Die Revolution als Dauerware im Ramschregal der Geschichte

Man kann es drehen und wenden, wie man will: Die Französische Revolution war das große Versprechen, das niemals eingelöst wurde. Ein epochales Spektakel, dessen dramatische Höhepunkte—Blut, Pathos, und guillotiniertes Elitenfleisch—bis heute als Folklore missbraucht werden. In den Schulbüchern glänzen Robespierre und Danton wie Wachsstatuen, während sich die Nachgeborenen zwischen dem Supermarktregal der Globalisierung und den TikTok-Tutorials zur Selbstoptimierung fragen dürfen, was aus „Liberté, Égalité, Fraternité“ geworden ist. Die Antwort ist so ernüchternd wie ein abgestandener Bordeaux: Die Parole hat überlebt, die Substanz ist verrottet.

Wir leben im Zeitalter des revolutionsästhetischen Tourismus. Alles ist Zitat, nichts ist Konsequenz. Das Bastille-Gedenken verkommt zum Historiensouvenir, Gleichheit wird bei IKEA verkauft (jeder darf den gleichen Tisch kaufen, wenn er das gleiche Geld hat), Freiheit ist ein Datenschutz-Popup, das man wegklicken muss, um überhaupt mitspielen zu dürfen, und Brüderlichkeit—nun ja, die ist zwischen Fake-News und Shitstorm längst von der Bühne getreten, erschlagen vom algorithmisch kuratierten Neid.

Von der Guillotine zur Cloud: Der Fortschritt als Placebo

Man spricht heute gerne von Fortschritt, als wäre das eine naturgesetzliche Bewegung Richtung Licht. Doch der Fortschritt ist bloß der dekorierte Fahrstuhl im globalen Konsumkaufhaus. Er fährt hoch und runter, aber immer im selben Gebäude. Die Guillotine, jenes emblembeladene Endgerät der Französischen Revolution, hat man durch digitale Mittel ersetzt. Heute wird nicht mehr der Kopf abgetrennt, sondern der Charakter dekonstruiert—öffentlich, in Echtzeit und mit Likes versehen. Das Urteil fällt nicht mehr der Wohlfahrtsausschuss, sondern der Twitter-Mob.

Wer glaubt, die Freiheit von 1789 sei mit der Meinungsfreiheit von 2025 vergleichbar, möge kurz innehalten. Ja, jeder darf heute alles sagen—solange es niemanden stört, keinen Algorithmus triggert und keinem Werbekunden missfällt. Der Markt reguliert, der Konzern zensiert, der Nutzer applaudiert. Freiheit ist heute die Wahl zwischen iPhone-Modellen und Streaming-Diensten. In Paris stürmte man 1789 die Bastille, heute stürmt man Rabattaktionen.

Gleichheit: Eine schöne Idee, die an der Paywall scheitert

Gleichheit, dieser hohle Zahn im Gebiss der Demokratie, hat es schwer im Zeitalter der Monetarisierung. Der Kapitalismus hat aus der Gleichheit eine Dienstleistung gemacht: Wer genug zahlt, ist gleichberechtigt. Der Rest schaut Netflix mit Werbung. Bildung ist formell für alle da, aber faktisch für jene, die sich den Privatunterricht leisten können. Gesundheitsversorgung? Natürlich gleich für alle—mit Terminvergabe in anderthalb Jahren, es sei denn, man bucht den Premium-Tarif.

Die sogenannte Chancengleichheit ist das Disneyland der politischen Rhetorik. Alle dürfen Lotto spielen, aber nur wenige gewinnen. Es ist eine Gleichheit der Kulisse, nicht der Substanz. Wir posieren auf Instagram unter Gleichheitsparolen, während die globale Vermögensverteilung an die Zeiten des Sonnenkönigs erinnert. Versailles lebt—nur diesmal im Silicon Valley.

Brüderlichkeit: Ein Anachronismus im Zeitalter des Selfies

Ach, die Brüderlichkeit. Was war das noch gleich? Die warmherzige Solidarität unter Gleichen? Das kollektive Schulterklopfen im Kampf gegen die Willkür? Heute ist Brüderlichkeit ein Businessmodell der Coaching-Industrie: „Gemeinsam stark“ gegen Burnout, aber bitte mit Abo-Modell. In den Kommentarspalten herrscht Bürgerkrieg, im echten Leben der digitale Narzissmus. Der Mitmensch wird verwaltet, bewertet, blockiert.

Es gibt keine Brüderlichkeit mehr, sondern nur noch Netzwerkpflege. Kontakte sind Kapital, Freundschaften sind Clickrates, Hilfsbereitschaft ist PR. Wer wirklich noch altruistisch handelt, wird verdächtigt, einen Hintergedanken zu haben. Wir leben in einer Zeit, in der die Tugend des Teilens durch die Cloud ersetzt wurde.

Revolution reloaded: Der Zynismus als letzte Zuflucht

Die Frage, was von der Französischen Revolution geblieben ist, lässt sich also schnell beantworten: der Satz auf der Münze, das Zitat in der Talkshow, die kitschige Bastille-Doku im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Der Rest wurde auf dem Marktplatz der Beliebigkeit verramscht.

Die Demokratie? Funktioniert, solange die richtigen Leute gewinnen. Die Freiheit? Ein Konsumprodukt. Die Gleichheit? Ein PR-Gag. Die Brüderlichkeit? Ein Meme.

Und doch ist es nicht nur traurig, sondern auch komisch—denn der Mensch hat es offenbar geschafft, das heroischste Kapitel seiner Geschichte in eine absurde Farce zu verwandeln. Der Fortschritt ist eine Slapstick-Komödie, in der der Freiheitskämpfer von damals heute mit dem Influencer kollidiert.

Was bleibt, ist der Zynismus. Nicht als Resignation, sondern als Überlebensstrategie. Wer heute noch von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit redet, muss es mit Augenzwinkern tun—sonst wird er verrückt. Oder Präsident.


Epilog: Die Revolution frisst ihre Kinder – und bestellt dann Sushi

Am Ende hat die Revolution nicht nur ihre Kinder gefressen, sondern auch deren Nachfahren, die mit veganem Sushi und Bubble Tea vor den Bildschirmen sitzen und denken, Geschichte sei etwas, das anderen passiert.

Vielleicht ist das der wahre Triumph der Moderne: Nicht der Sieg der Freiheit, sondern der Triumph der Bequemlichkeit. Niemand will mehr Barrikaden bauen, wenn man auch Serien streamen kann.

Die Bastille ist gefallen, das WLAN steht. Und das ist, bei Lichte besehen, auch eine Form von Brüderlichkeit: Wir sind alle gemeinsam Gefangene im goldenen Käfig des Komforts.

Wohl bekomm’s.

Patriotismus aus der Portokasse

oder wenn der Waffenhändler den Heiligenschein aufsetzt

Es gibt Momente in der Weltgeschichte, in denen man innehält, um den Lauf der Dinge zu bestaunen, als sei man ein Tourist im Museum des Absurden. Der neueste dieser Momente trägt ein Toupet, einen roten Schlips und eine goldene Selbstgerechtigkeit, die schwerer wiegt als jeder Atomkoffer. Donald J. Trump, der ehemalige, gegenwärtige und vielleicht künftige Reality-Show-Präsident der Vereinigten Staaten, hat also angekündigt, der Ukraine Patriot-Luftabwehrsysteme zu liefern.
„Wir werden ihnen Patriots schicken, die sie dringend brauchen“, sagte er, während er wahrscheinlich mit der anderen Hand versuchte, seinen Golf-Handschuh über die Twitter-App zu ziehen. Und dann, mit jenem typischen Lippenkräuseln, das irgendwo zwischen Selbstparodie und drohender Sonnenfinsternis angesiedelt ist, fügte er hinzu: „Die EU zahlt dafür. Wir zahlen nichts, aber wir werden liefern.“

Man muss diese Worte auf der Zunge zergehen lassen wie einen Whiskey, den man eigentlich nicht trinken sollte, weil man weiß, dass er gepanscht ist. Doch der Schluck lohnt sich, denn die bittere Note ist Programm: Hier spricht kein Präsident, hier spricht der Chef eines Pfandleihhauses für Weltpolitik, der lachend die Registrierkasse bedient, während er humanitäre Werte als Sonderposten auf den Wühltisch wirft.
Die Szene hat etwas von einem makabren Jahrmarkt. Der Krieg als Marktplatz, das Leid als Lieferkette, die Rakete als Rabattaktion.

Der Kaufmann im Weißen Haus – Waffenhandel als Charity-Event

„Wir liefern, ihr zahlt.“ So einfach kann Geopolitik sein, wenn man sie auf die primitive Grundformel des Trumpismus reduziert. Es ist die Trump-Doktrin in ihrer reinsten Destillation: maximale Show, minimale Verantwortung, der moralische Zeigefinger stets nach außen, während die eigene Tasche ausgeleert wird – natürlich nur in Richtung eigener Offshore-Konten.
Man stelle sich vor, die USA wären eine Tankstelle, Trump der Kassierer, und die Europäische Union die übermüdete Autofahrerin, die verzweifelt fragt, ob man auch mit PayPal zahlen kann.
„Klar“, sagt Trump und wirft ihr den Zapfhahn an den Kopf. „Aber den Sprit nehmen SIE mit.“

Patriot-Luftabwehrsysteme sind keine Bonbons, keine Werbegeschenke und schon gar kein Symbol für selbstlose Solidarität. Sie sind tödliche Hightech-Maschinen, geboren aus dem Schweiß der Rüstungsindustrie, gemästet durch jahrzehntelangen Lobbyismus und politische Schachzüge, die so kompliziert sind, dass selbst Schachcomputer in Tränen ausbrechen würden.
Dass Trump diese Systeme wie Weihnachtsplätzchen verteilt, während er gleichzeitig betont, dass die USA „nichts zahlen“, ist nicht nur ein rhetorisches Kabinettstück, sondern ein offenes Fenster in die verdorrte Seele des spätkapitalistischen Nationalismus. Es ist die Umarmung der Gier, mit einem Lächeln so breit wie ein texanischer Highway.

Europa, der ewige Zahlmeister – oder: Der Hofnarr zahlt die Zeche

Dass die Europäische Union in Trumps Narrativ die Rolle des willfährigen Zahlmeisters übernimmt, ist natürlich kein Zufall, sondern Strategie. Europa soll zahlen, weil Europa immer zahlt. Es ist die Tante, die auf Familienfeiern den Scheck zückt, damit Onkel Donald noch einen dritten Hummer bestellen kann, während er ihr gleichzeitig erklärt, warum sie eigentlich selbst schuld an allem ist.

Die EU – das ist in Trumps Weltbild eine Art humanitärer Geldautomat mit Schluckauf, der sich nicht wehren kann.
„Ihr zahlt, wir liefern“, das klingt in seinen Ohren wie „Ihr seid die dummen Gutmenschen, wir die cleveren Business-Genies.“
Es ist der klassische Trickbetrug der internationalen Politik, serviert mit der Chuzpe eines New Yorker Immobilienhais, der gerade einem Obdachlosen einen Parkplatz vermietet hat.

Waffen als Friedensbotschafter – Willkommen in der Zynismus-Zone

Natürlich kann man argumentieren – und man wird es tun –, dass die Ukraine diese Patriots tatsächlich dringend braucht. Russland bombardiert, was das Zeug hält, und es ist kein Geheimnis, dass ein funktionierendes Luftabwehrsystem den Unterschied machen kann zwischen Überleben und Zerbombtwerden.
Doch Trump geht es nicht um die Ukraine. Es geht ihm nie um irgendjemanden außer sich selbst. Es geht nicht um Demokratie, Freiheit oder den Schutz von Zivilisten. Es geht um Schlagzeilen, um Macht, um Deals.

Das Patriot-System wird also zur PR-Kampagne, zur Bühne für einen Zynismus, der so dick aufgetragen ist, dass selbst Machiavelli einen Allergieschock bekäme.
Trump verkauft Waffen als Friedensbotschafter – das ist ungefähr so glaubwürdig, wie wenn ein Pyromane Rauchmelder verschenkt.
Er schickt Raketen mit der Großzügigkeit eines Gastgebers, der seine Gäste mit vergifteten Pralinen bewirtet, während er sagt: „Seht her, ich teile doch!“

Die Moral von der Geschichte? Es gibt keine

Was bleibt, ist ein schaler Nachgeschmack und die Erkenntnis, dass die Weltpolitik endgültig zur Reality-Show geworden ist. Trump ist ihr Produzent, Hauptdarsteller und Conférencier in Personalunion. Der Krieg wird zur Kulisse, der Tod zum Requisit, und wer nicht mitspielt, der wird aus dem Skript gestrichen.

Patriot-Raketen für die Ukraine? Sicher. Warum nicht gleich noch ein paar Tomahawks als Dessert? Hauptsache, jemand anderes bezahlt die Rechnung. Die EU macht das schon. Die Europäer zahlen gern für den Schein des Friedens, den man ihnen mit einer Hand verkauft, während man ihnen mit der anderen den Geldbeutel aus der Tasche zieht.

Trump weiß das. Und er lacht.
Vielleicht, weil er längst verstanden hat, dass es in dieser Welt nicht mehr um Recht oder Unrecht geht, sondern nur noch um die richtige Inszenierung.

Oder, um es mit seinen eigenen Worten zu sagen:
„We deliver. You pay.“

Ein besseres Fazit wird es nicht geben.

