanke, sondern der Gestus. Der performative Aufschrei ersetzt die sachliche Einordnung, das Mem den Essay, der Shitstorm das Streitgespräch. Es geht nicht mehr um Überzeugung, sondern um Überwältigung. Der lauteste Affekt gewinnt, nicht das überzeugendste Argument. Wer differenziert, verliert – denn Differenz stört die moralische Hygiene.

Man könnte fast sagen: Die neue Intellektualität besteht darin, nicht zu denken, sondern zu fühlen. Und zwar richtig. Es ist die Ära der empathisch begründeten Denkvermeidung. Und wer sich dem entzieht, wer es wagt, zu widersprechen – nicht aus Bosheit, sondern aus Neugier –, der wird nicht etwa mit Gegenargumenten bedacht, sondern mit Etiketten: „Naiv.“ „Privilegiert.“ „Altweiß.“ „Männermeinung.“ „Whataboutism.“

Diskursverweigerung ist zum Statussymbol geworden. Es demonstriert Reinheit. Es schützt vor Irritation. Und es gibt Sicherheit: Denn wer nichts infrage stellt, wird auch selbst nicht infrage gestellt. Eine perfekte Symbiose aus Konformität und Komfort.

Die Reduktion des Menschen auf seine Meinung

Wenn die Meinung eines Menschen wichtiger ist als seine Fähigkeit zu denken, dann wird aus der Person ein Avatar. Kein Individuum mehr, sondern eine Haltung auf zwei Beinen. Eine Meinung ist heute nicht mehr ein Aspekt des Denkens, sondern dessen Ersatz. Und so wird jeder Mensch zum Marker, zum Standpunkt, zum Feind oder Freund. Man kennt sich nicht – man bewertet sich. Sympathisch ist, wer dasselbe teilt. Gefährlich, wer widerspricht.

Diese Reduktion ist ein Armutszeugnis für die Aufklärung. Sie verwandelt die Idee von Freiheit – der Freiheit zu irren, zu provozieren, sich zu korrigieren – in ein Korsett der Meinungshygiene. Man darf noch alles sagen, solange es niemandem wehtut. Doch was ist eine Gesellschaft, in der das einzig erlaubte Wort das ist, das niemanden stört? Sie ist nicht frei – sie ist betäubt.

Am Ende steht das Schweigen – aber in guter Haltung

Wir leben in einer paradoxen Zeit. Noch nie war es so leicht, sich öffentlich zu äußern – und noch nie so gefährlich, es wirklich zu tun. Jeder darf sprechen, aber wehe, er sagt etwas Falsches. Die digitale Öffentlichkeit ist ein Tribunal geworden, vor dem man täglich erscheinen muss, auch ohne Anklage. Es reicht, wahrgenommen zu werden – der Rest erledigt der Mob.

Das Ideal der pluralistischen Gesellschaft wurde ersetzt durch das Ideal der gesäuberten Meinungslage. Und während die einen schweigen, aus Angst vor Reputationsverlust, reden die anderen, ohne je etwas zu sagen. Es ist ein kollektives Rauschen ohne Substanz. Eine Kakophonie der korrekt kalibrierten Unverbindlichkeiten.

Herodot würde sich im Grab umdrehen. Sokrates würde zynisch grinsen und den Schierlingsbecher gleich noch mal nehmen. Und wir? Wir scrollen weiter, liken Statements, die wir nicht verstehen, und blockieren Menschen, die uns beunruhigen. Es ist bequem, es ist ungefährlich – und es ist das Ende des Denkens.

Herr Merz, wie verlogen kann man sein?

Der Heilige Vater ist tot – und Herr Merz verneigt sich vor seinem eigenen Spiegelbild

Der Tod des Papstes ist zweifellos ein Ereignis von weltweiter Tragweite. Menschen aller Nationen zünden Kerzen an, beten, halten inne – und währenddessen schreibt Friedrich Merz einen Nachruf, der klingt, als hätte ChatGPT ihn im Karrieremodus der CDU verfasst. Pathos, Pathos, Amen. „Der Tod von Papst Franziskus erfüllt mich mit großer Trauer.“ Natürlich. Dieselbe Trauer, die man empfindet, wenn man in Umfragen zwei Prozentpunkte verliert. Oder wenn die Steuerreform nicht ganz so „unternehmerfreundlich“ ausfällt, wie es das Herz begehrt.

Merz, der politische Technokrat im Maßanzug, der Kaltherzigkeit zur Tugend stilisiert hat, gedenkt hier einem Mann, der sein Pontifikat der globalen Ungleichheit, der Barmherzigkeit, dem Asylsuchenden und dem Armen gewidmet hat. Der erste Papst, der den Kapitalismus als das benannte, was er ist: ein ausbeuterisches System, das auf Kosten der Schwächsten funktioniert. Und jetzt schreibt eben jener Friedrich Merz, der sich noch nie zu schade war, gegen Sozialleistungen zu poltern und sich öffentlich an der Vorstellung zu erfreuen, dass „wer arbeiten kann, auch arbeiten soll“ – selbst wenn er drei Jobs braucht, um die Miete zu zahlen –, über Franziskus’ „Demut“ und seinen Einsatz für „Gerechtigkeit“. Ja, Herr Merz, wie verlogen kann man eigentlich sein, ohne dass einem die Stirn vor Scheinheiligkeit schmilzt?

Barmherzigkeit als Börsenwert: Wenn fromme Worte wie Aktienkurse steigen

Man kann Herrn Merz viel vorwerfen, aber nicht, dass er nicht weiß, was er tut. Der Mann hat ein politisches Gespür für den Moment, wie ein Börsenmakler für den Fallkurs einer Nation. Seine frommen Worte über Franziskus sind weniger Nachruf als PR-Offensive – eine stille Imagekampagne, wie man sie sonst nur von fragwürdigen DAX-Konzernen kennt, die sich plötzlich zu Diversität bekennen, kurz nachdem ihnen ein Skandal um Kinderarbeit die Bilanz verhagelt hat.

Denn natürlich weiß Merz: Franziskus war beliebt. Nicht bei allen, aber bei vielen. Bei denen, die sich eine Kirche wünschen, die sich nicht in Gold aufwiegt, sondern in Empathie. Bei jenen, die an eine spirituelle Instanz glauben, die mehr ist als die Stimme aus dem Off in einer steueroptimierten Lebensrealität. Und was tut man als Politiker, wenn ein solcher Mann stirbt? Man schreibt ein Kondolenzstatement, das so weichgespült daherkommt, dass selbst ein Weichspülerhersteller auf die Knie fallen würde.

Die Barmherzigkeit Gottes, schreibt Merz. Ein schöner Satz, besonders wenn er aus dem Munde eines Mannes kommt, der in seiner Karriere selten barmherzig, aber immer gnadenlos ökonomisch dachte. Es ist diese kalte Poesie des Zynismus, die den modernen Konservativen auszeichnet: Man feiert die Heiligkeit der Armen, während man ihnen gleichzeitig die Heizkostenbeihilfe streicht.

Franziskus – ein Feindbild auf dem CDU-Parteitag, ein Heiliger in der Presseschau

Man stelle sich vor, Franziskus hätte als Redner auf einem CDU-Parteitag gesprochen. Seine Kritik am Markt, seine Warnungen vor Umweltzerstörung, seine klare Haltung zu Geflüchteten – es wäre das politische Äquivalent eines Flächenbrands gewesen. Man hätte ihn verdächtigt, mit der Linkspartei zu sympathisieren. Spätestens beim Wort „Systemkritik“ hätten ein paar Wirtschaftsflügel-Vertreter nervös zum Notausgang geschielt. Und dennoch: Kaum ist der Mann tot, wird er von Friedrich Merz posthum in den Olymp der moralischen Lichtgestalten gehoben. Da hat sich einer ausgerechnet den Papst als Feigenblatt für sein Wertevakuum ausgesucht.

Denn das ist der neue Trick der politischen Rechten: Sie vereinnahmen alles, was einmal gut war, und drehen es in ihrer Kommunikation so lange durch die Mangel, bis es ihnen selbst als Tugend ausgelegt wird. Man tut so, als hätte man immer schon auf der Seite des Guten gestanden – während man in Wahrheit die ganze Zeit die Aufrüstung des Sozialabbaus forciert hat. Franziskus sprach von der „Globalisierung der Gleichgültigkeit“. Merz ist ihre deutsche Übersetzung.

Heilige Vaterfiguren und vaterlose Politik

Franziskus war – in einem sehr ursprünglichen Sinne – eine Vaterfigur. Nicht, weil er Macht ausübte, sondern weil er Schutz bot. Er sprach für jene, für die sonst niemand spricht. Für Geflüchtete, für Arme, für die Kranken. Für jene, die in der kalten Logik neoliberaler Märkte zu Marginalien reduziert werden. Und was hat Merz aus diesem Vermächtnis gemacht? Ein Tweet. Ein warmes, formelhaftes, inhaltsentkerntes Textgebilde, so glatt, dass selbst ein Kirchenlied darin keinen Halt fände.

Die Ironie könnte nicht größer sein: Ein Mann, der von Gnade spricht, aber keine kennt. Der Demut preist, aber keine lebt. Der für den Tod eines Papstes trauert, den er als Lebenden politisch wohl nie ernst genommen hat. Es ist, als würde Jeff Bezos ein Epos über das Leid der Paketboten schreiben. Als würde ein Waffenlobbyist über die Schönheit des Friedens philosophieren.

Amen heißt: Es ist vorbei. Außer bei Herrn Merz. Da fängt’s gerade an

Das Problem ist nicht, dass Merz dem Papst gedenkt. Das Problem ist, dass er dabei so klingt, als hätte er sich selbst verwechselt mit ihm. Als sei Franziskus ein leuchtendes Vorbild – und nicht der genaue Gegenentwurf zu seiner politischen DNA. Diese Art von Scheinheiligkeit ist kein Einzelfall, sie ist System. Sie ist die Maskerade einer politischen Klasse, die sich Werte auf den Zettel schreibt, während sie gleichzeitig Menschen unter den Bus wirft – sofern dieser wirtschaftlich rentabel fährt.

Franziskus hat der Welt gezeigt, dass Glaube nicht bedeutet, sich hinter Dogmen zu verstecken, sondern sich mitten in das Chaos der Welt zu stellen. Merz hingegen nutzt Glauben als Dekor, als Sprachregelung, als PR-Mantel. Und vielleicht ist das die größte Beleidigung für all jene, die wirklich trauern. Nicht, weil ihr Papst tot ist. Sondern weil sie wissen, dass sein Erbe jetzt von Leuten wie Friedrich Merz ausgeschlachtet wird – als rhetorischer Leichenschmaus im Politikbetrieb.

Möge Franziskus in Frieden ruhen. Und möge seine Botschaft lauter weiterleben als das Echo der Heuchler.

20. April: Deutschland gratuliert – nur anders

Der Geist, der nicht verschwand – er wechselte nur die Rhetorik

Es gibt Daten, die hallen wie ein Echo durch die Jahrhunderte. Der 20. April gehört zweifellos dazu. Der Tag, an dem einst Schüler Spalier standen, Kanonen donnerten und Joseph Goebbels seine letzte Glatze auf Hochglanz rieb. Der Tag, an dem der „Führer“ Geburtstag hatte – und das ganze Land, in blindem Gehorsam und orchestrierter Hysterie, ins Kollektivdelirium taumelte. Vor genau 80 Jahren schrieb der Völkische Beobachter auf Seite eins: „Deutschland steht standhaft und treu zum Führer.“ Und heute?

Heute titelt Die Zeit – seriös, liberal, aufgeräumt – zum selben Datum:
„Ja, ich würde für Deutschland sterben“
Und weiter:
„Wir werden den Frieden in unserem Land nur mit Panzern und Soldaten aufrechterhalten können.“

Man reibt sich die Augen. Nicht wegen des historischen Zitats. Sondern weil man sich fragt, ob man im Redaktionsarchiv versehentlich in der Mappe „April 1945“ statt „April 2025“ blättert. Doch nein: Kein Druckfehler, keine Reenactment-Satire. Es ist ernst gemeint. Und genau das macht es so bemerkenswert – oder beunruhigend. Je nach Gusto.

Vom Wehrdienstverweigerer zum Waffenversteher: Die Umpolung der Empathie

Der Autor des Textes, ein einstiger Wehrdienstverweigerer, Migrantensohn mit Wurzeln dort, wo man deutsche Außenpolitik meist in Form von Tornado-Überflügen erlebt hat, berichtet nun davon, wie sehr sich seine Haltung geändert habe. Heute, sagt er, könne er sich vorstellen, für dieses Land zu sterben. Und man fragt sich: Was ist passiert?

Hat der Patriotismus die Kurve genommen, die früheren Pazifisten in Sturmgepäck verpackt und an die Front der Meinungsmache geschickt? Oder ist es einfach die psychologische Pragmatik der Gegenwart, die jede alte Überzeugung in ein neues Rüstungsnarrativ kleidet?

Die Kolumne trägt jenen Ton, der früher in Jugendzeitschriften für Bewerbungstipps empfohlen wurde: selbstreflektiert, verständnisvoll, integrativ. Nur eben mit Sturmhaube. Es ist das freundliche Gesicht des neuen Militarismus. Er lächelt, er inkludiert, er erklärt. Er hat gelernt, dass man heute nicht mehr brüllt – man podcastet.

Von der Rasse zur Nation zur Rendite: Kontinuitäten im Tarnnetz

Früher war es der „arische Volkskörper“, für den man sterben sollte. Heute ist es die „wehrhafte Demokratie“. Die Verpackung hat sich geändert, das Pathos nicht. Auch damals sprach man vom „Verteidigen unserer Art zu leben“. Auch damals war man überzeugt, dass Frieden nur mit Waffen möglich sei – freilich unter anderen Vorzeichen, aber mit gleich glühender Brust.

Und man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass manche Sprachbilder erstaunlich gut recycelbar sind. Was 1945 der Endsieg war, ist 2025 die „Resilienz der offenen Gesellschaft“. Was einst als Pflicht gegenüber der Rasse galt, gilt nun als Verantwortung gegenüber den Werten. Die Wörter werden humaner, die Absicht bleibt martialisch.

Der Wandel vom völkischen Opfer-Pathos zur diversitätskompatiblen Kriegsbereitschaft ist nicht Ausdruck eines neuen Bewusstseins, sondern eines raffinierteren Marketings. Der Nationalismus trägt heute Fair-Trade-Kleidung und zitiert Hannah Arendt auf Instagram – aber marschiert wieder.

Warum die Panzer heute Gender-Kurse belegen

Wir leben in einer Zeit, in der Panzer pazifistisch lackiert werden, in der Soldaten „kulturell sensibilisiert“ und „diskriminierungsfrei“ ausgebildet werden – und dann in Kriegsgebiete geschickt, um dort mit empathisch kalibrierter Zieloptik Feinde zu „neutralisieren“. Die Bundeswehr als diverse Angriffsarmee: ein politischer Feuilletontraum.

Wenn man für Deutschland stirbt, dann heute bitte intersektional korrekt, mit Respekt vor Genderidentität und kulturellem Hintergrund. Die Uniform ist nicht mehr feldgrau, sondern offen für Vielfalt. Es gibt Regenbogenaufnäher auf dem Marschgepäck und Awareness-Offiziere auf Auslandseinsätzen. Das Töten wird zivilisiert – nicht gestoppt.

Und die ZEIT? Sie liefert die feuilletonistische Absicherung dafür. Eine rhetorische Umarmung für all jene, die sich früher geschämt hätten, solche Sätze zu denken. Heute dürfen sie sie sagen – sofern sie eingerahmt sind von Selbstkritik, biografischem Gewissen und einem sorgfältig gefalteten Pressetext der Bundeswehr.

Der freiwillige Tod – jetzt auch mit Migrationshintergrund

Früher hieß es: „Für Führer, Volk und Vaterland.“ Heute: „Für Demokratie, Europa und Freiheit.“ Doch immer noch geht es um das gleiche: den Tod fürs Kollektiv. Nur dass heute auch Menschen mit Einwanderungsgeschichte mitmachen dürfen. Ein Fortschritt?

Oder ist es nicht vielmehr die Einverleibung des einst Anderen in den militärisch-industriellen Komplex? Die Integration als Mobilmachung? Wo einst die Wehrpflicht durch Verweigerung gebrochen wurde, wird heute die neue Bundesrepublik durch Opferbereitschaft affirmiert – von Menschen, denen man noch vor kurzem das Deutschsein absprach.

Diese paradoxe Umarmung – du bist willkommen, weil du bereit bist zu sterben – ist die zynischste Form der Anerkennung. Sie zeugt nicht von Integration, sondern von Instrumentalisierung. Wer bereit ist, sich im Namen des Staates aufzugeben, hat endlich die höchste Stufe der Staatsbürgerschaft erreicht: die Aufopferung.

Zwischen ZEIT und Zynismus: Wie Reden wieder marschieren lernen

Wenn eine seriöse Wochenzeitung zum Geburtstag Hitlers patriotische Kriegsbereitschaftsbekundungen druckt, dann ist das kein Zufall – es ist Zeitgeist. Es ist nicht der Rückfall in alte Muster, sondern deren geschickte Neuverpackung. Es ist nicht die Wiederkehr des Faschismus, sondern seine subtile Evolution.

Die Zivilgesellschaft applaudiert, solange die Sprache stimmt. Und niemand merkt, dass der Ton wieder anschwillt. Nicht brüllend, nicht polternd – aber gleichwohl marschierend. Ein Takt aus Drohnenrotoren und Etatsteigerungen. Ein Gleichschritt aus Meinungsartikeln und Mobilmachung.

Am Ende fragt man sich: Was hätte Herodot dazu gesagt? Vielleicht hätte er gelächelt, müde und alt. Vielleicht hätte er nur seinen einen Satz wiederholt: „Niemand, der bei Verstand ist, zieht den Krieg dem Frieden vor.“
Und dann hätte er Die Zeit gelesen. Und die Zeitung gefaltet. Und sie ins Feuer geworfen.

Herodot Reloaded

2500 Jahre alte Weisheit auf dem Schrottplatz der Gegenwart

Herodot, dieser antike Mann mit Bart, Federkiel und scharfem Blick für die Dummheit seiner Zeitgenossen, hatte keine Satelliten, keine Drohnen, keine Künstliche Intelligenz zur Verfügung – und dennoch formulierte er eine Wahrheit, die der heutigen Welt wie ein rostiger Spiegel entgegengehalten werden sollte: „Niemand, der bei Verstand ist, zieht den Krieg dem Frieden vor. Im Frieden begraben die Söhne ihre Väter, im Krieg die Väter ihre Söhne.“ Man könnte denken, ein solcher Satz sollte als eiserner Wahlspruch über jeder UNO-Sitzung hängen, in Großbuchstaben in die Wandverkleidung aller Verteidigungsministerien eingraviert sein, vielleicht sogar als Pflichtlektüre für jeden Lobbyisten, der in Brüssel zwischen Tapas und Think-Tank-Veranstaltungen über „sicherheitspolitische Resilienzstrategien“ fabuliert.

Aber nein. Stattdessen wird Herodot heute allenfalls in akademischen Fußnoten erwähnt, in Formaten, die kein Entscheidungsträger liest, weil sie keine Tabellen mit Wachstumsprognosen enthalten. Der Satz ist zu wahr, um nützlich zu sein. Zu menschlich für eine Welt, die Effizienz über Ethik stellt, Skalierbarkeit über Solidarität. Herodots Weisheit landet, wie so vieles, auf dem intellektuellen Schrottplatz – dort, wo auch Idealismus, Aufklärung und der Begriff Menschlichkeit verrosten dürfen, während das nächste Radar-Startup gerade seine Series-C-Finanzierung sichert.

Kapitalismus im Tarnanzug: Die neue Ästhetik des Tötens

Die Gegenwart hat dem Krieg ein neues Gesicht gegeben: glatt, digital, investorenfreundlich. Statt Schlamm und Blut gibt es nun saubere Dashboards, präzise Heatmaps, schnurrende Präsentationen mit animierten Infografiken. Krieg ist kein dreckiges Handwerk mehr – er ist eine Wachstumsstrategie. Und das macht ihn endlich sexy fürs Kapital. Der Rüstungssektor, dieser lange Zeit moralisch umstrittene Sektor, hat sich erfolgreich einer Imagekampagne unterzogen: Vom Panzer zum Pixel, vom Flächenbombardement zur Punktlandung via Drohne.