Der Brüsseler Kreml

oder: Wie Europa lernte, die UdSSR neu zu erfinden

Von der roten Fahne zum blauen Sternenbanner

Es gehört zu den reizvolleren Absurditäten der Gegenwart, dass der gemeine Europäer, im feinen Zwirn und mit dem immergleichen staatsmännischen Gesichtsausdruck versehen, felsenfest davon überzeugt ist, innerhalb eines demokratischen Rahmens zu leben, der dem griechischen Ideal von „demos“ und „kratos“ gerecht wird. Dass es sich dabei um eine jener Selbsttäuschungen handelt, die Menschen seit jeher pflegen – ähnlich der Überzeugung, dass glutenfreie Kekse sündlos seien oder Politiker aus Überzeugung handeln –, wird tunlichst übersehen.
Die Europäische Union hat, wenn man das Schaubild etwas genauer betrachtet, mehr mit der Sowjetunion gemein, als es den feingeistigen Bürokraten lieb sein dürfte. Nur dass der Brüsseler Apparat auf Hochglanz polierte PowerPoint-Präsentationen statt fünfjähriger Produktionspläne an die Wand wirft. Der Unterschied ist kosmetischer Natur, das Prinzip bleibt gleich: Von oben regiert es sich bequemer.

Die demokratische Attrappe

Die Sowjetunion behauptete dereinst, eine Demokratie zu sein. Sie hatte ein Parlament, den Obersten Sowjet. Ein gewähltes Organ – zumindest auf dem Papier, und das Papier war ja bekanntlich geduldig. Der Wähler durfte brav sein Kreuzchen setzen, allerdings nur zwischen Kandidaten der Einheitspartei, die alle das gleiche sagten, nur in leicht unterschiedlichen Tonlagen: mal bassig, mal schrill, mal mit Leninstirn, mal mit Breschnewbraue.
Der Witz dabei war, dass das Parlament selbst keinerlei legislative Macht hatte. Das echte Drehbuch wurde vom Politbüro geschrieben, einer kleinen, elitären Kadergruppe, die nie ein Wähler auch nur aus der Ferne zu Gesicht bekam. Wer dort saß, war nicht Ergebnis demokratischer Willensbildung, sondern das Resultat von Netzwerken, Seilschaften und inoffiziellen Absprachen hinter geschlossenen Türen. Wer regierte, war nicht gewählt – wer gewählt wurde, regierte nicht. Das war das sowjetische Perpetuum mobile der Macht.

Schwenk nach Brüssel: Die Europäische Union besitzt ein Parlament. Es heißt tatsächlich so: Europäisches Parlament. Es darf debattieren, manchmal auch wütend sein. Es darf sogar den Begriff „demokratische Werte“ in den Raum werfen – allerdings vorzugsweise dann, wenn es um Osteuropa geht, nicht um die EU selbst. Doch das Entscheidende ist: Das Parlament hat kein Initiativrecht. Gesetze schreibt nicht der Bürgervertreter, sondern die Europäische Kommission – ein Apparat aus Kommissaren, deren Namen der Durchschnittseuropäer ungefähr so häufig googelt wie die Bedienungsanleitung seines Routers.
Das Initiativmonopol der Kommission ist der Brüsseler Bruder des sowjetischen Politbüros. Auch hier gilt: Wer regiert, ist nicht gewählt. Und wer gewählt ist, darf an der Regierung freundlich vorbei winken.

Der Kommissar ist immer der Sieger

Das Wort „Kommissar“ war schon in der Sowjetunion kein harmloser Begriff. Der Volkskommissar war zuständig für Versorgung, Zensur oder Erschießung – je nachdem, in welchem Ressort er gerade diente. Heute heißen sie Agrarkommissar, Binnenmarktkommissarin oder Vizepräsident für Werte und Transparenz. Das klingt harmloser, ist es aber nicht unbedingt.
Denn wie in der Sowjetunion entscheiden auch die EU-Kommissare nicht aufgrund demokratischen Auftrags, sondern weil sie von ihren Regierungen nominiert werden – mit anderen Worten: Sie verdanken ihren Job keiner Volkswahl, sondern einem Hütchenspiel zwischen Nationalstaaten, bei dem politische Restposten verwertet werden. Wer zuhause gescheitert ist, wird nach Brüssel abgeschoben und darf dort auf Lebenszeit die transnationale Welt erklären.

Kommissare sind praktisch. Sie dürfen das tun, was in den nationalen Parlamenten zu unpopulär wäre: den Bürger umerziehen, das Thermostat runterregeln, die Gurkenkrümmung messen und neue Etiketten vorschreiben, auf denen dem Konsumenten mitgeteilt wird, dass Zucker dick macht. Dasselbe Prinzip wie früher, nur eben in Business-Englisch statt auf Russisch.

Die Akteure sind austauschbar – das System bleibt

Es gibt einen feinen Unterschied zwischen Demokratie und demokratischer Rhetorik. Letztere wird inflationär gebraucht, wenn man ersteres ersetzen will. Die Sowjetunion war Weltmeister darin. Auch die EU kann sich in dieser Disziplin durchaus sehen lassen. Wo früher in Moskau von „sozialistischer Demokratie“ die Rede war, sprechen die Brüsseler Beamten heute vom „demokratischen Defizit“ – als wäre es ein kleiner Rechenfehler, der mit etwas Feinjustierung zu beheben sei. Dabei ist es System.

Der durchschnittliche Europäer ist zur politischen Staffage degradiert worden, zur Zuschauerfigur in einem Stück, dessen Drehbuch längst geschrieben ist. Die Wahlbeteiligungen sinken, die Verdrossenheit steigt – das ist kein Zufall, sondern Kollateralschaden einer Struktur, die Mitbestimmung vorspielt, um sie zu verhindern.
Es geht nicht darum, den Bürger zu fragen, sondern darum, ihn zu beschäftigen. Brot und Spiele. Nur dass die Spiele jetzt „Bürgerdialoge“ heißen und das Brot als nachhaltiges Quinoa-Baguette gereicht wird.

Vom Staatsversagen zur Planwirtschaft 2.0

Es ist bemerkenswert, dass die EU mit derselben Hybris operiert, die auch die sowjetische Führung ausgezeichnet hat. Immer neue Regulierungen, immer neue Standards, immer mehr Zentralisierung. Es wird geplant, gelenkt, gesteuert. Da wird der Energiemarkt neu erfunden, der Landwirt umerzogen, der Verbraucher normiert. Das alles mit einer glühenden Inbrunst, als habe man aus der Geschichte vor allem eines gelernt: nichts.

Die Sowjetunion wollte den „neuen Menschen“ schaffen, der sich selbstlos in den Dienst der sozialistischen Idee stellt. Die EU möchte den „klimaneutralen Bürger“, der sich freudig seiner Gasheizung entledigt, sein Steak durch Insekten ersetzt und beim Gendern ins Schwärmen gerät. Beides sind Versuche, mit der Brechstange die Gesellschaft umzubauen. Und beide blenden systematisch aus, dass Menschen nun mal Menschen bleiben – mit all ihren Schwächen, Widersprüchen und Eigenheiten. Der zentrale Unterschied? In der EU gibt es dafür Marketingagenturen und Beraterhonorare, in der UdSSR gab es den Gulag.

Fazit: Ein sozialistisches Europa mit Sternchen

Natürlich ist die EU keine Kopie der Sowjetunion. Sie schickt keine Dissidenten nach Sibirien, sondern in Talkshows. Ihre Bürokraten tragen keine KGB-Uniformen, sondern Slim-Fit-Anzüge von Hugo Boss. Doch die strukturellen Ähnlichkeiten sind frappierend: ein Parlament ohne Gesetzesinitiative, ein Kommissariat ohne demokratische Legitimation, ein System, das sich selbst als alternativlos erklärt.
Und während der Bürger noch brav zur Wahlurne trottet, wird der eigentliche Kurs längst in den Fluren der Kommission bestimmt, hinter Türen, auf die niemand ohne Hausausweis klopfen darf. So wird aus der Union der europäischen Völker eine Union der Kommissare – ein sanft lächelnder Verwaltungssozialismus mit freundlichem Gesicht und festgezurrtem Narrativ.

Vielleicht werden spätere Generationen einmal in den Geschichtsbüchern lesen:
Die Sowjetunion ist an ihren Dogmen gescheitert.
Die Europäische Union hat es besser gemacht. Sie scheitert mit Stil.

WIR LEBEN IN EINER HALLUZINATION

Die Realität ist ein Gerücht

Es gibt Dinge, die der Mensch wissen könnte, wenn er wollte. Er tut es aber nicht, weil das Hirn bekanntlich vor allem eins hasst: Kognitive Unordnung. Wer einmal gelernt hat, dass der Himmel blau ist, wird auch bei Dämmerung noch Blau vermuten – obwohl der Himmel in Wahrheit zu diesem Zeitpunkt längst ein apokalyptisches Gemisch aus Violett, Graugrün und Postkartenlüge geworden ist. Der Mensch sieht eben nicht, was ist. Er sieht, was sein neuronales Betriebssystem vorgeladen hat. So wie ein Smartphone, das alte Tabs aus dem RAM nachlädt und dann behauptet, das sei die Gegenwart.

Im Jahr 1980 führten Forscher an der Dartmouth University ein Experiment durch, das – wären wir eine reflektierende Spezies – spätestens da den Weltfrieden hätte auslösen müssen. Stattdessen löste es: Nichts aus. Weil wir lieber weiter schlafen.

Man schminkte den Probanden eine Narbe ins Gesicht, ließ sie diese im Spiegel betrachten – und entfernte sie dann heimlich wieder, bevor sie unter Menschen geschickt wurden. Der Rest ist eine bittere Pointe auf zwei Beinen: Die Teilnehmer kehrten zurück und berichteten, wie schlimm sie behandelt worden seien. Abweisend seien die anderen gewesen. Mitleidig. Man hätte sie gemustert wie ein billiges Kuriositätenkabinett.

Aber da war nichts mehr im Gesicht. Nur im Kopf. Und da sitzt bekanntlich die eigentliche Welt.

Die selbstfahrende Wahrnehmungskarre

Das menschliche Gehirn, so erklärt uns die moderne Neurobiologie, ist nicht dazu da, die Wahrheit zu erkennen. Es ist ein Vorhersageapparat. Ein Generator für möglichst effiziente Halluzinationen, die sich mit der Vergangenheit decken. Alles, was wir sehen, hören, fühlen und glauben, ist der Versuch unseres Nervensystems, aus dem Chaos der Sinneseindrücke ein halbwegs konsistentes Bild zusammenzukleben. Ein Bild, das sich nicht mit der Welt synchronisieren muss, sondern mit der eigenen Story.

Der Begriff dafür ist: Kontrollierte Halluzination.
Die Betonung liegt auf „kontrolliert“. Solange sich genug Menschen über die Halluzinationen einig sind, nennt man es Realität. Wenn man sich uneinig ist, nennt man es Kulturkampf.

Diskriminierung: Realität oder Rollenspiel?

Natürlich kann man nun fragen, ob das auch für Diskriminierung gilt. Und die Antwort ist: Selbstverständlich – zumindest teilweise. Es wäre ein grober Fehlschluss, alle Opfererfahrungen als eingebildet abzutun. Aber es wäre ein ebenso grober Fehlschluss, zu glauben, der Mensch könne zwischen äußerer Welt und innerem Film so sauber unterscheiden, wie es in Talkshows gern behauptet wird.

Die Halluzination ist systemisch. Sie ist nicht individuell, sondern kulturell geteilt. Medien, soziale Netzwerke, Empörungsökonomien und akademische Theorien der Betroffenheit sorgen dafür, dass wir heute schneller Kränkungen erkennen als früher. Nicht weil die Welt gemeiner geworden ist, sondern weil wir feinere Scanner gebaut haben.
Der Empörungsscan läuft mit neuronaler Gesichtserkennung, Alarmstufe rot. Jede hochgezogene Augenbraue wird zum Mikroangriff umgedeutet, jeder ironische Tonfall als strukturelle Gewalt analysiert. Das Opferbewusstsein ist zur Wellnessoase des Egos geworden. Denn nichts stärkt den Selbstwert so nachhaltig wie die Gewissheit, moralisch überlegen und gleichzeitig verletzt zu sein. Der Täter trägt Schlips oder Nachnamen, das Opfer die Deutungshoheit.

Und wehe dem, der sagt: Moment mal, vielleicht bist du gar nicht beleidigt worden – vielleicht hast du das nur so gesehen? Der wird postwendend exkommuniziert. Wahrnehmungskritik ist heute eine Form von Ketzerei. Das „Wie fühlt es sich an?“ hat das „Was ist passiert?“ ersetzt. Wir leben im Zeitalter der narzisstischen Narbe.
Ob sie echt ist, spielt keine Rolle. Hauptsache, sie gibt uns Bedeutung.

Corona war der große Realitätsabgleich – und niemand hat bestanden

Das beste Beispiel für diese kollektive Halluzination war und bleibt der Frühling 2020.
Ein Virus trat auf den Plan, und plötzlich sahen wir zwei völlig verschiedene Filme im selben Kino. Für die einen war es der Katastrophenthriller: „Die Seuche kommt“. Für die anderen der Dystopiestreifen: „Der Staat übernimmt die Kontrolle“. Beide Gruppen sahen exakt das, was sie sehen wollten. Oder besser: sehen mussten. Denn das Gehirn hasst Überraschungen mehr als Viren.

Masken waren für die einen Solidarität, für die anderen Unterdrückung. Lockdowns waren entweder Rettung oder Tyrannei. Fakten gab es genug auf beiden Seiten, aber keiner hat sie gesehen. Nur Vorhersagen, Vorannahmen, alte Datenpakete. Die Empirie verrottete auf den Servern der Gesundheitsämter, während auf Facebook metaphysische Grabenkämpfe tobten.