Konzerne wie Hensoldt führen diese neue Ästhetik des Tötens geradezu meisterlich vor. Früher hieß das Ding „Zielerfassungsmodul“, heute ist es „adaptive Sensortechnologie für sicherheitskritische Einsatzszenarien“. Klingt gleich viel humaner. Fast wie ein medizinisches Gerät. Und ist doch nichts anderes als ein verbessertes Mittel zur exakten Identifikation des nächsten Toten – ein Fortschritt, über den man sich an der Börse freut. Und warum auch nicht? Schließlich geht es um Effizienz, um Performance. Und Performance, das weiß jedes Portfolio, ist unabhängig von Ethik.

Das neue Vater-Sohn-Verhältnis: Investieren, Töten, Vererben

Herodot beklagte das Vater-Sohn-Paradox in Kriegszeiten als menschliche Tragödie. Heute ist es Teil des Geschäftsmodells. In der Moderne hat sich das Verhältnis zwischen Vater und Sohn rationalisiert: Der Vater investiert in den Krieg, der Sohn kämpft ihn. Wenn er überlebt, bekommt er Aktienoptionen. Wenn nicht, bleibt der Ertrag wenigstens steuerlich absetzbar. Die Individualtragödie wurde systemisch integriert.

Während im Frieden Generationen sich gegenseitig Geschichten erzählen, wird im Krieg bloß noch berichtet. In Zahlen. In Quoten. In EBIT. Der Krieg ist nicht mehr die Ausnahme, sondern die optimierte Fortsetzung wirtschaftlicher Interessen mit anderen Mitteln. Herodot hatte Mitleid. Die heutige Zeit hat nur noch Marktlogik. Sie fragt nicht mehr: Wie viele Söhne sterben? Sondern: Wie viele Sensoren konnten wir pro Toten verkaufen? Und vor allem: Wie lange hält der Konflikt – und können wir daraus ein Abo-Modell machen?

Bildung, Pflege, Sozialarbeit? Sorry, wir brauchen Sensorik

Die gesellschaftliche Prioritätenliste ist heute so klar wie zynisch: Wenn’s knallt, wächst der Kurs. Wenn’s heilt, kostet es nur. Wer in dieser Ordnung noch für Krankenhäuser, Schulen oder Sozialarbeiter plädiert, wirkt wie ein Museumsführer in einem Silicon-Valley-Startup. Süß, aber störend. Zukunft ist heute, was man verkaufen kann. Und verkauft wird vor allem das, was knallt.

Sensorik ist das neue Gold. Nicht Empathie, nicht Bildung, nicht Demokratiepädagogik. Sondern Radarsysteme mit Cloud-Anbindung. Denn in einer Welt, in der wir alles messen und analysieren können – warum nicht auch Leben und Tod als variable Kennzahlen? Der Unterschied zwischen einem Lehrer und einem Zielerfassungssystem? Der Lehrer rettet ein Leben in zehn Jahren. Der Sensor entscheidet in einer Sekunde, ob eines gelöscht wird. Und das ist, man muss es leider so sagen, sehr viel effizienter. Vom Standpunkt der Logistik. Vom Standpunkt der Investoren. Vom Standpunkt der Wahnsinnigen.

Herodot als Meme: Antike Weisheit im Zeitalter des Endsiegs 2.0

Was bleibt also von Herodot in dieser Welt? Ein Meme vielleicht. Eine ironische Fußnote in einem TikTok-Video über „die dümmsten Zitate der Antike“, unterlegt mit Techno. Denn Weisheit ohne Absatzmarkt ist heute nichts weiter als sentimentales Dekor. Wenn Herodot heute leben würde, er würde vermutlich als unbezahlter Consultant in einem Think Tank enden, der gerade versucht, den nächsten hybriden Konflikt als „Wettbewerbsarena geopolitischer Narrative“ zu framen.

Oder vielleicht würde er schweigen. Weil er längst verstanden hätte, dass seine Worte nur noch stören. Dass Wahrheit in einer Welt, die sich dem permanenten Alarmzustand verschrieben hat, nicht gefragt ist. Denn dieser Satz – „Im Krieg begraben die Väter ihre Söhne“ – ruiniert jede PowerPoint-Präsentation. Er lässt sich schwer monetarisieren. Und das ist in unserer Zeit ein Todesurteil.

Epilog: Der Verstand hat längst das Feld geräumt

Niemand, der bei Verstand ist, zieht den Krieg dem Frieden vor. Aber was ist, wenn der Verstand längst abgemeldet ist – ersetzt durch Algorithmen, automatisierte Entscheidungsfindung und eine öffentliche Debatte, die lieber „Zeitenwende!“ schreit, als sie zu hinterfragen? Dann ist Herodot kein Mahner mehr, sondern ein Störgeräusch. Ein Fliegenschiss im Getriebe der Kriegsökonomie. Und seine Söhne? Die werden weiter sterben. Planvoll. Strukturiert. Zielgerichtet. Vielleicht auch klimaneutral.

Und die Väter? Sie kaufen Aktien. Zeichnen Anleihen. Und begraben. Mit gutem Gewissen. Denn der Markt hat gesprochen.

Von der Freiheit, sich verkaufen zu müssen

Es gibt Sätze, die brennen sich ein wie ein Markenstempel ins Fleisch einer Epoche – und „Kapitalismus ist verfassungsfeindlich“ ist einer davon. Er ist kein Slogan, kein Sticker auf einer Bio-Bananenkiste vom alternativen Wochenmarkt, sondern eine Diagnose. Ein Schrei unter intellektueller Kontrolle. Sabine Nuss, diese feine Analystin der kapitalistischen Dialektik, hat mit dieser simplen, radikalen Behauptung etwas ausgesprochen, das selbst in progressiven Zirkeln meist nur gedacht, aber selten formuliert wird – aus Angst, man könnte als romantischer Nostalgiker, gescheiterter Kommunarde oder schlichter Unruhestifter gelten. Dabei ist der Satz keine Provokation. Er ist ein Symptom.

Der Kapitalismus ist nicht „nur“ ein Wirtschaftssystem. Er ist ein totalitärer Stil des Lebens, Denken und Empfindens. Eine metaphysische Ordnung, in der die Freiheit zur Ware und das Ich zur Rechnungseinheit wird. Und wenn unsere Verfassung – das Grundgesetz, dieses hochheilige Dokument der bürgerlichen Nachkriegsträume – etwas anderes will, nämlich Würde, Gleichheit, soziale Sicherheit und ein bisschen Glück für alle: Dann, ja dann, steht der Kapitalismus dieser Verfassung im Weg. Nicht durch Putsch, nicht durch Panzer, sondern durch penibel kalkulierte Mieten, durch befristete Verträge, durch optimierte Lieferketten, die am Menschen vorbei funktionieren.

Würde ist das neue Marketing – Über die Umdeutung des Menschen

Artikel 1 des Grundgesetzes behauptet, die Würde des Menschen sei unantastbar. Der Kapitalismus hingegen hält das für ein interessantes Narrativ – aber eben auch nur für das: ein gut funktionierendes Werbekonzept. Denn in der Realität wird diese Würde täglich angetastet, vermessen, monetarisiert und schließlich ins Reporting überführt. Menschen sind keine Zwecke, sie sind Datenpunkte. Keine Träger von Würde, sondern Träger von Klickzahlen. Der Mensch ist nicht mehr Souverän, sondern target group, user, stakeholder, risk factor. Wer heute etwas gelten will, muss gelten machen, was er kostet – und möglichst wenig davon. Die höchste Form der Würde ist heute die Fähigkeit, sich in ein Gantt-Diagramm eintragen zu lassen, ohne als „Kostenfaktor“ zu stören.

Der Kapitalismus schafft es wie kein anderes System, sich als Naturgesetz zu inszenieren. Er ist nicht nur da – er ist unvermeidlich. Eine Art ökonomische Gravitation, ein Schicksal ohne Alternative. Die Verfassung mag von Schutz und Teilhabe sprechen, der Markt hingegen von Verwertbarkeit. Und am Ende gewinnt der, der höhere Renditen verspricht – nicht der, der moralisch recht hat. Das wäre in einem funktionierenden Rechtsstaat problematisch. In einem ökonomisierten, aber demokratisch maskierten Spätkapitalismus ist es der Normalzustand.

Eigentum vor Freiheit – Die heimliche Verfassung des Marktes

Die Verfassung sagt: Eigentum verpflichtet. Der Kapitalismus sagt: Eigentum befreit. Und damit ist eigentlich alles gesagt. Denn während die Verfassung noch von einem Gemeinwohl träumt, von einer Gesellschaft, die füreinander Verantwortung trägt, redet der Kapitalismus nur von Risikoabwälzung. Die Freiheit, Eigentum zu haben, ist die heilige Kuh des Systems – auch wenn es bedeutet, anderen die elementare Existenz zu verweigern. Wer Wohnungen besitzt, muss nicht wohnen. Wer Nahrungsmittel kontrolliert, muss nicht hungern. Und wer über Medien verfügt, muss keine Wahrheit suchen. Die sogenannte Freiheit des Marktes ist eine asymmetrische Waffe – für die einen ein Jetpack, für die anderen ein Gewicht am Fußgelenk.

Und wenn dann wieder einer dieser reich geschminkten Wirtschaftskommentatoren im Fernsehen behauptet, es sei doch „nur fair“, dass Leistung belohnt werde – dann meint er nicht die Pflegekraft, die nachts um drei noch jemandem die Stirn abtupft. Dann meint er den Investmentbanker, der mit einem Federstrich 800 Jobs „effizient transformiert“. Diese neue Form von Freiheit – die Freiheit, ausbeuten zu dürfen, ohne Scham – steht im Widerspruch zu allem, was man aus der Präambel des Grundgesetzes herauslesen könnte. Aber solange man dabei lächelt und die Umsatzrendite stimmt, stört das niemanden.

Demokratie als Dekoration – Wenn das System auf Konsens pfeift

Kapitalismus braucht keine Diktatur. Er braucht Zustimmung. Oder besser: Desinteresse. Solange das Volk noch Netflix hat, Amazon Prime liefert, der Dispo gedeckelt ist und die Urlaubsreise ins Balearen-Prekariat möglich bleibt, wird nicht gefragt, warum Konzernspenden Gesetze schreiben, warum BlackRock mit am Kabinettstisch sitzt oder warum Hartz-IV-Opfer in Talkshows zu Punchingballs stilisiert werden. Demokratie ist zur Kulisse geworden, zum Beipackzettel eines Produktes, das längst ganz woanders zusammengeschraubt wird.

Die Parteien verwalten diesen Konsens. Sie reden von „sozialer Marktwirtschaft“ wie ein Priester von einem Gott, den er seit Jahren nicht mehr gespürt hat. Die Wahlprogramme klingen wie Quartalsberichte, die Debatten wie Budgetbesprechungen. Wer zu radikal fragt, gilt als Querulant. Wer auf die Idee kommt, das System selbst infrage zu stellen, als Extremist. Und doch ist es das System selbst, das mit der Verfassung auf Kriegsfuß steht. Es lässt Menschen in Armut fallen, obwohl genug für alle da wäre. Es verhindert Teilhabe, obwohl sie versprochen ist. Es schürt Konkurrenz, wo Solidarität gebraucht würde. Wenn das nicht verfassungsfeindlich ist – was dann?

Schluss: Ein System stürzt nicht, es läuft aus

Man sollte den Kapitalismus nicht verteufeln. Man sollte ihn durchschauen. Und dann leise aus dem Fenster werfen. Er wird nicht in einem großen Knall verschwinden, keine Revolution wird ihn von heute auf morgen hinwegfegen. Er stirbt leise, durch Widerspruch in sich selbst. Er wird sich eines Tages totoptimiert haben – zu Tode verwaltet, zu Tode gerechnet, zu Tode versichert. Übrig bleiben dann vielleicht Reste: ein Logo, ein TikTok-Account, eine PR-Agentur, die das letzte Image aufrechterhält.

Bis dahin aber wird er weiter unser Leben gestalten – gegen die Verfassung, aber mit staatlicher Subvention. Vielleicht ist Sabine Nuss’ Satz deshalb so wichtig: Weil er nicht nur beschreibt, was ist, sondern was sein dürfte. Und was nicht mehr sein darf.

Pazifismus ist was für Aktionäre mit schlechtem Gewissen

Pazifismus, diese einst heilige Kuh der Nachkriegszeit, vegetiert heute als lactosefreie PR-Geste auf den Nachhaltigkeitsseiten von Fondsgesellschaften vor sich hin. Wer sich heute noch für den Frieden ausspricht, tut dies meist zwischen zwei ESG-Ratings und einer Börsennotiz zu „grünen Anleihen“. Die Welt hat sich weitergedreht – und der Pazifismus blieb wie ein vergilbter Aufkleber auf der Heckscheibe eines Altgolfs zurück: „Make love, not war“. Klingt süß, ist aber schlecht skalierbar. Denn während die Friedensfreunde noch Petition Nummer 27.834 gegen Rüstungsexporte unterschreiben, werden bei Hensoldt bereits die Produktionskapazitäten hochgefahren – effizient, modular, ESG-konform. Krieg, aber bitte mit Umweltzertifikat.

Der neue Aktionär von Welt ist kein Schlächter mit Zigarre, sondern ein digitaler Humanist mit optimiertem Portfolio. Er liebt die Menschenrechte, solange sie nicht zwischen ihm und seiner Rendite stehen. Hensoldt ist für ihn kein Skandal, sondern eine Gelegenheit: Diversifikation für das Gewissen. Pazifismus ist was für Leute, die sich noch an die Montagsdemos erinnern – oder für die Enkel von Helmut Schmidt, die es sich leisten können, politisch zu träumen. Alle anderen investieren. Der Krieg hat seinen Charme zurückgewonnen – nicht in den Talkshows, sondern an der Börse. Und das ist die wahre Zeitenwende.

Warum wir bald unseren Kindern erklären müssen, dass Sensorik wichtiger ist als Sozialarbeit

Stellen wir uns einen Elternabend im Jahr 2032 vor: Die Frage im Raum lautet nicht mehr, ob man ausreichend Förderlehrer bereitstellen könne, sondern ob das Kind sich bereits mit quantenoptimierten Zielalgorithmen auskennt. Pädagogik? Nett. Aber sie generiert keine Echtzeitdaten. Sozialarbeit? Wichtig, aber leider ohne Dual-Use-Potenzial. Die Zukunft gehört den Sensoren – weil sie nicht widersprechen, nicht streiken, nicht nach Tarifverträgen fragen. Sensoren sind die perfekten Untertanen des digitalen Militarismus. Sie tun, was sie sollen: Messen. Melden. Markieren. Und manchmal: Vernichten.

In einer Gesellschaft, in der alles zur Funktion wird, zählt nur, was sich algorithmisieren lässt. Empathie hat keinen API-Endpunkt. Menschlichkeit lässt sich nicht über Bluetooth synchronisieren. Was also tun mit diesen sperrigen Restberufen, die nichts zur Exportbilanz beitragen? Wegschulen, wegsparen, wegargumentieren. Wer heute ein Kind großzieht, muss ihm erklären, dass nicht mehr die Frage „Wie fühle ich mich?“ zählt, sondern „Wie erkenne ich eine feindliche Wärmequelle auf 3,2 Kilometer Entfernung?“. Und während man früher noch Astronaut oder Tierarzt werden wollte, träumt man heute vom Job als Sensorik-Ingenieur im Dienste des Friedens durch Überlegenheit.

Hightech für den Endsieg: Vom Silicon Valley zum Stahlgewitter

Der Endsieg hat einen neuen Anstrich bekommen. Keine schwarzweiß flackernden Wochenschauen mehr, keine aufgekratzten Durchhalteparolen am Volksempfänger. Heute kommt er in 4K-Auflösung mit Business-Pitch und PowerPoint-Deck. Die Kriegstechnologie hat das Camouflage abgelegt und trägt jetzt das freundliche Blau des Cloud-Providers. Sie wird nicht mehr produziert, sondern entwickelt. Sie ist nicht mehr martialisch, sondern modular. Und so schließt sich der Kreis vom Silicon Valley zum Stahlgewitter: Was als disruptiver Start-up-Traum begann, endet als Smartsystem mit Sprengkopf.

Hensoldt, die deutsche Antwort auf Lockheed und Raytheon, hat das Prinzip verstanden: Wer tötet, muss modern bleiben. Und so fließt das Know-how aus der Automobilindustrie, dem Maschinenbau, der Medizintechnik in eine neue Zweckform: das smarte Töten. Autonom. Effizient. Fehlerresistent. Die neuen Kriege brauchen keine Schreie mehr – sie brauchen Datenpakete. Und wer diese liefern kann, der gehört zu den Gewinnern. Denn der Endsieg ist heute kein Triumph mehr über eine Ideologie, sondern über die Unberechenbarkeit des Menschen. Der Gegner wird zur Signatur, zum Pixel, zum pulsierenden Punkt auf dem Screen.

Der Soldat ist tot – es lebe der Sensor.

Demokratie oder Dekorationsobjekt?

Es war einmal ein großes Wort, das versprach, die Tyrannei zu beenden, den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen, das Volk zur Stimme zu machen: Demokratie. Ein wunderschöner Gedanke, glanzvoll wie die Freiheitsstatue im Sonnenuntergang und dabei genauso hohl. Benjamin Franklin, der alte Zausel mit Blitzableiter und scharfem Witz, hat es schon früh auf den Punkt gebracht: Demokratie sei, wenn zwei Wölfe und ein Schaf darüber abstimmen, was es abends zu essen gibt. Man könnte es auch so formulieren: Die Mehrheit entscheidet, was mit der Minderheit geschieht – und nennt es Fortschritt. Heute, im Zeitalter hypermoralisierter Hysterien, wird diese Demokratie wie eine Schaufensterpuppe durch Talkshows gezerrt, kostümiert mit Diversität, Nachhaltigkeit und ganz viel „Wir müssen reden“. Doch niemand redet. Man verkündet. Und wer nicht mitklatscht, wird aus dem Theater geworfen – wegen „fehlender Diskurssensibilität“. Willkommen in der spätbürgerlichen Simulation politischer Teilhabe, wo der Wähler zwar abstimmen darf, aber vorher in einem Meinungs-Bällebad so lange weichgeklopft wird, bis seine Wahl ohnehin irrelevant ist.

Massenmeinung oder Massenwahn? Über das Diktat der Gefühlsethik

Wir leben in einer Ära, in der sich politische Entscheidungen nicht mehr an Fakten, sondern an Befindlichkeiten orientieren. „Ich fühle das anders“ ersetzt „Ich denke das anders“, und wer es wagt, auf empirischer Basis zu argumentieren, bekommt die Fakten als unsensibel um die Ohren geschlagen. Gefühle sind das neue Gold, und jeder ist seine eigene Währung. Die Mehrheit ist dabei nicht mehr die Summe der Vernunft, sondern die Echo-Kammer einer emotionalisierten Medienrealität, in der eine Meinungsäußerung bereits als Angriff gewertet wird, sofern sie nicht vorher mit Wattebäuschen entschärft wurde. Die neue Tugend heißt Mitfühlen – freilich nur mit den Richtigen. Die Falschen, also jene, die aus Versehen noch den Unterschied zwischen „ist“ und „sollte“ kennen, gelten als toxisch, rechts, klimafeindlich oder – der neueste Vorwurf – „epistemisch gewalttätig“. Was früher als kritisches Denken durchging, wird heute als Mikroaggression gelesen. Es ist der alte Wahnsinn in neuem Gewand: Wer gegen das Narrativ argumentiert, wird nicht widerlegt – sondern diagnostiziert.

Wahlen, Wahlkampf und Wahlversprechen – oder: Das Kabarett der Konturlosigkeit

Alle vier Jahre wird die Demokratie ausgeführt wie ein Rentnerhund zum Tag der offenen Tür im Tierheim. Die Parteien werfen mit Worten wie „Zukunft“, „Gerechtigkeit“, „Verantwortung“ um sich, als wären es lose Konfetti aus der Klapperkiste politischer Simulation. Wahlprogramme gleichen längst den Speisekarten eines hippen Bio-Bistros: alles vegan, aber nichts zu essen. Es geht um Bilder, nicht um Begriffe. Wer auf Inhalte hofft, wird enttäuscht – die haben sich hinter Sprechblasen verschanzt, in denen Wörter wie „Transformation“, „Resilienz“ und „Diversität“ ihre Bedeutung längst verloren haben. Es ist ein intellektuelles Feuerwerk aus nassem Zunder. Politiker gleichen mittlerweile Versicherungsvertretern, die einem mit feuchtem Blick das große Ganze erklären – ohne jemals konkret zu werden. Und wehe dem, der fragt, wie man all das bezahlen will. Der wird dann als unsozial bezeichnet. Oder – schlimmer noch – als neoliberaler Technokrat mit einem gefährlich gut funktionierenden Taschenrechner.