Akademiker: Halluzinierende mit Abitur

Aber, so denken die Gebildeten unter uns gern: Das betrifft doch nur „die anderen“.
Irrtum. Bildung ist kein Antivirus gegen Selbsttäuschung. Sie ist ein Upgrade. Wer promoviert hat, lügt sich nicht weniger in die Tasche – er tut es nur präziser, mit Fußnoten. Der Intellektuelle ist der Mensch, der seine Halluzinationen literarisch ausstaffiert. Die Projektion trägt dann Anzug und eine PowerPoint-Präsentation.

Wissenschaft, wohlgemerkt, ist ein wunderbares Werkzeug gegen Irrtum – für den, der bereit ist, sich selbst zu widerlegen. Leider sind die meisten Akademiker keine Wissenschaftler. Sie sind Überzeugungstäter mit Professorentitel.

Der Schmerz ist echt – das Problem ist das Bild

Das eigentlich Beängstigende an der Dartmouth-Studie ist nicht, dass Menschen sich täuschen.
Es ist, dass sie an den Folgen ihrer Täuschung leiden.

Die Probanden mit der eingebildeten Narbe hatten reale Schmerzen. Psychische Verletzung, physiologische Stressreaktionen, sozialer Rückzug. Alles echt. Nur der Anlass war erfunden – von ihrem eigenen Nervensystem.

Und jetzt kommt die unbequeme Frage:
Welche Narben tragen Sie noch mit sich herum, die längst weg sind?
Welche Gespenster spuken durch Ihr Leben, weil Ihr Hirn sie auf Dauerschleife wiedergibt?

Wir sind nicht verantwortlich für alles, was wir erleben. Aber wir sind verantwortlich für den Filter, durch den wir es betrachten.

Der kluge Mensch fragt nicht: „Warum sind die anderen so gemein zu mir?“
Er fragt: „Woher weiß ich eigentlich, dass das stimmt?“

Fazit: Wir sind alle bekloppt – aber wenigstens konsequent

Das Leben in der Halluzination hat einen Vorteil: Es ist komfortabel.
Man weiß immer genau, wer man ist und wer die anderen sind. Die Welt wird sortierbar, erklärbar, erträglich. Der Preis dafür ist hoch – aber immerhin bezahlen ihn alle.

Wer aus der kollektiven Täuschung aussteigen will, braucht Mut. Nicht den Mut, die Welt zu verändern. Sondern den Mut, sich selbst zu widersprechen.

Vielleicht beginnt es mit der simpelsten aller Fragen:

„Was, wenn ich mich irre?“

Das ist die härteste Droge, die es gibt.
Der Rausch der Klarheit hält nur kurz – aber er ist es wert.

Der Rechtsstaat als Perpetuum Absurdum

Das Paradox der Paragraphen: Wenn Gewalt und Gesetz Händchen halten

Es war einmal, in der besten aller möglichen Welten – also der Bundesrepublik Deutschland –, ein Staat, der sich auf die Fahnen geschrieben hatte, Gerechtigkeit für alle zu schaffen. Für alle? Ja, für alle! Auch für jene, deren Moralempfinden von der Restbevölkerung allenfalls noch durch den Blick auf Fallbeispiele aus dem Strafregister nachvollziehbar ist. Der Staat ist da demokratisch. Wer hier lebt, bekommt Rechte. Manchmal auch dann, wenn der gesunde Menschenverstand längst sein Arbeitszeugnis abgegeben hat.

In dieser Geschichte begegnen wir einem Mann, der – sagen wir es freundlich – mit dem Konzept von Konsens auf Kriegsfuß steht. Der Rechtsstaat nennt ihn nüchtern „den Vater“, die Geschädigte nennt ihn „den Vergewaltiger“, der Pressesprecher der Behörde nennt ihn „den Schutzsuchenden“. Und weil der Schutzsuchende bedauerlicherweise sein Asylverfahren verliert, benötigt er nun dringend ein Bleiberecht. Wer will schon zurück in ein Herkunftsland, in dem es weder Sozialhilfe noch Familiengerichte gibt?

Also setzt der findige Täter auf das, was in Deutschland immer funktioniert: das Kind. Und siehe da, der Rechtsstaat gehorcht. Vaterschaft anerkannt. Umgangsrecht beantragt. Der juristische Zirkus beginnt.

Der Rechtsstaat als Fließband: Gleichbehandlung auch für den Ungleichen

Die deutsche Rechtsdogmatik ist eine gnadenlose Maschine. Sie mahlt alles, was ihr gereicht wird – roh, blutig, unverdaut. Gleichheit vor dem Gesetz? Unantastbar. Ob jemand seinen Nachwuchs beim Picknick zeugt oder bei einer Straftat, interessiert den § 1626 BGB nicht im Geringsten. Der Gesetzestext kennt keine Emotionen, keine Geschichte, keine Gewaltakte – nur „Kind“, „Vater“, „Mutter“, „Umgang“.

In der Logik der Juristen ist der Täter nicht Täter, sondern Beteiligter am Sorgerecht. Der Tatort wird zum Zeugungsakt umgedeutet, die Straftat zum Verwaltungsakt mit familienrechtlichen Folgen. Der Vergewaltiger wird Vater – und aus dem Strafprozess erwächst der Umgangsantrag. Kafka hätte das nicht besser schreiben können, er hätte nur die Zeitungsartikel der Gegenwart abtippen müssen.

Man könnte fast lachen, wenn es nicht so bitter wäre. Oder, besser gesagt, man muss lachen, weil das Weinen sonst kein Ende nähme.

Mutterschaft als Pflichtschuld: Wer das Kind bekommt, bekommt auch den Vater dazu

Die Mutter in diesem Fall – nennen wir sie Anna, der Einfachheit halber – wird vom Rechtsstaat freundlich, aber bestimmt darauf hingewiesen, dass sie ja eine Wahl gehabt hätte: den Schwangerschaftsabbruch. Hätte sie sich für den Abbruch entschieden, wäre ihr der weitere Kontakt mit dem Täter erspart geblieben. Aber so, mit diesem „Ja“ zum Leben, hat sie sich eben auch für den Täter entschieden. Das Leben hat Nebenwirkungen – und der Rechtsstaat liefert die Packungsbeilage mit.

Man könnte sagen: Das Bundesjustizministerium betreibt eine Art Reproduktions-Logistik. Wer Leben produziert, muss mit den Lieferbedingungen des § 1684 BGB leben. Ein Leben ohne Vaterkontakt ist in Deutschland nicht vorgesehen, auch dann nicht, wenn der Vaterkontakt eine Form der Retraumatisierung ist, die selbst Sigmund Freud aus dem Grab hätte telefonieren lassen.

Im satirischen Umkehrschluss könnte man sagen: Deutschland schützt Frauen vor Gewalt – es sei denn, der Täter hat Familienbande. Dann heißt es: Willkommen im Eltern-Konsens-Center, bitte ziehen Sie eine Nummer.

Das DIJuF als Betreuungsagentur der Absurdität

Das Deutsche Institut für Jugendhilfe und Familienrecht – liebevoll DIJuF genannt – hält sich dabei selbstverständlich an das, was man in Fachkreisen den „heiligen Rechtsrahmen“ nennt. Dieser Rahmen ist so festgezurrt, dass man darin auch einen Delinquenten mit Vorgeschichte kunstvoll aufhängen kann, ohne dass ein Paragraf schiefhängt.

Das DIJuF empfiehlt Umgangskontakte, schließlich sei das „Kindeswohl“ das oberste Gebot. Kindeswohl? Ach ja, das war dieses nebulöse Konstrukt, das sich hervorragend als Tarnkappe für systemische Absurditäten eignet. Wer definiert Kindeswohl? Die Paragraphen. Und die sagen, der Umgang mit beiden Elternteilen sei „in der Regel“ förderlich. Die Vergewaltigung? Bedauerlich, aber nicht rechtsrelevant für den Umgang.

Der Täter als Vater – eine neue Normalität, die nur Juristen ernst nehmen können, während der Rest der Gesellschaft kopfschüttelnd nach der versteckten Kamera sucht.

Die moralische Insolvenzverwaltung des Rechtsstaats

Man stelle sich für einen Moment vor, das deutsche Familienrecht wäre ein Autohaus. Der Kunde kommt, schildert sein Problem – und der Verkäufer sagt: „Tut mir leid, der Airbag ist kaputt, aber der TÜV hat das nicht geprüft, also ist das Fahrzeug betriebsbereit.“ So ähnlich funktioniert das Recht in solchen Fällen. Der Gesetzgeber prüft nicht, ob die Wirklichkeit mit dem Gesetz vereinbar ist. Er prüft nur, ob das Gesetz mit sich selbst im Einklang steht.

Die Juristen sind dabei wie die Kapitäne der Titanic: Sie wissen, dass da ein Eisberg ist, aber das Protokoll verlangt das Weiterfahren.

Ironie als letzter Rettungsring: Das Kind, der Täter, die Mutter und das Amtsgericht

Was bleibt? Der Zynismus als Überlebensstrategie. In einer Welt, in der Täter plötzlich Umgangsrechte geltend machen dürfen, kann man nur noch den schwarzen Humor als Rettungsring nutzen. Vielleicht sollten wir das Ganze auf die Spitze treiben: Warum nicht gleich ein gemeinsames Sorgerecht? Warum nicht ein Vater-Kind-Kochkurs mit anschließender Paarberatung?

Der Rechtsstaat will keinen Racheakt – er will Ordnung. Und Ordnung heißt: Jeder bekommt seine Rolle zugewiesen. Die Mutter als betreuender Elternteil, der Täter als umgangsberechtigter Vater, das Kind als emotionaler Spielball zwischen Paragraphen.

Man kann sich darauf verlassen: Es wird alles seinen geregelten Gang gehen. Das Jugendamt wird Protokolle schreiben. Das Familiengericht wird abwägen. Der Vergewaltiger wird seine Besuchszeiten bekommen.

Und der Rechtsstaat? Der wird stolz auf sich sein. Weil er – wie immer – konsequent und unparteiisch war. Auch wenn der Menschenverstand dabei schreiend aus dem Fenster gesprungen ist.

Schlussbetrachtung: Deutschland, ein Narrenschiff

Was lernen wir aus all dem? Deutschland ist ein Rechtsstaat – einer der besten der Welt. Aber wehe dem, der erwartet, dass das Recht auch gerecht ist.

Das Gesetz ist neutral. Es ist auch dann neutral, wenn es absurd wird. Es kennt keine Schamgrenzen, weil Paragrafen keine Gesichter haben. Und während die Betroffenen im Albtraum weiterleben, verneigt sich der Staat vor seiner eigenen Prinzipientreue.

Es lebe der Rechtsstaat. Auch wenn er längst im Irrenhaus wohnt.

So zynisch kann Kommunalpolitik sein

Das Elend als Event: Wenn Politik zum Bühnenbild wird

Man stelle sich vor: Ein Mann wühlt in einem Mülleimer nach einer Pfandflasche. Ein zweiter Mann – im Anzug, mit Aktentasche – stellt ihm wortlos eine Cola-Dose in einen aufwendig angebrachten Edelstahlring am Abfallbehälter. Kamera klickt. Applaus. Der Mann im Anzug ist Stadtrat in Graz (z.B. KPÖ). Der Mann am Mülleimer bleibt arm. So einfach ist die Welt, wenn man sie durch das Brennglas kommunaler Symbolpolitik betrachtet.

Die Pfandringe – leuchtend, sauber, leer – sind das neue Gesicht der Fürsorge im 21. Jahrhundert. Kein Sozialstaat mehr, der auffängt. Keine Strukturreform, keine Debatte über Mindestlöhne, keine Tabula Rasa bei der Verteilungsfrage. Stattdessen: Edelstahl. Statt Menschenwürde: Recyclingästhetik. Man hat das Elend institutionell eingepasst, architektonisch integriert und moralisch zu einem Feel-Good-Projekt umcodiert. Der Kapitalismus bekommt eine zärtliche Note, weil er jetzt Platz für den Müll der anderen macht.

Politik der Placebos: Hauptsache es glänzt

Es ist erstaunlich, wie kreativ Politik werden kann, wenn sie nichts lösen will. Man hätte die Armut ja auch einfach ernst nehmen können. Hätte Mindestpensionen erhöhen, Transferleistungen reformieren, Obdachlosigkeit systemisch bekämpfen können. Aber das hätte Mühe gemacht. Es hätte Reibung erzeugt. Und womöglich die Interessen derer verletzt, die ganz gut daran verdienen, dass alles so bleibt, wie es ist.

Stattdessen also Pfandringe. Man verkauft das als Innovation. Als sozialen Fortschritt. Als Ausdruck einer zivilisierten Gesellschaft. Dabei ist es nichts anderes als der Versuch, das moralische Elend hinter Edelstahl zu verstecken. Die Obdachlosen? Jetzt bitte nicht mehr im Müll wühlen. Das sieht so nach Scheitern aus. Lieber am Pfandring: ein ordentlicher Zugriff, fast schon höflich. Die neue Würde der Armut ist hygienisch und normgerecht.

Es ist eine bizarre Verkehrung der Realität: Nicht mehr das Elend wird bekämpft, sondern seine Sichtbarkeit. Die Armen sollen uns nicht mehr stören. Sie sollen bitte effizient, lautlos und sauber funktionieren – am besten im Durchfluss der Flasche von der Mittelstandshand in die Tasche des Verwertbaren. Kein Lärm, kein Mitleid, keine Verantwortung. Nur der reibungslose Fluss der Symbolpolitik.

Nachhaltigkeit mit Nachgeschmack

Die Grünen feiern den Pfandring als Beitrag zur Kreislaufwirtschaft. Das ist nicht falsch – nur grotesk unterkomplex. Nachhaltigkeit ist längst zur moralischen Ersatzreligion einer Politik geworden, die sich sonst nichts mehr traut. Statt sozialer Gerechtigkeit gibt es jetzt Müllgerechtigkeit. Die Mülltrennung ist die neue Klassenversöhnung. Du trinkst, ich sammle – und alle dürfen sich gut fühlen.

Man darf gar nicht zu lange darüber nachdenken, wie perfide das eigentlich ist: Eine Gesellschaft gibt ihren Bedürftigen nicht Teilhabe, sondern Zugriff auf ihre Flaschenrückstände. Das Elend wird zur Ressource erklärt. Armut zur ökologischen Dienstleistung. Und die Politik klopft sich dafür auf die Schulter, dass es keinen Aufstand gibt. Warum auch? Es ist doch alles geregelt – mit Ring und Regelwerk.

Dass diese Lösung nichts löst, ist irrelevant. Wichtig ist: Sie stört nicht. Sie kostet wenig. Sie passt ins Stadtbild. Und sie macht sich gut in der Pressemitteilung. Das politische Handeln wird zum PR-Konzept, der soziale Skandal zur urbanen Designlösung. Politik ist nicht mehr die Kunst des Möglichen, sondern die Verwaltung des Unvermeidlichen – mit Edelstahl und Sicherheitsverschraubung.

Die Dialektik der Demütigung

Armut ist kein Betriebsunfall – sie ist die systemische Voraussetzung für ein Wirtschaftssystem, das nur funktioniert, wenn jemand verliert. Doch anstatt diese Dynamik zu adressieren, hat man sich dafür entschieden, ihre Folgen zu managen. Mit Tafeln. Mit Suppenküchen. Mit Pfandringen. Und jedes dieser Werkzeuge dient einem einzigen Zweck: Den Status quo zu konservieren, während man ihn mit dem Anschein von Menschlichkeit tarnt.

Der Pfandring ist dabei nur die neueste Stufe dieser Dialektik der Demütigung. Er schafft eine Ordnung im Elend. Er sagt: Du darfst arm sein – aber bitte organisiert. Nicht bettelnd. Nicht sichtbar leidend. Nicht laut. Sondern funktional, diskret, am besten sogar dankbar. Und der, der gibt – die Flasche, nicht das Geld – darf sich dabei noch als Wohltäter fühlen. Es ist die perfekte Illusion: Solidarität ohne Opfer. Hilfe ohne Machtverzicht.

In Wahrheit ist es ein moralisches Totalversagen. Ein Eingeständnis, dass man Armut nicht abschaffen, sondern lediglich zähmen will – wie einen streunenden Hund, der am Rand des Reichtums geduldet wird, solange er nicht bellt. Der Pfandring ist sein Napf.

Die Zukunft der Verachtung ist rund

Vielleicht kommt als Nächstes der Klamottenring: ein Edelstahlbügel am Laternenmast, an den man seine ausgetragenen Jeans hängen kann, auf dass sie von Bedürftigen „nachhaltig genutzt“ werden. Oder die Restessen-Schublade in der Straßenbahn. Vielleicht bald auch: der „Mikro-Spenden-Slot“ am Poller, durch den man beim Vorbeigehen zwei Cent abwerfen kann. Alles steuerlich absetzbar. Alles PR-tauglich. Alles durchgerechnet.

Denn das ist das Ziel: Nicht Armut zu beseitigen, sondern sie in ein ästhetisch erträgliches Format zu pressen. Nicht den Menschen zu helfen, sondern das schlechte Gewissen der Helfer zu besänftigen. Die Zukunft der Verachtung ist rund, aus Edelstahl, vandalismussicher, wetterfest – und moralisch durchgeföhnt.

Die soziale Frage wird zur Frage der Entsorgung. Wer durch den Pfandring greift, greift nicht nur nach Leergut – er greift nach einem System, das ihn längst aufgegeben hat. Und die Politik lächelt dazu, als hätte sie gerade den Humanismus neu erfunden.

Ende.

Die letzte Drehbank Europas

Es ist still geworden in der Halle. Nur noch das Flimmern des Notausgangslichts erinnert an die Zeit, als hier Maschinen standen, die mehr konnten als Kaffee kochen oder sich mit dem Internet der Dinge über ihre midlife crisis austauschen. Die große Drehbank Europas, einst donnerndes Symbol technischer Machermacht, rostet heute unter einem Schild mit der Aufschrift: „Gefördert durch die EU – Nachhaltigkeit in der Produktion 2030“. Und da ist es wieder, dieses magische Wort: Nachhaltigkeit. Wie ein Mantra murmelt es sich Europa seit Jahren selbst zu, während China fröhlich die Lithiumminen des globalen Südens plündert und die USA zwischen Silicon Valley und Texas ihre industrielle Wiederauferstehung feiern. Europa aber? Europa recycelt.

Der eigentliche Witz – und wir lachen hier nicht ohne bittere Tränen –, ist der, dass man sich auf diesem Kontinent nun damit tröstet, moralisch zu gewinnen, wenn man wirtschaftlich schon längst verloren hat. Der Lohn des Gerechten ist eben kein Reallohn. Und CO₂-Neutralität gibt’s nicht im Bruttoinlandsprodukt.

Bürokratie statt Batterie: Die Regulierung frisst die Innovation

Was in China ein Projekt ist, ist in Europa ein Paragraf. Was dort ein Testlauf ist, ist hier ein Verwaltungsverfahren. Wo dort Halbleiterfabriken in sechs Monaten gebaut werden, reichen bei uns sechs Jahre für den Beschluss, eventuell über einen Planungsentwurf nachzudenken, der unter besonderer Berücksichtigung von Rotmilan, Krötenschutz und regionaler Wurstvielfalt ein paar Nanometer-Technologie ermöglichen könnte – sofern die Beteiligungsverfahren abgeschlossen und die Klagen der Bürgerinitiativen beigelegt sind.

Die europäische Industrie, dieses einstige Biest aus Stahl, Strom und Stolz, vegetiert heute unter der Knute einer bürokratischen Priesterschaft dahin, deren Evangelium aus Verordnungen, Richtlinien und strategischen Papieren besteht, die alles sein wollen, nur nicht effizient. Es ist ein bisschen so, als würde man einem Ertrinkenden einen Lehrgang in Wasserqualität anbieten, aber das Rettungsboot wegen Lieferkettenproblemen nicht aus dem Lager holen.

Die Geister, die wir frachten: Handelsbilanz und andere Märchen

„Wir exportieren Werte“, sagt der europäische Politiker mit glänzendem Blick. Doch in den Bilanzen stehen keine Werte, sondern Waren. Während China Batterien, Chips und Schiffe verkauft und die USA mit KI, Frackinggas und Waffen glänzen, exportiert Europa seine Schulden, seine Diplomatie und seine Gutgläubigkeit. Man verkauft noch immer Autos, ja, aber unter Auflagen, mit Emissionsnachweisen, in digitalisierten Formaten, die nur noch auf Servern in Irland existieren. Und währenddessen importiert man Solarpanele, Windräder und Rohstoffe – samt der Abhängigkeit, die sie mitliefern.

Die Realität ist eine kalte Excel-Tabelle, und da steht unter dem Strich: Europa schrumpft. Nicht als Ort, nicht als Idee, sondern als industrielle Kraft. Ein Kontinent, der einst die Dampfmaschine erfand, hängt heute am Tropf chinesischer Lithiumversorgung und amerikanischer Cloud-Infrastruktur. Und die EU-Kommission träumt von digitaler Souveränität, während sie sich mit Chatbots und Datenschutz-Grundverordnungen beschäftigt. Orwell hätte seine Freude daran.

Von der Hochofen- zur Hochmoralgesellschaft

Wir sind besser geworden. Nicht im technischen, aber im ethischen Sinne. Wir sind klimabewusst, divers, inklusiv, gendergerecht und fair. Wir reden über die Zukunft der Arbeit, ohne zu merken, dass die Arbeit uns verlässt. Wir philosophieren über Lieferkettengesetze, während wir zuschauen, wie unsere Lieferketten in andere Hemisphären umziehen. Der deutsche Mittelstand, das Rückgrat Europas, kämpft derweil mit Fachkräftemangel, Strompreisen und der Frage, wie man ein Unternehmen führen soll, wenn einem Brüssel jeden Monat einen neuen Compliance-Kalender zuschickt.

Europa ist moralisch intakt – das ist keine Ironie, das ist der Wahnsinn. Denn wer glaubt, die Welt funktioniere nach den Regeln des EU-Parlaments, der sollte mal versuchen, in Nigeria eine Turbine zu verkaufen oder in Vietnam eine Batterie zu produzieren. Der neue Kapitalismus kennt kein Mitgefühl. Und die Großmächte spielen Schach, während Europa Sudoku löst – mit ethischem Anspruch, versteht sich.

Der schleichende Selbstmord des Kontinents

Die Zahlen lügen nicht: 1990 war Europa für 25 % der Weltwirtschaft verantwortlich. Heute sind es 17 %. China war damals bei 3 %, heute ebenfalls bei 17 %. Das nennt man Umverteilung – nicht von Reichtum, sondern von Bedeutung. Und was tut Europa? Es streitet über Quoten, formuliert Visionen, gründet Ethikräte. Man hat sich auf der Titanic in den Ethikbeirat wählen lassen und hofft, dass der Eisberg ESG-konform ist.

In Wahrheit, und das ist die härteste Pointe, glaubt Europa immer noch, es sei Vorbild. Dabei ist es längst zum musealen Exponat geworden: Ein Kontinent mit großartigen Erinnerungen, exzellenten Museen und einem beeindruckenden Archiv an Weltgeltung. Was fehlt, ist Gegenwart. Was fehlt, ist industrielle Substanz. Was bleibt, ist das Gefühl, dass man alles richtig gemacht hat – und trotzdem bald nichts mehr produziert.

Vielleicht ist das die Pointe: Wir wollten nicht gewinnen

Europa hat den Krieg der Ideen geführt – und ihn gewonnen. Demokratische Standards, soziale Sicherungssysteme, eine der besten Zivilgesellschaften der Welt. Doch in der Weltwirtschaft zählt das nicht. Dort zählen Masse, Geschwindigkeit, Effizienz – und, ja: Macht. Und Macht wird nicht durch Konsultationsprozesse hergestellt, sondern durch Entscheidungen.

Vielleicht ist das unser eigentlicher Fehler: Wir wollten nicht mehr gewinnen, sondern nur noch überzeugen. Wir wollten nicht herrschen, sondern vorleben. Doch Vorbilder werden selten nachgeahmt – sie werden bestaunt, dann überholt, und irgendwann vergessen.

Ein letzter Witz

Und während der letzte europäische Industrielle das Licht in seiner Fabrik löscht und draußen ein Elektrobus vorbeifährt – Made in China, powered by Afrika, kontrolliert via Amazon Web Services –, seufzt er leise:

„Aber wenigstens war unsere CO₂-Bilanz tadellos.“

Und so endet die Geschichte Europas nicht mit einem Knall, sondern mit einem moralischen Zertifikat.

Ein Land zwischen Selbstbild und Wirklichkeit

Die Bundesrepublik Deutschland im Zeitalter der Verwirrung

Es gibt Länder, die wachsen. Und es gibt Länder, die wachsen nicht. Dann gibt es noch Deutschland – ein Land, das schrumpft und gleichzeitig so tut, als hätte es eine Wachstumsallergie, die ärztlich verordnet wurde. Deutschland, dieses geographische Meisterwerk der Bürokratie, des Formulardrucks und der Bedenkenträger, taumelt im 21. Jahrhundert mit einer Mischung aus technokratischer Arroganz, moralischer Überheblichkeit und digitaler Rückständigkeit, wie ein leicht beschwipster Beamter auf dem Heimweg von der Betriebsfeier. Wer das Glück (oder Pech) hat, außerhalb Deutschlands zu leben, aber regelmäßig mit Deutschen spricht – ob in Brüssel, Davos oder bei irgendeinem internationalem Kongress zur Rettung der Welt –, der wird bemerken: Deutschland ist überzeugt, alles besser zu wissen, obwohl es bei fast allem ins Straucheln gerät. Die Internetgeschwindigkeit liegt zwischen post-sowjetischer Nostalgie und steinzeitlicher Taubenschlag-Kommunikation, das Wirtschaftswachstum existiert nur noch als Echo aus besseren Jahren, und die Industrie – ehemals die strahlende Lokomotive Europas – wirkt heute wie ein rostiger Güterwaggon, dessen Bremsen quietschen und dessen Ziel unklar ist.

Digitalisierung? Lieber Faxgerät mit Datenschutzsiegel.

Deutschland und Digitalisierung – das ist wie ein Vegetarier beim Spanferkelessen: fehl am Platz, aber mit Prinzipien. In keinem anderen entwickelten Land der Welt gilt das Faxgerät als modernes Kommunikationsmittel mit so hohem moralischem Wert wie in deutschen Amtsstuben. Man glaubt fast, das Gerät sei heilig, geweiht von Datenschutzbeauftragten, die jede Form von Cloud-Speicherung als Vorhof der Hölle betrachten. Während Rumänien Glasfaserkabel verlegt, als hätte Dracula persönlich zur Digitalisierung aufgerufen, wühlt sich Deutschland durch Aktenschränke mit dem Eifer eines Archivars auf Zeitreise. Die Bürgerportale? Funktionieren manchmal. Die Verwaltung? Digital nur dort, wo man sich für eine neue Mülltonne bewerben kann. Der digitale Führerschein? Wird irgendwann nach 2030 erwartet, möglicherweise in einer Beta-Version mit elfseitigem PDF-Antrag, unterschrieben in dreifacher Ausführung, natürlich per Fax.