Moralismus als Herrschaftsinstrument: Die neue Inquisition trägt Sneakers

Wer heute widerspricht, widersetzt sich nicht einer Idee, sondern einer moralischen Übermacht. Es ist nicht nur falsch, etwas „anderes“ zu denken – es ist böse. Der Diskursraum, früher eine Arena freier Gedanken, ist zum pädagogischen Seminarraum geworden, in dem das richtige Vokabular wichtiger ist als der eigentliche Inhalt. Wörter wie „Normalität“, „Identität“ oder gar „Nation“ sind nicht nur verdächtig, sie sind brandgefährlich – und zwar für die Gefühle derer, die laut genug rufen, sie seien verletzt. Aus Kritik wird Kränkung, aus Kränkung wird Cancel, aus Cancel wird Schweigen. Und das Schaf sitzt wieder am Tisch, nickt zustimmend, während die Wölfe Messer und Gabel zurechtrücken.

Die Ironie: Wer heute Moral predigt, führt keine Ethik – sondern betreibt Machtpolitik mit dem Vorschlaghammer der Empörung. Die Debattenkultur gleicht einem Duell mit Wattepistolen, bei dem jeder Treffer tödlich ist – für den, der getroffen hat. Es ist nicht wichtig, ob etwas gesagt wird, sondern wer es sagt. Haltungsjournalismus ersetzt Analyse, Empörungsalgorithmus ersetzt Nachdenken. Und die Öffentlichkeit, dieses große, vielstimmige Wesen, ist mittlerweile ein Kind mit ADHS, das hysterisch auf jeden Reiz reagiert – aber schon am nächsten Tag nicht mehr weiß, worum es ging.

Der Bürger als Konsument seiner eigenen Irrelevanz

Der heutige Bürger, sofern er nicht längst in Zynismus, Abstinenz oder Alpakazucht geflüchtet ist, wird von der Politik behandelt wie ein mündiger Minderjähriger. Man redet auf ihn ein, nicht mit ihm. Beteiligung ist erlaubt, solange sie vorher in Beteiligungsformate eingebettet wurde, die niemand versteht, aber alle beklatschen. Die neue Partizipation ist eine Chiffre für kontrollierte Mitwirkung. Wie beim Ikea-Regal darf man beim Aufbau helfen – aber nur, wenn man die Anleitung nicht hinterfragt. Und wehe, man äußert Kritik. Dann wird man wahlweise als „populistisch“, „unsolidarisch“ oder „demokratiegefährdend“ diffamiert – denn in einer Welt, in der alles politisch ist, ist jede Abweichung potenziell gefährlich. Die größte Bedrohung für das System ist heute nicht der Extremist – sondern der Zweifler.

Schlusswort mit Zähneknirschen – oder: Wenn die Freiheit freiwillig abgegeben wird

Und so endet unsere kleine Reise durch die satirische Topografie der sogenannten liberalen Demokratie mit einem bitteren Lächeln. Nein, wir leben nicht in einer Diktatur. Das wäre zu einfach. Wir leben in einem Theaterstück, das sich „offene Gesellschaft“ nennt, in dem aber nur noch die Rollen besetzt werden, die dem Stück gefallen. Die anderen dürfen zusehen. Oder draußen bleiben. Demokratie heute heißt: Du darfst alles sagen – solange du damit niemanden triggerst. Du darfst wählen – aber nicht die Falschen. Du darfst denken – aber bitte nichts, was außerhalb des Drehbuchs liegt. Es ist eine schöne Fassade, in der das Volk mitmachen darf. Wie Komparsen in einem Film, dessen Handlung längst von den Produzenten festgelegt wurde.

Und das Schaf? Das Schaf sitzt am Tisch, brav und verständnisvoll. Es nickt, wenn die Wölfe über Nachhaltigkeit sprechen. Es applaudiert, wenn es heißt: „Wir hören alle Stimmen.“ Und es lächelt, als es serviert wird.

Vom Rechtsbruch im Kriegsrat der Zögerlichen

Der deutsche Bundestag, dieser wohlsortierte Debattierclub zwischen moralischer Überkompensation und taktischer Verzagtheit, hat ein neues Kapitel geschrieben im dicken, ledergebundenen Wälzer deutscher Verantwortungsvermeidung: Kapitel 2398, Absatz 7, mit dem Titel „Die Unterlassene Hilfeleistung in Raketenform“. Peter Kiesewetter, einst Offizier, nun Christdemokrat mit aufrechter Stirn und dem Furor eines Staatsanwalts in der Pose des Parlamentariers, formulierte es mit juristisch anmutender Emphase: Die Nichtlieferung der Taurus-Marschflugkörper an die Ukraine sei nichts weniger als ein Verstoß gegen § 323c StGB – unterlassene Hilfeleistung. Ja, Sie haben richtig gelesen: Wer eine Rakete nicht liefert, begeht ein Delikt. Wer Kriegsgerät verweigert, verweigert Menschlichkeit. Eine ethische Raketengleichung, deren Stringenz und juristische Eleganz in etwa dem Satz des Pythagoras auf einem Feldbett gleicht: Wenn zwei Seiten nicht schießen, wird die dritte von den Russen überrollt.

In Kiesewetters Logik, die mit der Präzision eines Taurus durch den nebelverhangenen Moralkanon fliegt, offenbart sich das ganze Elend einer politischen Klasse, die das Zögern zur Doktrin und das Lavieren zur Tugend erhoben hat. Taurus sei nötig, alternativlos, ethisch geboten – kurz: christdemokratisch. Und mit welchem Furor der CDU-Generalstab nun Paragrafen fletscht, da könnte man beinahe glauben, Strauß sei auferstanden, bewaffnet mit der Bibel, dem Grundgesetz und einem Raketenkoffer. Die Bombe als Nächstenliebe, das ist der neue Soundtrack zur Zeitenwende. Kant dreht sich im Grab, aber in NATO-tauglicher Drehzahl.

Die Ethik der Explosiven – Vom moralisch aufgeladenen Sprengkopf

Man könnte meinen, in der deutschen Militärdebatte ginge es noch um Strategie, Sicherheit oder – Gott bewahre – Realpolitik. Doch weit gefehlt: Es geht um Moral. Nicht jene leise, reflektierte, sich selbst hinterfragende Sorte, sondern die plakative Auslageware im Werte-Schaufenster der Berliner Republik. Taurus ist längst kein bloßer Marschflugkörper mehr – er ist zur Projektionsfläche avanciert, zum fliegenden Gewissen Europas. Ein 500 Kilogramm schwerer Sprengkopf als Allegorie auf Mitgefühl. Humanismus mit Zielcomputer, Barmherzigkeit im Bunkerformat. Wer ihn verweigert, verweigert die Menschlichkeit – sagt Kiesewetter, sagt die CDU, sagen inzwischen auch einige Grüne, die in ihrer Wandlung von der Friedensbewegung zur Kriegsbegründung eine beeindruckende politische Flugbahn zurückgelegt haben, ganz ohne Raketentechnologie.

Man stelle sich nur vor: Da sitzt der deutsche Kanzler mit gefurchter Stirn, von Fernsehkameras belagert wie Cäsar vor dem Rubikon, und sagt in staatsmännischem Tonfall, man müsse „verantwortungsvoll prüfen“. Was da geprüft wird, bleibt im Nebel des Kanzleramts verborgen, vielleicht ist es das Drehmoment der öffentlichen Meinung, vielleicht auch nur der Reißverschluss an Pistorius’ Einsatzjacke. In Wahrheit aber ist es die letzte Bastion der deutschen Außenpolitik: die Rhetorik der Verschleppung. Hätte man Taurus früher geliefert, so der implizite Vorwurf, lägen heute weniger Ukrainer unter Trümmern und mehr Russen unter Erde. Es ist die neue Version der alten Frage: Darf man töten, um Leben zu retten? In Deutschland lautet die Antwort traditionell: Nur, wenn ein Arbeitskreis es vorher genehmigt hat.

Sargnägel mit GPS – Warum Präzision keine Skrupel ersetzt

Natürlich, sagen die Befürworter, Taurus ist präzise. Das Wort fällt so häufig in diesen Tagen, man könnte glauben, es handele sich um ein chirurgisches Instrument. Ein Skalpell mit Reichweite. Dabei wird vergessen: Auch ein Skalpell kann töten, wenn es die falsche Hand führt. Und Taurus, dieser vielbeschworene Wunderflügel des Westens, ist eben kein moralisches Subjekt. Er unterscheidet nicht zwischen gerechter Verteidigung und imperialem Gegenschlag, sondern folgt Koordinaten. Und Koordinaten – das weiß jeder, der einmal im GPS-Schatten einer Alpenstraße stand – können irren. Wo also beginnt die Verantwortung? Beim Ziel? Beim Abschuss? Oder bei jenem feinziselierten Satzbau, mit dem man in Talkshows das Wort „Lieferung“ durch „Verantwortungsübernahme“ ersetzt?

In dieser Präzisionsdebatte steckt der ganze Wahnsinn des modernen Krieges: Als ließe sich der Schrecken durch die Genauigkeit seiner Durchführung moralisch entgiften. Man redet von Intelligenz, als säßen im Innern der Rakete Philosophen, die kurz vor dem Einschlag noch über Kant und Clausewitz debattieren. Dabei wäre es ehrlicher zu sagen: Es geht um Wirkung, nicht um Würde. Und so wird der Taurus, einst ein Produkt aus deutscher Ingenieurskunst und britischer Beteiligung, zum postheroischen Sargnagel in einem Konflikt, dessen Ursprünge weit älter sind als der Bundestagsbeschluss von letzter Woche.

Wenn Ministerpräsidenten Völkerrecht jonglieren – Föderalismus als Waffenhändler

Besonders apart wird die Debatte, wenn sich deutsche Ministerpräsidenten zu außenpolitischen Erklärungen berufen fühlen. Man kennt das: Ein Bundesland hat ein Haushaltsloch, der Nahverkehr wankt, die Kitas streiken – aber der Ministerpräsident weiß, was die Ukraine braucht: Taurus. Niemand fragt, was Niedersachsen über Hochgeschwindigkeitsraketen denkt, doch Stephan Weil oder Michael Kretschmer stellen sich trotzdem vors Mikrofon wie einst Churchill – nur halt mit Regionalbahnanschluss. Der Föderalismus, einst Garant demokratischer Vielfalt, ist zum Open-Mic-Abend für geopolitische Laien geworden.

Und während die eigentlichen Entscheider sich in strategischem Schweigen üben, wirft man mit Völkerrechtsfloskeln um sich wie mit Kamellen am Rosenmontag. „Pflicht zur Unterstützung“, „humanitäre Verantwortung“, „Schutz der Freiheit“ – die Begriffe purzeln so zuverlässig wie das nächste Waffenpaket aus Washington. Dass Völkerrecht kein Rüstungsprospekt ist, sondern ein fragiles Netz aus Kodex, Konsens und Kontext, scheint niemanden zu stören. Hauptsache, der moralische Schaum vor dem Mund ist dichter als das Nebelfeld über Donezk.

Im Anfang war das Wort

– und am Ende die Zensur

„Denn sie wissen nicht, was sie tun“ – das hätte man auch als Überschrift über den neuen Koalitionsvertrag setzen können. Doch sie wissen es ganz genau. Wenn CDU/CSU und SPD unisono davon sprechen, man müsse künftig die „bewusste Verbreitung falscher Tatsachenbehauptungen“ unterbinden, dann sollte es einem eiskalt den Rücken hinunterlaufen. Nicht wegen der Worte – die sind weich, wie politischer Beton im Frühstadium –, sondern wegen des Duktus: Bewusst. Falsch. Tatsachen. Behauptungen. Eine gefährliche Mixtur aus Absicht, Moral und Definitionsmacht. Das Böse tarnt sich bekanntlich gern als Notwendigkeit.

Der Sprachphilosoph Ludwig Wittgenstein schrieb: „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.“ Die neue Koalition setzt nun die Grenze der Sprache dort, wo sie beginnt, sich zu befreien. Das Narrativ soll gezähmt, die Abweichung geächtet, die freie Rede in ein Korsett gezwungener Wahrheitsliebe geschnürt werden. Eine Meinungsfreiheit, die sich staatlich lizensieren lassen muss, ist keine. Sie ist die gepfählte Leiche einer einst freien Gesellschaft – geschminkt, dekoriert und unter Aufsicht.

Inquisition Reloaded – mit WLAN und Pressemitteilung

Es hat etwas geradezu Rührendes, wie man sich auf das „staatsferne“ Wirken beruft. Eine Medienaufsicht, der man den Säbel des Gesetzes in die Hand drückt, soll gleichzeitig „staatsfern“ sein – das ist, als wolle man den Henker als neutralen Vermittler im Streit zwischen Kopf und Guillotine vorstellen.

Man erinnert sich: Am 22. Juni 1633 stand Galileo Galilei vor einem Tribunal. Nicht etwa, weil er ein Ketzer war, sondern weil er der Wahrheit zu sehr vertraute. „Und sie dreht sich doch“, soll er gemurmelt haben – in einem Moment, der mehr Wahrheit enthielt als tausend Lehrpläne. Die Kirche, das absolute Wahrheitsmonopol jener Zeit, konnte es sich nicht leisten, Recht zu behalten. Sie musste Recht haben. Der Unterschied ist fatal.

Heute sind es keine Mönche mehr, sondern Faktenchecker, Think-Tanks, NGOs mit Subventionsanschluss, die uns erklären, was die Welt im Innersten zusammenhält. Der moderne Index verbotener Gedanken ist algorithmisch sortiert, nicht in Pergament gebunden. Aber das Prinzip bleibt: Wer anders denkt, denkt gefährlich – und wer gefährlich denkt, soll zum Schweigen gebracht werden.

Der Tod der Aufklärung in mehreren Akten

Der Traum der Aufklärung – jener große, europäische, unvollendete Traum – bestand darin, dass der Mensch sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen bedient. Kant formulierte es in seiner berühmten Schrift „Was ist Aufklärung?“ mit jener schnörkellosen Klarheit, die dem preußischen Geist innewohnte. Heute müsste man hinzufügen: Der Mensch bediene sich seines Verstandes, sofern er durch keine Community-Richtlinien, Faktenfinder oder Plattformregeln daran gehindert wird.

Der Philosoph Voltaire, der über seinen Federkiel mehr Schlagkraft entfaltete als mancher General über seine Kavallerie, schrieb:
„Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst.“
Heute hingegen würde Voltaire gelöscht, gesperrt, entmonetarisiert – oder in die rechte Ecke gestellt. Sein Verbrechen? Prinzipientreue. Seine Schuld? Der Glaube an das Wort.

Doch Worte sind gefährlich. Und sie sind mächtig. Deshalb hat jede Macht ihre Zensoren. Nur nennt man sie heute anders: Content-Moderator. Ethikrat. Taskforce gegen Desinformation. Ein ganzes Orchester der Umerziehung spielt die Symphonie der Konformität, und wer nicht im Takt marschiert, wird zum Störgeräusch erklärt.

Das Recht auf Irrtum als Hochverrat

Was ist Wahrheit? Diese Frage hallt seit Jahrhunderten durch die Hallen der Philosophie, von Pilatus bis Popper. Die neue Bundesregierung scheint sie gelöst zu haben: Wahrheit ist, was der Gesetzgeber für wahr erklärt – im Zweifel nach Beratung durch ein Gremium staatsnaher NGOs. So wird ein Gedanke nicht mehr durch seine innere Konsistenz, durch Widerspruchsfestigkeit oder Empirie zur Wahrheit, sondern durch institutionelle Deklaration.

Doch der Irrtum – jener alte, wertvolle, ungeschliffene Bruder der Wahrheit – darf nicht mehr sein. Das Experimentelle wird strafbar, das Hypothetische suspekt. Eine Gesellschaft, die das Recht auf Irrtum aufgibt, verliert nicht nur ihren Erkenntnisdrang – sie gibt sich selbst auf. Sie wird zu einem Museum toter Ideen, in dem nur noch kuratierte Gedanken gezeigt werden dürfen.

Die Dialektik der Desinformation: Wer bestimmt das Wahre?

Trofim Lyssenko war kein Wissenschaftler, sondern ein Funktionär mit Laborzugang. Seine Theorien über Vererbung passten zur marxistischen Ideologie – also wurden sie zur Wahrheit erklärt. Der brillante Nikolai Wawilow widersprach – und starb im Gefängnis. Die Wahrheit hatte gesiegt, doch sie hatte kein Gesicht mehr. Nur eine Uniform.

Was unterscheidet die Wahrheit von der Lüge? Oft nur der Zeitpunkt, zu dem sie ausgesprochen wird – und der Kontext, in dem sie erlaubt ist. Die Wahrheit ist eine Diva: launisch, verletzlich, aber unverzichtbar. Wenn man ihr aber befiehlt, sich zu benehmen, wie es der Regierung genehm ist, dann wird sie zur Karikatur ihrer selbst. Dann mutiert sie zur „Wahrheitsindustrie“, zur hochoffiziellen Version der Welt – geprüft, zugelassen, aber steril.

Die digitale Guillotine: Wer nicht passt, wird gelöscht

Der Philosoph Michel Foucault sprach vom „Dispositiv der Macht“ – jenen unsichtbaren Mechanismen, die bestimmen, was gesagt werden darf, gedacht werden kann und geglaubt werden muss. Heute liegt dieses Dispositiv nicht mehr im Staatsarchiv, sondern in den Rechenzentren von Google, Meta & Co. Der Staat hat ausgelagert, was einst seine heiligste Pflicht war: den Schutz der Debatte. Stattdessen: Outsourcing an GONGOs. Government-Organized Non-Government Organizations. Ein sprachlicher Treppenwitz aus der Werkstatt der Postdemokratie.

Was bleibt, ist ein strukturelles Misstrauen gegenüber der Öffentlichkeit – das Gegenteil dessen, was eine Demokratie ausmacht. Vertrauen wäre, der Öffentlichkeit zuzutrauen, sich ihre Meinung selbst zu bilden. Misstrauen bedeutet: Jeder Bürger ein potenzieller Lügner. Jede Aussage ein Verdachtsmoment.

Letzter Akt: Applaus vom Tribunal

Am Ende stehen wir vor einem absurden Theater. Die Regierung ruft: „Vertraut uns, wir schützen eure Freiheit!“ Und während sie spricht, bindet sie ihr Publikum an einen Stuhl, knebelt es mit wohlformulierten Paragrafen und nennt es dann „Demokratiepflege“.

Kafka hätte seine helle Freude daran.
Brecht würde ein Theaterstück schreiben, in dem das Volk am Schluss klatscht, weil man ihm erklärt hat, es sei jetzt freier als je zuvor – obwohl es sich nicht mehr bewegen darf.
Und Orwell? Der würde nur nicken, eine Zigarette anzünden und sagen: „Ich hab’s euch doch gesagt.“

Vom Antifaschismus zum Antiformalismus

Die Straße frei den schwarzen Bataillonen. Antifa marschiert, mit ruhig festem Schritt.

Was einmal als aufrechter Widerstand gegen die barbarische Fratze des Faschismus begann, als moralisch zwingende Notwehr gegen jene, die den Menschen entindividualisieren, das Denken gleichschalten und die Demokratie zerstören wollten – ist heute ein groteskes Schauspiel geworden. Ein Trauerspiel in schwarzem Stoff, in dem selbst die Pose des Aufbegehrens zur Uniform geworden ist. Nein, der Antifaschismus lebt nicht mehr. Was heute auf Plätzen und Plattformen den Faschismus beschwört, ist nicht sein Feind, sondern sein kläglich verzerrtes Echo. Der Schatten, der sich für die Sonne hält.