Moralweltmeister mit Wirtschaftshühnerbrust

Trotz oder gerade wegen all dieser Absurditäten versteht sich Deutschland als eine Art moralische Supermacht mit wirtschaftlichem Kleingärtner-Ehrgeiz. Man exportiert nicht nur Autos und Maschinen, sondern auch Verhaltensregeln, Energiemodelle und pädagogisch aufgeladene Handlungsanweisungen für ganze Kontinente. Die deutsche Außenpolitik gleicht einem Schulaufsatz in Ethik: gut gemeint, schlecht recherchiert, voller Konjunktive und mit erhobenem Zeigefinger. Dass die wirtschaftliche Grundlage für diesen missionarischen Übereifer langsam aber sicher unter den Füßen wegbröselt – geschenkt. Man lebt gern vom Kapital der Vergangenheit, solange man dabei mit verkniffener Miene in die Zukunft deuten darf. Die Realität, dass China längst das Spiel bestimmt, die USA den Ton angeben und selbst Länder wie Polen oder Tschechien in manchen Bereichen vorbeiziehen, wird dabei großzügig übersehen. Stattdessen diskutiert man in Talkshows über Gendersternchen auf Baustellenschildern, während das Baugewerbe wegen Bürokratie, Fachkräftemangel und Materialkosten kollabiert.

Industrie am Tropf: Der Patient klagt nicht, er schweigt.

Die deutsche Industrie, einst der muskulöse Arm der europäischen Wirtschaft, wirkt heute wie ein Kettenraucher nach der dritten Lungenoperation. Noch produziert sie, aber mit schwerem Atem und wachsender Unlust. Energiepreise, Regulierungsexzesse und ein politisches Klima zwischen Klimaneurose und Wirtschaftsvergessenheit drücken auf die ohnehin gebeutelten Unternehmen. Doch wer wagt es, laut zu klagen? Die DAX-Vorstände haben sich in eine Art Stockholm-Syndrom geflüchtet: Sie danken brav für jede neue Auflage, für jede neue ESG-Vorschrift, für jede steuerliche Daumenschraube. Und in dieser seltsamen Co-Abhängigkeit zwischen Wirtschaftsstandort und politisch-moralischem Theater findet eine absurde Choreografie statt: Unternehmen investieren lieber in Texas oder Vietnam, während deutsche Politiker stolz verkünden, dass es dem Standort gut geht – wenn man nur genug glaubt. Es ist ein bisschen wie beim Tanzen mit gebrochenem Bein: Man hält die Fassade aufrecht, aber die Schmerzen sind deutlich.

Die hohe Kunst des Belehrens – Made in Germany

Trotz aller Widrigkeiten bleibt eine Fähigkeit ungebrochen stark: Deutschlands Talent zur internationalen Belehrung. Ob es um Migration geht, Energiepolitik, Finanzdisziplin oder Landwirtschaft – Deutschland weiß es besser. Die Welt möge bitte die deutsche Wärmepumpe preisen, die deutsche Mülltrennung verehren und die Energiewende als Heilslehre adaptieren – auch wenn sie de facto eher einem Abwrackprämien-Marathon gleicht. Dass andere Länder ganz eigene geografische, wirtschaftliche oder politische Voraussetzungen haben, wird dabei elegant ignoriert. Denn in der deutschen Selbstwahrnehmung ist jeder Staat ein potenzielles Hessen mit leicht korrigierbarem Fehlverhalten. Man hält Reden in Brüssel, als wäre man der Klassensprecher der gesamten EU, ohne zu bemerken, dass der Klassenraum längst die Schule gewechselt hat.

Fazit: Zwischen Tragödie und Kabarett

Deutschland ist kein gescheitertes Land. Es ist ein hochfunktionaler Irrtum. Es lebt von seinem Ruf, seinen Ideen – und von einer kollektiven Selbsttäuschung, die in ihrer Komplexität fast schon bewundernswert ist. Man wähnt sich als Vorbild, während man in Wirklichkeit zuweilen nur noch ein Mahnmal der eigenen Hybris ist. Und doch: Es gibt Hoffnung, denn mit der gleichen Ernsthaftigkeit, mit der Deutschland seine Skurrilitäten pflegt, könnte es sich auch eines Tages reformieren. Vielleicht. Falls es jemandem gelingt, ein digitales Formular zur Modernisierung des Landes auszufüllen – leserlich, in Druckbuchstaben, mit Stempel und Durchschlag.

Bitte um Kenntnisnahme:

Ich scheiß auf einen Platz in eurer demokratischen Mitte

Präludium der gepflegten Verachtung

Es gibt wohl nichts Langweiligeres als die vielbeschworene „demokratische Mitte“ – dieser bräsige Wohlfühlkonsens, in dem man sich gegenseitig auf die Schulter klopft, weil man es geschafft hat, sich weder rechts noch links, weder oben noch unten, weder denkend noch fühlend zu positionieren. Eine politisch-ideologische Knautschzone, weich gepolstert mit leeren Worthülsen und moralischer Selbstbeweihräucherung, in der man sich mit einer Tasse Fairtrade-Kaffee in der Hand für den Erhalt des Status quo feiert, als wäre das schon Revolution genug. Die demokratische Mitte ist kein Ort, es ist ein Zustand – ein Zustand der geistigen Verdauungsstörung, in dem man zwar alles irgendwie akzeptiert, aber nichts mehr hinterfragt, weil es ja die „Mitte“ ist. Und wer will schon radikal wirken, wenn man auch einfach irrelevante Kompromisse feiern kann?

Die moderaten Monster

Die Gefahr geht heute nicht mehr von den brüllenden Populisten aus – deren Fratzen sind so deutlich, dass selbst der durchschnittlich desinteressierte Netflix-Zombie sich bei den Abendnachrichten kurz verschluckt. Nein, die wahre Bedrohung wohnt in gepflegten Reihenhäusern, sitzt in Ethikräten, schreibt Leitartikel und spricht mit jener aalglatten Stimme, die alle Empörung schon im Ansatz neutralisiert. Es sind die netten Monster im Maßanzug, die sich für die „Stabilität des Systems“ einsetzen, während sie mit stoischer Miene die Verarmung von Millionen verwalten, die Umweltzerstörung mit „technologieoffenen Lösungen“ lobpreisen und den globalen Süden mit paternalistischer Arroganz „entwickeln“ wollen. Diese Typen – nennen wir sie ruhig beim Namen: Politiker, Intellektuelle, Journalisten, Thinktank-Therapeuten – sind keine Verschwörer, sondern Verwalter. Verwalter der Verwahrlosung. Sie sind der Ikea-Kleiderschrank, in den man die hässlichen Wahrheiten unserer Zeit verstaut, damit sie im Wohnzimmer der gepflegten Meinungskultur nicht stören.

Demokratie als Dekoartikel

Man darf wählen. Ja, das darf man. Zwischen Pest in Blau, Cholera in Grau und einem veganen Durchfall in Pastellgrün. Wer heute an demokratische Teilhabe glaubt, glaubt vermutlich auch, dass man durch Online-Petitionen den Kapitalismus abschaffen kann oder dass eine Instagram-Story gegen Kinderarbeit hilft. Der Wahnsinn liegt nicht mehr draußen, er ist längst integriert, systemkompatibel, gesetzlich reguliert – und von einem parteiübergreifenden Konsens abgesegnet. Wenn Demokratie bedeutet, alle vier Jahre ein Kreuz zu machen, um danach von Koalitions-Pantomimen regiert zu werden, die sich gegenseitig beteuern, „das Beste für das Land“ zu wollen, dann ist Demokratie ein verdammt schlechter Witz mit einem sehr langen Aufbau und keiner Pointe.

Gesellschaft als Selbstbetrug

Wir leben in einer Gesellschaft, in der Armut als individuelles Versagen gilt, Reichtum als Gottesbeweis und Burnout als modischer Persönlichkeitsakzent. Wer nicht mehr mitkommt, bekommt Therapien, Coachings, Achtsamkeitstrainings – aber keine Umverteilung. Die gesellschaftliche Mitte hat sich längst damit abgefunden, dass soziale Gerechtigkeit ein romantisches Märchen aus der SPÖ-Werbung der 70er war. Heute ist man pragmatisch. Man duzt sich im Elend, lächelt auf LinkedIn beim 19. unbezahlten Praktikum und postet zum Trost ein Zitat von Bukowski – falsch zugeordnet, versteht sich.

Ich scheiß auf euren Konsens

Nein, ich will nicht Teil eures Wohlfühl-Konsenses sein, der sich wie eine warme Decke über alles legt, was stört, kratzt, beißt oder schreit. Ich will keine Einladung in eure Talkshows, keine Einordnung in euer Hufeisen, keine Argumentation im Dienste der „Zivilgesellschaft“. Ich will euch nicht versöhnen. Ich will euch ärgern. Ich will euren Diskurs mit der rhetorischen Motorsäge zerlegen und auf dem Trümmerhaufen eine Fahne aus Wut und Spott hissen. Eure „gesellschaftliche Mitte“ ist kein Zentrum, sondern ein stillgelegtes Karussell, das sich nur noch in den Köpfen derer dreht, die zu feige sind, auszusteigen und zu sagen: „Das hier ist krank.“

Abgesang auf die Anständigen

Ach, und bevor wieder einer kommt mit der Mahnung, man solle doch „respektvoll bleiben“, „die Demokratie stärken“ und „das Miteinander fördern“: Nein. Einfach nein. Wenn Anstand bedeutet, sich dem strukturellen Irrsinn unterzuordnen, dann bin ich lieber unanständig. Wenn „Verantwortung“ heißt, die katastrophalen Verhältnisse zu moderieren, statt sie zu ändern, dann bin ich lieber verantwortungslos. Und wenn „Mitte“ heißt, sich in einer Welt des Elends als vernünftig zu inszenieren, während man auf den Trümmern tanzt – dann scheiß ich auf eure Mitte.

Im Namen der Demokratie

oder wie ich lernte, die Kündigung zu lieben“

„Beamte, die nach ihrer bisherigen politischen Betätigung nicht die Gewähr dafür bieten, dass sie jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat eintreten, können aus dem Dienst entlassen werden. Auf die Dauer von drei Monaten nach der Entlassung werden ihnen ihre bisherigen Bezüge belassen. „
§4, Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums, vom 7. April 1933.

Der Staat bin ich – aber bitte mit Sicherheitsüberprüfung

Man stelle sich einen durchschnittlich engagierten Verwaltungsbeamten vor, sagen wir: Fachbereich Wirtschaftsförderung in Klein-Kleckerstedt. Sorgfältig frisiert, mit Krawatte in Landesfarben, stets bemüht, den kommunalen Haushalt mit der Contenance eines mittelalten Revisoren zu führen. Dieser Mensch, der morgens in seine Filzpantoffeln schlüpft, während er gedankenverloren den öffentlich-rechtlichen Wetterbericht hört, ist, so sagt es das neue Gesetz, plötzlich verdächtig. Nicht, weil er etwas getan hätte, sondern weil er nicht ausreichend geglaubt hat. Und das ist bekanntlich schlimmer.

Denn 2025, das ist das Jahr, in dem die Demokratie den autoritären Stil für sich entdeckt hat – natürlich mit bester Absicht. Schließlich muss man die Feinde der Freiheit mit den Mitteln der Unfreiheit bekämpfen. Logisch. Im Kampf gegen Extremismus reicht es nicht mehr, Gesetze zu befolgen – man muss sie lieben. Laut, mit Nachdruck, bestenfalls mit einem Aufkleber auf dem Firmenlaptop: „Unsere Demokratie. Unsere Regeln. Unser Personal.“

Und was passiert, wenn ein Beamter sich zu kritisch äußert, zu oft das Wort „Grundrechte“ buchstabiert oder gar die Kühnheit besitzt, in öffentlichen Sitzungen die Effizienz von Gesetzesvorhaben zu hinterfragen? Nun, er bietet „nicht die Gewähr“. Und schon klingelt das Verwaltungsgericht. Drei Monate Schonfrist – man ist ja kein Unmensch – und dann: Raus. Demokratieförderung nach dem Vorbild gesäuberter Schreibtische.

Der Gesinnungskorridor: Jetzt mit Videoüberwachung

Wir kennen das aus vergangenen Zeiten: Früher suchte man nach „vaterlandslosen Gesellen“, heute nach „demokratiefernen Beamten“. Was das ist? Gute Frage. Die Antwort liegt im Auge des Betrachters – oder besser: des Amtsleiters mit erweitertem Mandat und Zugriff auf Social-Media-Profile.

Denn selbstverständlich sind Facebook-Likes heute relevanter als Verwaltungsrecht. Was nützt einem das Beamtenrecht, wenn ein Post von 2018 aufgedeckt wird, in dem man sich kritisch zur NATO, zur Energiepolitik oder – Gott bewahre – positiv zur AfD? Der Verfassungsschutz schaut mit, und plötzlich wird aus dem Fachangestellten ein Sicherheitsrisiko, aus dem Lehrer ein latent subversiver Pädagoge, aus der Archivarin eine potenzielle Demokratiesaboteurin. Kafka lacht im Grab, Orwell gibt Applaus.

In Ministerien wird hinter vorgehaltener Hand gemurmelt, manche trauen sich nicht mehr, in der Kantine über Bundespolitik zu sprechen. Der Humor? Abgeschafft, Satire? Verdächtig. Ironie? Subversiv. Die viel beschworene „wehrhafte Demokratie“ wird zur misstrauischen Tante, die selbst ihren Lieblingsneffen verhört, weil er im Freundeskreis über die Steigerung der Parlamentsdiäten witzelte.

Zynismus als Staatsbürgerpflicht

Ironischerweise ist die neue Sauberkeit der Verwaltung nicht sauberer geworden, nur glatter. Die Beamten sind angepasster, schweigsamer, fleißiger – aus Angst. Sie äußern sich nicht mehr politisch, auch nicht privat, schreiben keine Leserbriefe, sie „liken“ keine Kommentare, sie schweigen. Nicht aus Desinteresse, sondern aus purem Überlebensinstinkt.

Und was ist die Folge? Eine Demokratie, die sich ständig selbst auf die Schulter klopft, während sie im Hintergrund still ihre Kritiker entfernt – gesetzeskonform, versteht sich. Nur mit bester Absicht. Und immer mit dem Zusatz: „Das hat nichts mit Zensur zu tun.“ Natürlich nicht. Es ist ja nur eine „dienstrechtliche Maßnahme“. Im Namen der Demokratie. Die sich schützt, indem sie niemandem mehr traut, der sie nicht täglich aufs Neue bejubelt. Inklusive Formblatt 47b: „Eidesstattliche Erklärung zur gefühlten Verfassungstreue“.

Der große Gleichklang: Freiheit ist Gehorsam

Im Jahr 2025 klingt Demokratie oft wie eine Betriebsanleitung für ein autoritär verwaltetes Start-up. Mit freundlichem Logo, netten Slogans und der eindringlichen Warnung, „unsere Demokratie“ nicht zu gefährden. Aber was bedeutet dieses „unsere“? Wer ist das „wir“? Und wer entscheidet, wann jemand „uns“ nicht mehr gehört?

Fragen, die niemand mehr stellt. Denn wer fragt, dem traut man nicht. Und so wächst der Apparat – nicht nur in Größe, sondern auch in Reizbarkeit. Kritik wird zur Majestätsbeleidigung, Zweifel zur Gesinnungsschwäche. Und der Bürger zum Klatscher, der sich nur dann sicher fühlen darf, wenn er nickt.

Wohin das führt? Wir wissen es. Wir waren schon einmal dort. Nur hieß es damals nicht „Demokratie“, sondern „nationaler Staat“. Man tausche ein paar Begriffe aus, ersetze „völkisch“ durch „verfassungstreu“, und der Rest ist Systempflege mit Update-Garantie.

Zwischen Fazit und Farce: Das sanfte Kichern des Untergangs

Und so stehen wir also im Jahr 2025, mitten in einer Demokratie, die sich selbst zu ernst nimmt, um ernst genommen zu werden. Eine Demokratie, die nur dann funktioniert, wenn niemand ihr widerspricht. Eine Verwaltung, die Loyalität mit Devotion verwechselt. Und ein Beamtenapparat, der von innen verdampft, weil draußen jemand beschlossen hat, dass innere Haltung nun nach außen kontrolliert werden muss.

Natürlich – das alles ist notwendig, sagen sie. Wegen der Bedrohungen, wegen der Radikalen, wegen der Netzwerke. Und man möchte nicken. Man will glauben, dass man auf der sicheren Seite ist. Bis man merkt: Diese Seite wird jeden Tag neu gezeichnet. Und wer heute noch dazugehört, kann morgen schon als Risiko gelten.

Willkommen, also in der Demokratur – freundlich lächelnd, rückhaltlos gerecht, mit drei Monaten Lohnfortzahlung. Danach dürfen Sie gehen. Aber bitte ohne Kommentar.

Ende. Oder wie es heute heißt: Stellungnahme folgt.

Die Reinheitsprüfung

oder: Wie man mit Demokratie die Demokratie ausradiert

Prolog mit Preußenschwärze: Wenn der Staat Gesinnung schnüffelt

Man muss, ich wiederhole es mit allem Nachdruck, kein Freund der AfD sein. Man kann diese Partei für reaktionär, revisionistisch, gefährlich, dumm, opportunistisch, rassistisch, antieuropäisch, demokratiezersetzend und im Habitus latent faschistoid halten – was ohnehin schwerfällt, sich nicht irgendwann zu denken, wenn man sich einmal nüchtern mit ihrem Programm und ihren Protagonisten beschäftigt hat. Doch genau das ist der Prüfstein: „Nüchtern.“ Denn wer nüchtern bleibt in einem politischen Klima, das zunehmend nach Kaltverformung riecht, muss auch den kalten Hauch erkennen, der plötzlich aus einer anderen Richtung weht. Aus jener Richtung, die sich als die gute, richtige, aufrechte bezeichnet. Die Seite der Demokratie. Der Menschenrechte. Der Gerechtigkeit.

Und gerade dort, in dieser warm beleuchteten Zone des moralischen Bessermenschentums, brennt jetzt eine kalte Lampe.

Michael Ebling, Innenminister von Rheinland-Pfalz, hat beschlossen, dass die AfD ab sofort auf einer Liste steht. Einer Liste der extremistischen Organisationen. Und wer dort steht, ist raus. Raus aus dem Staatsdienst, raus aus der Chance, Lehrer, Polizist, Verwaltungsbeamter oder Zugbegleiter in Uniform zu werden.

Klingt nachvollziehbar, oder? Schließlich will man ja keine Demokratiefeinde im Staatsapparat haben.

Klingt vernünftig – wenn man gerade aus einem schlechten dystopischen Film kommt und das Popcorn noch zwischen den Zähnen knackt.

Die Logik der Gesinnungsprüfung: Wer nicht hüpft, ist kein Demokrat

Was hier eingeführt wird, ist keine banale Schutzmaßnahme. Es ist der Einstieg in ein Denken, das man längst überwunden glaubte: die amtliche Prüfung innerer Überzeugungen, die administrative Einordnung politischer Identität, die Verknüpfung staatlicher Loyalität mit weltanschaulicher Reinheit. Es ist – man muss es so sagen – eine zivilisierte Neuauflage dessen, was man früher „Unzuverlässigkeit“ nannte.

Willkommen im demokratischen McCarthyismus der BRD 2.0. Die Parole lautet: Du darfst wählen, was du willst, aber wehe, du willst das Falsche. Dann darfst du nicht mehr sein, was du willst. Schon gar nicht Staatsdiener.

Wer glaubt, das sei eine notwendige Abwehr gegen rechte Unterwanderung, der sollte kurz innehalten und sich fragen, warum man dann nicht einfach das Verbot dieser Partei vollzieht – mit ordentlichen Verfahren, mit gerichtlicher Kontrolle, mit Beweisen und nachvollziehbaren Schritten. Stattdessen macht man etwas viel Heimtückischeres: Man deklariert eine demokratisch legitimierte Partei zur Extremismusmarke und versieht sie mit einem stillen Berufsverbot.

Künftig soll jeder Bewerber eine Erklärung unterschreiben, dass er keiner extremistischen Organisation angehört – und die Definition, was extremistisch ist, liegt beim Ministerium. Dort steht jetzt eben auch die AfD. Morgen vielleicht die Linke. Übermorgen Fridays for Future oder Amnesty International. Wer weiß? Die Listen kann man erweitern. Irgendjemand wird schon klatschen.

Der Staat als Gesinnungsschnüffler – ein sozialdemokratischer Albtraum

Dass ausgerechnet die SPD diesen Schritt geht, ist eine besonders bittere Pointe. Dieselbe Partei, die in den 1970er Jahren mit dem sogenannten Radikalenerlass hunderttausende junge Menschen unter Generalverdacht stellte, weil sie Mitglied in der DKP oder nur Leser der konkret waren – sie führt nun die Gesinnungsliste wieder ein, diesmal unter dem Schutzschild des Antifaschismus. Das ist keine Ironie. Das ist Tragik.

Wer sich erinnert: Damals wurde lange nachgedacht, diskutiert, debattiert, gestritten. Heute reicht ein Tweet, ein Presserummel, eine ministeriale Mitteilung.

Der neue Puritanismus verlangt keine Argumente mehr, sondern Eide. Loyalität zur Verfassung soll nicht mehr in Haltung und Verhalten sichtbar werden, sondern in Form einer Selbstauskunft. Wer lügt, fliegt. Wer bekennt, darf bleiben – vielleicht. Denn auch der Bekenner kann im Zweifel verdächtig bleiben, falls das Parteibuch nicht gefällt. Und was ist mit ehemaligen Mitgliedern? Mit jenen, die „reumütig“ sind? Wird es ein Reintegrationsformular geben, ein Entnazifizierungsseminar, ein Demokratietreue-Screening beim Verfassungsschutz?

Man sieht: Das ist keine Linie mehr. Das ist ein Abgrund.

Vom Extremismus zur Exkommunikation: Die postliberale Demokratie

Was hier still und beinahe beiläufig vollzogen wird, ist nicht bloß ein Angriff auf eine Partei, sondern auf das Prinzip pluralistischer Demokratie. Wenn der Staat entscheidet, wer inhaltlich zur Demokratie gehört – und nicht mehr nur formal die Regeln ihrer Spielweise garantiert – dann kippt das System. Dann wird der demokratische Staat zur ideologischen Kirche, und die Exkommunikation zur Verwaltungsmaßnahme.

Man stelle sich das umgekehrt vor: Ein konservativer Innenminister erklärt, Mitglieder der Linkspartei dürften nicht mehr in den Staatsdienst, weil sie mit der DDR sympathisierten. Oder ein zukünftiger libertärer Populist verweigert Klimaaktivisten den Beamtenstatus, weil sie „staatsfeindlich“ agieren.

Wer nun sagt, das sei nicht vergleichbar – der beweist nur, dass er nicht bereit ist, das Prinzip zu verteidigen, sondern nur die eigene politische Hegemonie.

Und das Lächeln dabei – der neue autoritäre Humanismus

Was diese Entwicklung so perfide macht, ist ihr gutmenschlicher Gestus. Sie kommt nicht mit Panzern und Stahlhelmen, sondern mit gendergerechter Sprache und regenbogenfarbenen Logos. Sie tarnt ihre Exklusion als Schutzmaßnahme. Sie spricht nicht von Säuberung, sondern von „Verfassungstreue“. Und sie klatscht sich selbst Beifall, weil sie ja nur das Richtige will.

Dabei ist es ganz einfach: Wer anderen Menschen Berufsrechte entzieht, nicht wegen ihrer Tat, sondern wegen ihrer Mitgliedschaft – der betreibt Kollektivschuld. Wer Gesinnungen bewertet, bevor ein Mensch gehandelt hat – der betreibt Präventivjustiz. Wer Parteien ächtet, statt sie offen zu bekämpfen – der betreibt politische Willkür.

Und wer das alles mit einem Lächeln tut, mit dem Brustton moralischer Überlegenheit – der ist gefährlicher als jeder brüllende AfD-Stammtisch.

Epilog: Die Demokratie stirbt nicht durch ihre Feinde – sondern durch ihre Freunde

Wir leben in Zeiten, in denen die Demokratie zunehmend in Watte gepackt wird – aus Angst, sie könnte zerbrechen. Doch in Wahrheit wird sie durch diese Umarmung erstickt. Demokratie lebt nicht davon, dass nur Demokraten an ihr teilnehmen. Sondern dass auch ihre Gegner in ihr sichtbar, kontrollierbar und kritisierbar bleiben. Wer sie ausschließt, macht sie nur dunkler. Wer sie tabuisiert, macht sie nur attraktiver für jene, die sich als Verfolgte inszenieren wollen – mit leider wachsendem Erfolg.

Nein, man muss wahrlich kein Freund der AfD sein, um das, was hier geschieht, als gefährlich zu erkennen. Es reicht, ein Freund der Freiheit zu sein. Und ein Feind jeder Form von moralischem Autoritarismus – ganz gleich, welche Farbe er trägt.

Denn am Ende ist es immer gleich:

Wer Listen anlegt,
verliert zuerst das Vertrauen,
dann die Freiheit,
und schließlich –
die Demokratie selbst.

Der letzte Buchstabe – Ein Abgesang auf das „C“

Die Richtermacher tanzen den Spagat

Am 11. Juli 2025, einem Datum, das in die Annalen deutscher Demokratie eingehen wird wie eine warme Bierflasche in die Chronik sommerlicher Enttäuschungen, entscheidet der Bundestag über nichts Geringeres als die zivilreligiöse Weihe einer neuen Verfassungspriesterin: Frau Professorin Brosius-Gersdorf, deren Name bereits klingt wie eine Fußnote in einer Verwaltungsgerichtsentscheidung aus den 80er Jahren, soll zur Richterin am Bundesverfassungsgericht erhoben werden. Die höchste juristische Weihestufe der Republik – rot gewandet, über dem Gesetz stehend, dem Gewissen verpflichtet, aber meist einem Parteibuch näher als der objektiven Vernunft.

Nun könnte man sagen: Na gut, Richter kommen und gehen, aber was soll’s – der Rechtsstaat funktioniert doch, solange wenigstens das Wappen über dem Sitzungssaal noch adlerförmig bleibt. Doch halt! Diese Nominierung ist kein lauer Verwaltungsakt, keine Personalie unter vielen. Sie ist ein programmatischer Paukenschlag, ein verfassungsjuristischer Akt der Deutungshoheit – oder, um es mit einem anderen Wort zu sagen: ein Etikettenschwindel.

Menschenwürde light – der Fetisch der Definitionshoheit

Frau Brosius-Gersdorf, ihres Zeichens Professorin mit reichlich Publikationsvergangenheit, hat sich in der Vergangenheit nicht nur durch subtile juristische Ausdifferenzierung hervorgetan, sondern auch durch eine gewisse Bereitschaft, die Menschenwürde wie einen Mantel zu tragen, den man bei Bedarf ablegt, wenn es politisch zieht. Wer, wie sie, vorschlägt, dass ungeborenen Kindern im Mutterleib das Grundrecht auf Menschenwürde nicht automatisch zustehe, der stellt sich nicht nur gegen Jahrzehnte der verfassungsrechtlichen Dogmatik, sondern gegen den Kern dessen, was das „C“ im Parteinamen der CDU/CSU ursprünglich mal bedeutete – bevor es endgültig zu einer bloßen Glyphe verkommen ist, hübsch gerahmt im Parteilogo, aber ansonsten funktionslos wie ein Kirchturm in einem atheistischen Ferienpark.