Die Antifa marschiert – ja, tatsächlich marschiert. Mit Trillerpfeifen, Transparenz und Trommeln. Mit „ruhig festem Schritt“, wie es im Kampflied heißt, das so martialisch daherkommt, dass selbst Leni Riefenstahl diskret die Kamera abwenden würde. Da reckt man die Fäuste gen Himmel, als ob dieser schuld wäre, dass man keine Ironie versteht. Und währenddessen wird „gegen rechts“ gekämpft, notfalls gegen alles, was sich nicht bei der Erhebung gegen das Immergleiche in Reih und Glied stellt.

Die Ästhetik des autoritären Widerstands

Man möge sich die Szene vorstellen: Eine schwarze Kolonne zieht durch das Viertel, Kapuzen über den Köpfen, der Ton ritualisiert, die Haltung identisch. Es ist nicht die Idee des Aufbegehrens, die sich hier zeigt, sondern ihr Stil. Ein gefährlicher Stil, weil er das Denken ersetzt. Die Uniformität der Kleidung symbolisiert die Uniformität der Meinung – und wehe, einer trägt eine andere Jacke. Die „Straße frei den schwarzen Bataillonen“ – das war einst die Parole der SA. Heute ist es eine Realität unter anderen Vorzeichen: dieselbe Farbwahl, dieselbe Choreografie, andere Texte, aber ein vergleichbares Pathos.

Was bleibt, ist ein antifaschistischer Ästhetizismus, der seinen Gegner stilistisch nachahmt, um ihn moralisch zu überbieten. Das ist in etwa so widersprüchlich, als würde man zur Verteidigung der Pressefreiheit die Druckereien anzünden. Aber wer im Besitz der höheren Moral ist, braucht keine Logik. Die Wahrheit ist, was einem gefällt. Alles andere ist „rechts“. Ein Etikett mit der Klebekraft eines mittelgroßen Kaugummis unter dem Turnhallenstuhl der Geschichte.

Demokratie als Feindbild, Faschismus als Folklore

Was die neue Antifa bekämpft, ist nicht mehr der Faschismus – der hat sich längst in mausgraue Archive verzogen, in Gedenktafeln und Schulbücher, von wo aus er nur noch in Sonntagsreden aufersteht. Nein, bekämpft wird heute die Ambivalenz. Das Nicht-Eindeutige. Die Meinungsäußerung, die Fragen stellt, statt Parolen zu brüllen. Jeder Zweifel ist ein Verrat. Wer fragt, ist verdächtig. Wer argumentiert, provoziert. Und wer nicht sofort „solidarisch“ ist, wird denunziert – online, öffentlich, mit jener Mischung aus schaumigem Eifer und moralischer Selbstverliebtheit, die früher vor allem in Sekten verbreitet war.

Und während man das Wort „Demokratie“ wie einen Heiligen Gral vor sich herträgt, wird sie im selben Moment stranguliert. Mit Auftrittsverboten, Redeverboten, Denkverboten. Die Bühne gehört den Guten. Und nur wer sich klar zu den Guten zählt, darf mitreden – oder schweigen, aber bitte korrekt. Die Demokratie wird so lange gegen den Faschismus verteidigt, bis keiner mehr zu widersprechen wagt. Und wenn es am Ende gar keine Opposition mehr gibt – dann, so hofft man wohl, ist endlich Frieden.

Antifaschismus als Jugendbewegung mit Alterserscheinungen

Es ist eine bittere Ironie, dass der Antifaschismus der Gegenwart die Frische einer frühvergreisten Jugendbewegung hat. Man will radikal sein – doch radikal wogegen? Die Kapitalismuskritik verkommt zur Aufkleberlyrik auf MacBook-Hüllen. Der Widerstand gegen die Polizei wird bei Instagram dokumentiert – mit Filter. Und das große „Nie wieder!“ hat sich in ein permanentes „Jetzt sofort!“ verwandelt, bei dem keiner mehr weiß, was genau eigentlich verhindert werden soll.

Jene, die heute gegen den Faschismus aufmarschieren, sind oft längst selbst Teil eines autoritären Milieus geworden: intolerant, aggressiv, unfähig zur Selbstkritik. Wer nicht mitmacht, wird gecancelt. Wer nicht klatscht, wird geschnitten. Wer ironisiert, wird zur Gefahr erklärt. Der Antifaschismus von heute ist ein empfindliches Wesen. Es toleriert alles – außer den Widerspruch.

Was bleibt, ist ein Gefühl – und die Pose

Vielleicht ist das das Tragischste: Dass aus der historischen Notwendigkeit ein ästhetisches Hobby geworden ist. Ein Gefühl der moralischen Überlegenheit, gespeist aus historischen Erzählungen, aber nicht mehr gebunden an historische Verantwortung. Die Antifa ist zur Pantomime des Widerstands geworden. Die Bewegung lebt vom Gefühl, auf der richtigen Seite zu stehen – doch jede Bewegung, die sich selbst nicht mehr fragt, wohin sie sich bewegt, endet dort, wo sie nie hinwollte: im Dogma, in der Pose, im Wahn.

Die Straße frei den schwarzen Bataillonen? Nein, danke.
Frei soll die Straße sein – für alle, die den Mut haben, gerade nicht zu marschieren. Sondern zu stehen. Und zu denken.

Epilog: Gegen den Wahnsinn

Wahnsinn ist nicht, wenn Menschen glauben, sie kämpfen für das Richtige. Wahnsinn ist, wenn sie es so lange glauben, dass sie jedes Korrektiv ausschalten. Wenn sie in jeder anderen Sichtweise bereits das Feindbild erkennen. Wenn sie aufhören, zwischen Idee und Person zu unterscheiden. Und wenn sie sich dabei für die letzte Bastion der Vernunft halten – während um sie herum die Gedanken verkümmern, die Sprache erstickt und der Gegner in Wahrheit längst nur noch ein Schatten an der Wand ist.

Wer den Faschismus bekämpfen will, muss zuerst verstehen, was ihn ausmacht. Und sich dann fragen, ob man selbst noch so weit davon entfernt ist, wie man gerne glaubt.

Ein Satz wie ein Flächenbrand

„Ich habe keine Angst vor einem Atomkrieg mit Russland.“ – Friedrich Merz
(CDU, Vorsitzender, Realitätsverlustspezialist im Außendienst)

Es gibt Sätze, die sind nicht einfach nur falsch, nicht bloß peinlich oder töricht. Es gibt Sätze, die sind wie ein faustgroßer Kieselstein, den ein gelangweilter, machtversessener Mensch auf einen zugefrorenen See wirft – in der Hoffnung, dass das Eis hält, während es längst knackt. Friedrich Merz, das politische Fossil mit BWL-Abschluss und emotionaler Bandbreite zwischen Excel-Tabelle und Champagnerflöte, hat es tatsächlich gesagt: Er habe keine Angst vor einem Atomkrieg mit Russland. Man stelle sich das vor. Nicht „Wir müssen alles tun, um eine Eskalation zu verhindern“, nicht „Frieden ist das Gebot der Stunde“ – nein. Keine Angst. Nada. Nüschte. Geradezu verwegen. Fast schon: heldenhaft, wäre da nicht der kleine Umstand, dass es nicht sein Wohnzimmer ist, das verdampfen würde, sondern das von Millionen anderer Menschen, während Herr Merz im Bunker den Cognac dekantiert.

Dieser Satz ist nicht bloß ein politischer Lapsus – er ist ein intellektuelles Armutszeugnis, ein seelischer Offenbarungseid, ein zivilisatorischer Blackout in Designeranzug. Man muss schon sehr weit vom menschlichen Grundempfinden entkernt sein, um eine nukleare Apokalypse so nonchalant zu enttabuisieren wie ein harmloses Börsentief. Vielleicht verwechselt er auch „Mut“ mit „emotionaler Nekrose“, oder „Realismus“ mit dem Wunsch, endlich wieder auf der Weltbühne mitspielen zu dürfen – als ob das 21. Jahrhundert ein Business-Meeting wäre und Putin bloß ein lästiger Mitbewerber.

Geopolitische Brandstiftung für Anfänger

Dass solche Aussagen nicht in einer Telegram-Gruppe voller Wutbürger fallen, sondern ausgerechnet vom Oppositionsführer im Deutschen Bundestag, setzt der intellektuellen Insolvenzkrise die Krone auf. Man kann es nicht oft genug betonen: Wer „keine Angst“ vor einem Atomkrieg hat, der hat entweder keine Ahnung, keine Empathie oder keinen Puls. In jedem Fall aber kein Recht, sich als „verantwortungsvoll“ oder gar „staatsmännisch“ zu gerieren. Es ist die Sprache eines Mannes, der Krieg als Option denkt, als Druckmittel, als mögliche Realität. Und wer so spricht, hat den Kompass verloren – moralisch, historisch, menschlich.

Denn dieser Satz ist nicht nur ein politisches Statement – er ist ein Symptom. Ein Symptom einer Zeit, in der das Säbelrasseln wieder salonfähig wird, in der Aufrüstung nicht mehr diskutiert, sondern gefeiert wird, als wäre der Kalte Krieg ein goldenes Zeitalter gewesen. Merz formuliert, was viele nur zu denken wagen, und das macht es nicht besser – im Gegenteil. Es zeigt, wie dünn der Firnis der Vernunft geworden ist, wie bereitwillig man sich wieder in jene ideologischen Gräben zurückzieht, aus denen uns unsere Großeltern einst herausgeblutet haben.

Die moralische Verwahrlosung im Maßanzug

Es ist ein Stil geworden, eine Attitüde: dieses abgebrühte, coole, vermeintlich „harte“ Sprechen über den Tod von Millionen als wären es logistische Szenarien. Man ist „realistisch“, „nicht naiv“, „bereit, Verantwortung zu übernehmen“ – das alles klingt ganz wunderbar, bis man merkt, dass es sich um Euphemismen handelt für: „Wir sind bereit, eure Kinder zu opfern, solange wir auf CNN noch gut aussehen.“

Diese Rhetorik ist nichts anderes als die verbale Version eines Atomkoffers – mit dem kleinen Unterschied, dass der Knopf nicht gedrückt werden muss, um die Zerstörung zu entfesseln. Die Verrohung beginnt mit dem Wort. Die Bombe fällt zuerst in den Satz. Und ein Satz wie dieser – „Ich habe keine Angst vor einem Atomkrieg“ – ist keine Mutprobe, sondern ein geistiger Kurzschluss im Tarnanzug der Entschlossenheit.