Die Menschenwürde – jenes hochmoralische Versprechen der Verfassung, das als einziges Grundrecht nicht eingeschränkt werden darf – soll nun zur verhandelbaren Kategorie gemacht werden. Ein Fötus, ein Zellhaufen, ein rechtliches Nichts, solange er nicht atmet, schreit oder steuerlich veranlagt wird? Welch subversives Verständnis von Schutzbedürftigkeit – man möchte fast meinen, der Paragraph 1 GG sei neuerdings ein Antragsformular, kein Dogma.

Wehrhafte Demokratie als Illusionszauber

Man könnte vermuten, wer so locker die Menschenwürde für Ungeborene zur Disposition stellt wie eine schlecht begründete Seminarthese, würde staatlicher Macht mit Skepsis begegnen. Doch nein – Frau Brosius-Gersdorf zieht es vor, ihre juristische Energie auf ein anderes Lieblingsprojekt zu lenken: das Verbot der AfD. Nicht aus nüchterner Rechtsbetrachtung, sondern mit leuchtenden Augen und dem Brustton der Überzeugung. Ein AfD-Verbot sei ein „ganz starkes Signal“ – so nennt sie es. Signal! Welch schönes Wort, wenn man nichts verändern, aber dabei gut aussehen will.

Doch was dann folgt, ist der eigentlich aufschlussreiche Moment: Man müsse, so Brosius-Gersdorf, leider „bedenken, dass damit nicht die Anhängerschaft beseitigt“ werden könne. Beseitigt! Welch unglückliches Wort – oder war es vielleicht doch ganz bewusst gewählt? Man spürt beim Lesen förmlich das Bedauern, dass man sich zwar der Partei entledigen kann, aber nicht der Menschen, die sie wählen. Schade aber auch. Da hat man das Symptom endlich abgeschafft – und dann lebt die Krankheit einfach weiter. Diese Demokratie ist wirklich manchmal frustrierend.

Man wünscht sich fast, Frau Brosius-Gersdorf würde gleich ein Anschlussverfahren vorschlagen: nach dem Parteienverbot folgt das Wählerverbot. Ein „starkes Signal“ an all jene, die nicht richtig wählen wollen – oder schlimmer noch: überhaupt noch denken. Am besten mit rückwirkender Wirkung und digitaler Vollstreckung. Schließlich kann die Demokratie nicht wehrhaft sein, solange sie nicht auch sauber ist.

Was hier als staatsrechtliche Erwägung daherkommt, ist in Wahrheit der autoritäre Reflex der Besserwisserklasse: Man hätte sie so gern – diese radikalen Wähler, diese Störenfriede der Gesinnungshygiene – einfach aus dem Diskurs, dem Wahllokal, der Statistik. Und man sagt es auch. Fast beiläufig, fast nebenher. Als wäre es das Natürlichste der Welt: dass man sie nicht beseitigen kann. Leider.

Merz und das Orakel der Einfachheit

Und dann, als letzter Akt im moralischen Trauerspiel, tritt Friedrich Merz vor die Mikrofone – jener Mann, der als Kanzler der Selbstbehauptung inszeniert wurde, nun aber wirkt wie das museale Überbleibsel einer Partei, die einst vorgab, zwischen Soziallehre und Seelenheil zu balancieren. Die Frage, die ihm gestellt wird, ist keine banale. Keine technische. Keine taktische. Sie zielt ins Zentrum dessen, was einen Volksvertreter auszeichnen sollte: Kann er diese Entscheidung mit seinem Gewissen vereinbaren?

Die Antwort: ein schlichtes, ungerührtes, vollständig unreflektiertes „Ja“.

Kein Innehalten. Kein „Es war eine schwierige Abwägung“. Kein „Ich habe gerungen“. Kein „Ich vertraue auf die institutionelle Kraft unseres Rechtssystems“. Nein – nichts davon. Nur dieses eine, kalte, administrative Ja. Zwei Buchstaben, gesprochen mit der Emotionskraft eines Thermodruckers im Finanzamt.

Ein „Ja“ wie aus der Fabrik für politische Automatismen. Ein „Ja“ wie ein auswendig gelernter Schwur, den man längst nicht mehr versteht. Ein „Ja“, das nicht erklärt, nicht begründet, nicht verantwortet – sondern einfach nur abspult. Als sei das Gewissen ein Menüpunkt im Parteitagsprotokoll.

Vielleicht war es ein routiniertes Ja, wie man es sagt, wenn der eigene Kalender ein „Abnicken“ vorsieht. Oder ein innerlich längst entleertes Ja, das in Wahrheit ein „Ich will meine Ruhe“ meint. Vielleicht war es auch ein ironisches Ja – doch selbst dafür fehlte jede Spur von Zwinkern. So oder so: Dieses „Ja“ ist ein Totenschein. Für das Gewissen in der Politik. Für das Denken vor dem Entscheiden. Für eine Partei, die sich immer noch ein „C“ in den Namen schreibt, aber längst nicht mehr weiß, wofür es stehen sollte.

Merz sagt: Ja.

Und mit diesem Ja sagt er eigentlich alles – über sich, über seine Partei, über einen Zustand, in dem selbst das Gewissen nur noch eine lästige Nachfrage ist.

Das „C“ als Fossil – Grabrede auf ein christliches Phantom

CDU und CSU – jene Parteien, die einst den moralischen Kompass Deutschlands stellen wollten, wenn auch nicht immer treffsicher – sollten nun endlich das tun, was längst überfällig ist: das „C“ aus dem Parteinamen streichen. Nicht aus polemischer Lust, sondern aus intellektueller Redlichkeit. Denn wer einer Kandidatin zur höchsten moralischen Instanz der Republik verhilft, die ungeborenes Leben zur juristischen Fußnote erklärt, der kann sich das Christentum aus dem Namen meißeln wie man eine Heiligenstatue vom Giebel eines Bordells abnimmt. Es ist nur noch Dekoration – und niemand glaubt mehr daran.

Das „C“ ist heute nichts als rhetorisches Taxidermieprodukt – ausgestopft, poliert, an Feiertagen hervorgeholt. Die Realität sieht anders aus: Sie heißt Opportunismus, Anpassung, Machterhalt. Und mit Frau Brosius-Gersdorf als Verfassungsrichterin wird diese Realität einen roten Talar tragen.

Schlussakkord: Satire oder Prophetie?

Man fragt sich, ob das alles noch Satire ist oder schon dystopischer Realismus. Vielleicht ist es beides. Vielleicht leben wir längst in einem politischen Roman von Heinrich Böll, nur ohne Bölls Stilgefühl und Widerstandskraft. Vielleicht ist Frau Brosius-Gersdorf die logische Konsequenz eines Systems, das sich selbst als demokratisch verklärt, aber zunehmend technokratisch kastriert.

Der 11. Juli 2025 wird ein Test. Nicht für Frau Brosius-Gersdorf – die ist längst durch alle Instanzen der akademischen Selbstvergewisserung geprügelt worden. Sondern für das Parlament. Für die Parteien. Für das letzte Restgewissen einer politischen Klasse, die noch weiß, dass man über die Menschenwürde nicht abstimmen kann, ohne dabei sich selbst zur Disposition zu stellen.

Doch seien wir ehrlich: Wir kennen das Ergebnis bereits.

Merz sagt ja.

Und das „C“ stirbt schweigend.

POST N° 700

Die Zahl 700 – Eine Meditation über Struktur, Fülle und Grenze

In der Welt der Zahlen gibt es jene, die sich in den Vordergrund drängen – Primzahlen, transzendente Größen, irrationale Unikate –, und jene, die im Schatten stehen, scheinbar zu rund, zu glatt, zu ordentlich, um Aufmerksamkeit zu verlangen. Die Zahl 700 gehört zur letzteren Kategorie. Und doch, gerade in ihrer Unscheinbarkeit verbirgt sich eine komplexe Schönheit, ein mathematisches Echo aus verschiedenen Sphären der Ordnung, Struktur und kulturellen Konnotation.

I. Die arithmetische Maske der Vollkommenheit

700 – eine Zahl, so rund, dass sie fast trivial erscheint. Sie endet auf zwei Nullen, was sie augenblicklich als ein Vielfaches von 100 ausweist. Sie ist das Produkt von 7×100, selbst ein Ausdruck von Symbolkraft: Die Zahl 7, mit ihrer tiefen mythologischen, biblischen und naturwissenschaftlichen Bedeutung (sieben Tage der Schöpfung, sieben Farben des Regenbogens, sieben Töne der Oktave), multipliziert mit der Dezimalvollendung 100, dem Quadrat von 10, der Basis unseres Zahlensystems.

In diesem Sinne ist 700 keine bloße Größe, sondern ein struktureller Hybrid: Sie verbindet das Sakrale mit dem Rationalen, das Mystische mit dem Messbaren. Sie ist keine Primzahl, kein Baustein der Ursprünglichkeit, aber sie ist eine Mauer aus vielen Steinen – zusammengesetzt, stabil, segmentiert.

II. Die Teilbarkeit der Welt

Mathematisch gesehen ist 700 ein Paradebeispiel für Kompositität. Ihre Primfaktorzerlegung lautet:

700=2 x 2 x 5 x 5 x 7

Drei Basen: Eine geradzahlige, zwei ungerade. Zwei Potenzen, ein linearer Faktor. Diese Struktur ist nicht willkürlich. Sie offenbart eine Hierarchie der Teilbarkeit, ein Mikrosystem des Ordnens, eine kleine Zivilisation arithmetischer Diplomatie. Die 700 lässt sich teilen durch 1, 2, 4, 5, 7, 10, 14, 20, 25, 28, 35, 50, 70, 100, 140, 175, 350 und natürlich durch sich selbst. Achtzehn positive Teiler – sie ist gastfreundlich, diese Zahl, großzügig mit ihren Teilbarkeiten, eine Bühne für arithmetische Interaktionen.

Und dennoch: Keine Zahl teilt sie so, dass ein neuer Anfang daraus erwächst. Sie ist keine Potenz, keine Primzahl, kein Grenzwert. Sie ist eine Brücke.

III. Zahlensymbolik, oder: Die stille Kultur der 700

Abseits der mathematischen Struktur trägt die Zahl 700 auch kulturelle Spuren. Sie ist zu groß, um alltäglich zu sein, und zu klein, um unendlich zu wirken. Sie ist eine Zahl, die in Jahreszahlen als „Epoche“ auftaucht – das Jahr 700 nach Christus: tiefes Frühmittelalter, fern und neblig. Keine Zahl für Technik, keine für Ökonomie. Eher eine Zahl der Geschichte, der Distanz.

In manchen Systemen erscheint sie als Maß: 700 Meter, 700 Gramm – ein Bereich der Knappheit. Nicht genug, um monumental zu sein, aber doch mehr als ein Fragment. Es ist eine Zahl des „Beinahe“, des Unvollständig-Vollständigen, ein Grenzwert zwischen Kleinmaß und Masse, zwischen Einzelwert und Aggregat.

IV. Zwischen Linearität und Modularität

Was ist die Zahl 700 in einem modularen System? In der Arithmetik modulo 7 etwa ist 700 ≡ 0. In Modulo 9 ergibt 7 + 0 + 0 = 7. In Modulo 6 ist sie 700 ≡ 4. Hier entfaltet sich eine neue Identität, je nach Bezugsrahmen. Die 700 ist nicht absolut – sie ist relational, ihr mathematisches Wesen hängt vom Kontext ab. Sie ist wie eine Figur, die in verschiedenen Romanen verschiedene Rollen spielt, ohne ihre Form zu verlieren.

V. Die 700 als Schwellenzahl

Am Ende ist 700 eine Schwelle. Eine Schwelle zwischen klein und groß, zwischen bekannt und anonym. Sie ist keine magische Zahl, aber eine, die an vielen Orten nahe dran ist. Nahe an der 720 (der Anzahl der Winkelgrade eines Sechsecks), nahe an der 729 (dem Würfel von 9), nahe an der 701 (einer Primzahl).

700 ist eine Grenze ohne Mauer, eine Linie ohne Farbe. Sie ist das, was in der Mathematik am seltensten ist: eine bescheidene Zahl – und genau deshalb verdient sie Beachtung.


Epilog:
Die Zahl 700 ist wie ein Schatten in der Geometrie des Denkens. Kaum beachtet, selten gefeiert – und doch, wer ihr zuhört, entdeckt in ihr nicht weniger als eine kleine Philosophie: von der Teilbarkeit des Seins, von der Ordnung der Unspektakulären, von der Tiefe der runden Dinge.

Das Misstrauen als letzte Form der Zuneigung

Eine Elegie auf europäische Verantwortung

Es ist wieder einer dieser Tage, an dem der Lack der europäischen Idee unter dem institutionellen Alltag abblättert wie billige Farbe auf feuchtem Beton. Morgen also: das Misstrauensvotum gegen Ursula von der Leyen. Jene Dame, die sich in einer bemerkenswert nahtlosen Bewegung von der familienpolitischen Buntpapierwelt der Berliner Ministerien über das Datengrab verteilter Diensthandys bis zur goldverzierten Kanzel der Rüstungsglobalisierung emporgehoben hat. Wenn es einen politischen Lebenslauf gibt, der sich als seismografischer Ausdruck westlicher Dekadenz lesen lässt, dann ist es ihrer: Von der Verteidigung des Betreuungsgeldes zur Verteidigung der Interessen von Pfizer, Rheinmetall und geopolitischer Ambitionen – ein Kontinuum aus moralischer Akrobatik und PR-dichtem Nebel.