Ein bisschen Hiroshima für den Machterhalt

Die groteske Absurdität des Ganzen offenbart sich besonders im Kontrast zur deutschen Geschichte. Deutschland, das Land des „Nie wieder Krieg!“, das sich einst geschworen hatte, aus zwei Weltkriegen wenigstens eine Lehre zu ziehen. Und nun steht da ein Mann in gut gebügeltem Anzug und redet von Atomkrieg, als handele es sich um ein besonders unangenehmes Wetterphänomen. Es ist, als hätte die Bundesrepublik ihre moralischen Sicherungen durchgebrannt und festgestellt: Ach, so schlimm war der kalte Krieg ja auch nicht – da gab’s wenigstens klare Fronten, klare Feindbilder, klare Parolen.

Und vielleicht ist das der tiefere Wahnsinn in all dem: Die Sehnsucht nach der Einfachheit. Nach dem Schwarz und Weiß. Nach Gut und Böse. Nach einem Feind, der so böse ist, dass man sich selbst nicht mehr reflektieren muss. Und wenn der Preis dafür eine nukleare Eskalation ist – na, dann soll es halt so sein. Solange man im eigenen Podcast cool bleibt.

Die Angst der Vernünftigen und die Angstfreiheit der Wahnsinnigen

Man sagt oft: Angst ist kein guter Ratgeber. Das mag stimmen – aber keine Angst zu haben, wenn die gesamte Menschheit am Abgrund taumelt, ist kein Mut. Es ist Wahnsinn mit PR-Beratung. Es ist der zynische Versuch, Entschlossenheit zu simulieren, wo eigentlich Empathie gefragt wäre. Die Angst der Vernünftigen ist das, was uns bewahrt hat – nicht der Leichtsinn der Machtbesessenen.

Denn wenn wir auf jene hören, die „keine Angst“ haben, landen wir genau dort, wo man keine Angst mehr braucht – weil nichts mehr übrig ist, wovor man sich fürchten könnte.

Und zum Schluss: ein letzter Toast auf die Apokalypse

Vielleicht sitzt Friedrich Merz ja wirklich nachts im Ledersessel, nippt an einem Glas Brandy und denkt: „Endlich! Die Geschichte ruft mich!“ Vielleicht hat er sich in einer Art Theaterstück verloren, in dem er der entschlossene Staatsmann ist, der Geschichte schreibt – mit der Feder der Entschlossenheit und der Tinte der Skrupellosigkeit. Vielleicht glaubt er das alles wirklich. Und das ist das Beängstigendste an der ganzen Geschichte.

Denn ein Zyniker, der weiß, dass er zynisch ist, kann sich noch ändern. Ein Träumer in Anzug und Krawatte, der von atomarer Klarheit schwadroniert – der aber glaubt, er tue das Richtige – ist verloren. Und wir mit ihm.

Also: Prost, Herr Merz. Auf Ihre Angstfreiheit. Möge sie Ihnen nützen – wenn schon nicht uns.

Unangenehme Entscheidungen

Wie wir lernten, das Sozialwesen zu lieben und trotzdem zu entwaffnen

„Wenn man mehr für Verteidigung aufwenden müsse, gehe das zwangsläufig auf Kosten anderer Aufgaben.“
Ein Satz wie ein freundlicher Einbruch. Man entschuldigt sich höflich für das Aufbrechen der Tür, beteuert sein Mitgefühl für das eingeschlagene Fenster und verspricht, die geklauten Wertsachen immerhin klimagerecht entsorgt zu haben. CDU-Politiker Thorsten Frei hat es ausgesprochen. Mit einer Mischung aus der kühlen Selbstverständlichkeit eines Bankiers, der dir erklärt, warum dein Konto nun leer ist, und dem jovialen Lächeln eines Zahnarztes, der dich auf die anstehende Wurzelbehandlung vorbereitet – selbstverständlich ohne Betäubung, wegen der Staatsräson.

Es ist also soweit: Die „schwarze Null“ hat sich in Tarnkleidung geworfen, und wo früher noch das Märchen vom Sozialstaat erzählt wurde, marschiert jetzt das neue Narrativ ein – schwer bewaffnet und unbarmherzig durchkalkuliert. Gesundheit, Pflege, Rente – das alles steht nun nicht mehr unter dem Schutzmantel der Demokratie, sondern unter dem Rotstift der sicherheitspolitischen Nüchternheit. Der Staat will investieren, allerdings nicht mehr in seine Bürger, sondern in ihre Bewaffnung. Nicht in Fürsorge, sondern in Frühwarnsysteme.

Das Bekenntnis zur Wehr – oder: Der Mensch als Kollateralschaden

Was hier passiert, ist keine Haushaltsumschichtung. Es ist ein symbolischer Offenbarungseid mit Waffenschein. Die zukünftige schwarz-rote Koalition – man erinnere sich, diese müde Ehe aus Vernunft, Erschöpfung und gegenseitigem Erpressungspotenzial – hat offenbar beschlossen, dass Panzer nützlicher sind als Pflegekräfte. Dass Soldaten auf dem Papier wichtiger erscheinen als Senioren im Heim. Dass der Schutz der Staatsgrenzen edler ist als der Schutz des eigenen Volkes vor Altersarmut.

Und man sagt es nicht etwa zähneknirschend. Nein. Man sagt es mit staatsmännischer Grandezza, mit dem Brustton der Notwendigkeit. Frei nennt es eine „Umschichtung“. Ein schönes Wort, klingt fast nach ergonomischem Kissenbezug oder einer neuen Feng-Shui-Ordnung im Bundeshaushalt. Gemeint ist jedoch: Die Gesellschaft wird zur Zielscheibe fiskalischer Grausamkeit erklärt – für eine militärische Aufrüstung, die so alternativlos daherkommt wie ein kalter Entzug. Und wehe, man stellt die falschen Fragen.

Von der Sozialen Marktwirtschaft zur Marktwirtschaft ohne Sozialem

Wer geglaubt hatte, dass sich nach der Pandemie, nach der Inflation, nach dem Dauerzustand der kollektiven Überforderung vielleicht eine Art Rückbesinnung auf den Menschen einstellen würde, der hat die Rechnung ohne die neue Wertetabelle gemacht. Die aktuelle Regierung, in der konservative Pragmatiker und sozialdemokratische Pragmatiker einander um die Wette vergessen, was einst ihre Werte waren, hat eine neue Formel gefunden:

Rüstung > Rente. Drohne > Demenz. Militärstandort > Krankenhausstandort.

Man muss sich das vorstellen: Während Pflegekräfte ihre Jobs quittieren, weil sie unterbezahlt, überfordert und gesundheitlich am Ende sind, werden Milliarden in Hightechwaffen gesteckt, die – wenn alles gut läuft – nie benutzt werden und – wenn alles schlecht läuft – auch niemanden mehr brauchen, der gepflegt werden müsste. Das ist effizient. Das ist konsequent. Das ist ein politischer Darwinismus mit europäischer Verbrämung.

Das Wort zum Sonntag

Wie wohltuend ehrlich klingt da doch der Satz: „Da werden auch unangenehme Entscheidungen getroffen werden müssen.“ Ein Satz wie aus der Requisite eines Theaterstücks mit dem Titel „Operation Notstand – Komödie mit tödlichem Ausgang“.
Unangenehme Entscheidungen. Als hätte man sich beim Möbelkauf vergriffen. Als müsste man nun den Hund einschläfern lassen, weil die Couchbezüge nicht mehr zum Teppich passen. Diese entmenschlichte Formulierung, dieses „Sachzwangsprech“, ist das neue Vokabular der Empathieabschaffung.

Man wird sparen. Nicht bei Dienstwagen. Nicht bei Beraterverträgen. Nicht bei EU-Direktiven mit dreifacher Förderlogik. Sondern beim Überlebensnotwendigsten: bei der physischen und psychischen Grundversorgung der Bevölkerung.
Denn was ist ein Mensch, wenn er nicht zur Wirtschaftskraft beiträgt, wenn er nicht verteidigungsrelevant ist, wenn er alt, krank, gebrechlich ist? Ein Kassenposten. Ein Kostenfaktor. Ein Kollateralschaden im geopolitischen Planspiel.

Der Sozialstaat als freiwillige Leistung – wie früher das Sonntagsläuten

Früher, in der Nachkriegszeit, war der Sozialstaat das Versprechen, das aus Trümmern geboren wurde: Nie wieder sollte Not den Menschen seiner Würde berauben. Heute ist dieses Versprechen zum optionalen Feature geworden. Der Sozialstaat ist kein Grundpfeiler mehr, sondern eine Art Budget-Luxus – vorhanden, wenn es gerade passt. Abwesend, wenn Rüstungsexporte winken oder NATO-Vorgaben zwingen.

Ironischerweise verteidigt man jetzt also die westlichen Werte – indem man sie demontiert. Man möchte die Demokratie schützen – durch die Entkernung ihrer sozialen Fundamente. Es ist, als würde man ein Haus gegen Einbrecher sichern, indem man die Bewohner hinauswirft und die Fenster zumauert.

Schlusspunkt: Eine Faust aufs Auge, getarnt als Handschlag

Man darf sich also nicht wundern, wenn der Bürger sich langsam fragt, wer hier eigentlich noch für wen da ist. Ob der Staat noch für den Menschen da ist – oder ob der Mensch nur noch das zu verwaltende Biomaterial eines sicherheitspolitischen Kostenplans darstellt. Wir investieren also in Panzer, aber kürzen bei Prothesen. Wir fördern Raketen, aber sparen bei Rheumamitteln. Wir rüsten uns gegen Bedrohungen von außen – und lassen die Bedrohung von innen, die soziale Spaltung, gewähren.

Das ist nicht nur zynisch. Das ist nicht nur verrückt.
Das ist: der ganz normale Wahnsinn einer Politik, die den Preis für Sicherheit ausgerechnet von jenen eintreiben will, die nichts mehr übrig haben – außer vielleicht dem Glauben, dass es irgendwann wieder um Menschen gehen könnte.

Doch wer diesen Glauben hat, der ist entweder naiv – oder schon lange nicht mehr CDU-Wähler. Vielleicht ist er noch Patient. Oder Rentner. Oder Pflegebedürftiger.
Also: überflüssig im neuen Bundeshaushalt. Und damit perfekt geeignet, um geopolitisch ausgeglichen zu werden.