Man wird morgen also nicht über Europa abstimmen – dieser hermetischen, gläsernen Kathedrale der Kompromisse und Kommissionsposten –, sondern über das, was davon noch übrig ist: Demokratie, Transparenz, politische Verantwortung. Große Worte, deren Sinngehalt sich in Brüssel mittlerweile in Fußnoten, Ausschusssitzungen und grinsenden Lobbyisten auflöst. Und doch: ein Hauch von Gerechtigkeit liegt in der Luft, wie der letzte Rest Parfum in einem leeren Flakon. Das Misstrauensvotum ist kein Akt des Putsches – es ist ein politisches Placebo, das wenigstens noch versucht, Symptome zu benennen, wenn Heilung längst ausgeschlossen wurde.

Vom SMS-Schreddern zur Rüstungspäpstin – Eine Karriere wie aus dem Katalog der Unverfrorenheit

Was von der Leyen eint, ist nicht ihre Überzeugung, sondern ihre Elastizität. Eine Frau, die mit militärischer Strenge ihren eigenen Opportunismus verwaltet und dabei so tut, als sei dies europäische Staatskunst. Ihre berühmten „verschwundenen“ SMS zur milliardenschweren Impfstoffbeschaffung – 35 Milliarden Euro, irgendwo zwischen Daumen und Display verdampft – wären in jeder anderen Demokratie ein Skandal mit Rücktrittsfunktion. In der EU hingegen? Eine Fußnote. Eine unangenehme, aber eben keine folgenreiche. Korruption ist hier nicht das Problem – sie ist das System.

Und nun, mit martialischer Brillanz, lenkt sie Milliarden in die Taschen der Rüstungsindustrie, als wäre das Aufrüsten eine Art moralische Selbstreinigung. Die Ukraine wird zum Anlass, zur Bühne, zur historischen Chance – nicht für Frieden, sondern für Waffenexportstatistiken. Von der Leyen steht dort, wo einst Kommissionspräsidenten Diplomatie betrieben – und ruft nach Munition, mehr Waffen, mehr Milliarden. Aus der christdemokratischen Kinderstube ist längst ein militärindustrielles Planungsbüro geworden, inklusive PR-Kampagne für moralisch gereinigte Rüstung.

Feindbildpflege als Selbstschutz – Wenn Kritik zur Ketzerei wird

Dass Frau von der Leyen in der Kritik nun ausschließlich Impfgegner und Putin-Anhänger vermutet, ist nicht nur politisch schäbig – es ist ein intellektuelles Armutszeugnis. Denn was könnte entlarvender sein als die Reflexhaftigkeit, mit der legitime demokratische Kontrolle in die Nähe von Verschwörung und Vaterlandsverrat gerückt wird? Hier spricht keine Demokratin, sondern eine Funktionärin, die sich selbst mit der Institution verwechselt hat. Kritik an ihr? Das sei Kritik an Europa. Misstrauen gegen sie? Das sei Misstrauen gegen die Demokratie. Welch großartiger Taschenspielertrick!

In Wahrheit sind es genau solche Entgleisungen, die das Vertrauen in die europäische Idee untergraben. Denn wer politische Verantwortung durch moralische Immunisierung ersetzt, hat die Bühne der Demokratie längst verlassen. Frau von der Leyen lebt in einer Parallelwelt aus Buzzwords, Beratungsverträgen und politischer Unantastbarkeit. Sie regiert nicht, sie inszeniert – mit einer Mischung aus Selbstgewissheit und Weltfremdheit, die man sonst nur noch in Davos oder auf Rüstungskongressen findet.

Europa als Schattenkabinett – Zwischen Konzerninteressen und Rhetorikruinen

Die EU, so behaupten ihre Verteidiger, sei ein Friedensprojekt. Und tatsächlich: Frieden herrscht – vor allem zwischen Politik und Industrie. Zwischen Beratungshonoraren und Gesetzgebung. Zwischen Lobbyinteressen und intransparenten Entscheidungswegen. Wer Ursula von der Leyen beobachtet, bekommt eine Ahnung davon, was mit Europa geschieht, wenn es zur Behörde für globale Marktsteuerung verkommt. Die Kommission ist kein Ort der Vision mehr – sie ist ein Unternehmen mit angeschlossener PR-Abteilung. Frau von der Leyen ist nicht Präsidentin – sie ist CEO eines Konzerns namens Europäische Union.

Und doch: vielleicht ist dieses Misstrauensvotum mehr als ein Symbol. Vielleicht ist es der letzte Rest parlamentarischer Würde, der versucht, den Schein zu retten, wenn schon nicht die Substanz. Vielleicht ist es ein Aufbegehren gegen die Selbstermächtigung, gegen die politische Arroganz, gegen eine Form der Macht, die sich selbst nicht mehr erklären muss. Wenn man ihr morgen das Vertrauen entzieht, dann nicht, weil man gegen Europa ist – sondern weil man es retten will. Vor ihr.


Denn wer Misstrauen nicht erträgt, hat Vertrauen nicht verdient.

Der Trojaner reitet wieder

oder: Wie man mit einem digitalen Schnüffelwerkzeug die Republik zum Schweigen bringen will

Es ist ein eigenartig ranziger Geruch, der aus den Amtsstuben weht, wenn Innenminister Karner wieder einmal zum Mikrofon schreitet, mit jener betonten Sachlichkeit im Ton, die stets dann bemüht wird, wenn es um Dinge geht, die technokratisch klingen, aber autoritär riechen. Der #Bundestrojaner, verkündet er mit pflichtschuldiger Staatsmiene, sei „notwendig“ – ein Wort, das in der österreichischen Politiktradition zuverlässig Alarm auslösen sollte, besonders wenn es in Verbindung mit Überwachung, Polizei und der sanften Erosion des Rechtsstaats fällt.

Man müsse, so Karner, mit der Zeit gehen, aufrüsten gegen Terror, Cybercrime, gegen die abstrakten Bedrohungen dieser Zeit. Was er nicht sagt – aber alle hören – ist, dass der Trojaner weniger zur Bekämpfung von Kriminalität gedacht ist als zur Eindämmung von Kritik. Denn – machen wir uns nichts vor – niemand verhindert mit einem staatlich kontrollierten Trojaner eine Gewalttat in Villach oder Graz. Diese Attacken waren weder digital organisiert noch über Messengergruppen koordiniert, und der Versuch, sie als Begründung für die Totalüberwachung heranzuziehen, ist nichts weiter als ein zynischer Taschenspielertrick mit Beigeschmack: pietätlos, durchschaubar, gefährlich.

Digitale Dialektik: Zwischen Sicherheitsrhetorik und Demokratieabbau

Die Dialektik der politischen Lüge ist immer dieselbe: Wer gegen Überwachung ist, ist gegen Sicherheit. Wer Zweifel an der allumfassenden Abhörtechnik hat, misstraut der Polizei. So jedenfalls Karners Logik – oder besser gesagt: sein moralischer Erpressungsversuch. Denn wer die Ablehnung des #Bundestrojaners als Misstrauensvotum gegen die Polizei framen will, hat entweder kein besonders stabiles Demokratieverständnis – oder hält seine Bürger für derart naiv, dass sie diesen Taschentausch für bare Münze nehmen.

Es ist ein kläglicher Versuch, Kritik zu delegitimieren: Eine jämmerliche Weinerlichkeit, weil man dem Minister und seinen Apparatschiks auf die Schliche gekommen ist. Sie wollen nicht nur Terroristen überwachen – sie wollen Journalisten, Whistleblower, politische Gegner ins digitale Netz ziehen. Die Definition von „Gefährder“ ist dehnbar wie das Budget des Bundeskanzleramts für Imagepflege. Wer unbequem ist, könnte bald schon als „digital auffällig“ gelten. Und einmal am Haken der Behörden, fischt es sich gleich leichter: Chats, Kontakte, Netzwerke, alles schön sauber extrahiert – nicht für den Rechtsstaat, sondern für den Machterhalt.

Die Innenpolitik als dunkle Kunst der Verdächtigung

Karner, ein Mann, dessen Charisma in etwa der Ausdruckskraft eines Amtsstempels entspricht, weiß selbstverständlich, dass seine technischen Behauptungen nicht haltbar sind. Dass man mit einem #Bundestrojaner keine realen Taten im öffentlichen Raum verhindert. Dass Überwachung selten verhindert, sondern meist nur dokumentiert – und das auch nur, wenn man Glück hat. Aber die Wahrheit ist, in dieser Republik ist nicht entscheidend, was funktioniert, sondern was sich verkaufen lässt.

Und verkaufen lässt sich Überwachung immer – solange man genug Angst erzeugt. Terror, Kindesmissbrauch, organisierte Kriminalität – das sind die Joker im politischen Kartenspiel. Wer diese Karten spielt, muss keine sachliche Debatte mehr führen. Und wehe dem, der es dennoch versucht: Der wird umgehend in die Nähe der Kriminellen gerückt, der Verharmloser, der Naivling, der Nestbeschmutzer. Es ist die dunkle Kunst der Verdächtigung, die Karner betreibt – nicht als Innenminister, sondern als Verunsicherungsminister.

Von der ÖVP lernen heißt fürchten lernen

Die ÖVP, diese ehemals konservative Partei mit katholischem Stallgeruch und Wirtschaftsnähe, hat sich längst in eine staatsmonopolistische Kontrollmaschine verwandelt, die ihre Macht mit allen Mitteln zu sichern versucht. Und weil Skandale, Chats, Postenschacher und Untersuchungsausschüsse einfach nicht mehr aus dem medialen Dauerfeuer zu halten sind, versucht man es jetzt mit der totalen Kontrolle – der digitale Präventivschlag gegen jede Form von Opposition.

Man muss sich das auf der Zunge zergehen lassen: Der Staat, wie ihn die ÖVP sich vorstellt, ist ein riesiger Raumüberwacher mit Trojanern, Kanzler-Sprechpuppen, Message-Control und einem hysterischen Verhältnis zur Pressefreiheit. Alles, was der Aufklärung dient, wird bekämpft, alles, was der Vertuschung nützt, wird gefördert. Das ist kein Schutz der Bürger – das ist ein Schutz der Macht. Und die Polizei, deren Arbeit wir im besten Sinne unterstützen sollten, wird in diesem System zum Mittel der politischen Kontrolle degradiert. Missbraucht für Parteizwecke, missverstanden als Werkzeug der Demokratie, missbraucht als moralisches Schutzschild für autoritäre Fantasien.

Fazit: Der Trojaner gehört in die griechische Mythologie, nicht ins Bundesgesetzblatt

Die Demokratie stirbt nicht mit einem Knall, sondern mit einem Software-Update. Und wenn der #Bundestrojaner kommt, dann nicht als Heldenwerkzeug, sondern als digitales Trojanisches Pferd: außen Sicherheit, innen Zersetzung. Wer glaubt, dass man damit Verbrechen verhindert, irrt. Wer weiß, dass man damit Kontrolle gewinnt, sagt es besser nicht laut. Und wer sich dagegen wehrt, wird zum Feind erklärt.

Karner hat also recht, wenn er sagt, dass der Trojaner notwendig ist – nur eben nicht für die Sicherheit der Bürger, sondern für die Sicherheit seiner eigenen politischen Haut. Doch wir sind nicht verpflichtet, seine Alpträume von Kontrolle mitzuträumen. Wir schulden der Polizei Respekt, nicht blinde Gefolgschaft. Wir schulden der Republik eine informierte Debatte, keine hündische Unterwerfung. Und wir schulden der Freiheit ihren Schutz – gerade gegen jene, die sie im Namen der Sicherheit abschaffen wollen.

Die einzige Software, die wir jetzt brauchen, ist ein Update der politischen Kultur.
Und zwar dringend.

Die Würde des Menschen beginnt – irgendwann. Vielleicht. Später. Mal sehen.

Es war einmal – so beginnen Märchen, und vielleicht sollte man auch diesen Fall als solchen behandeln – ein Land, das stolz darauf war, die „unantastbare Menschenwürde“ in den ersten Satz seines Grundgesetzes geschrieben zu haben. Eine Art metaphysisches Versprechen, ein Fundament der Zivilisation, errichtet auf den Trümmern der Barbarei. Und siehe da: Jahrzehnte später steht dort, fast unbemerkt, eine Professorin der Rechte und spricht, mit der sanften Autorität juristischer Glätte, einen folgenreichen Satz: Die Menschenwürde beginne erst mit der Geburt. Nicht mit der Empfängnis, nicht mit der Nidation, nicht mit der Entwicklung eines Nervensystems oder dem ersten Herzschlag – nein, mit der Geburt, exakt in jenem Moment, wenn das Kind den Mutterleib verlässt, der erste Atemzug, ein bürokratisch fassbares Ereignis. Voilà: Der Mensch tritt ein in die Arena der Würdeträgerschaft. Davor? Nur Zellhaufen, biologische Warteschleifen, möglicherweise zukünftiges Leben, das derzeit jedoch noch keine Einladung zum Club der Menschen erhalten hat.

Wie praktisch. Wie elegant. Wie erschütternd.

Diese Position ist kein bloßer juristischer Taschenspielertrick. Sie ist der Versuch, eine Grenze zu ziehen, wo eigentlich das Unverfügbare wohnt. Und wie alle Grenzziehungen dieser Art ist sie willkürlich, gefährlich und ethisch fragwürdig. Denn wer dem ungeborenen Menschen die Würde abspricht, der öffnet Türen – nein, der sprengt sie mit juristischer Dynamitstange – hin zu einer Welt, in der Nützlichkeit, Sichtbarkeit, Verfügbarkeit darüber entscheiden, ob ein Leben zählt. Willkommen im Feuilleton der biopolitischen Rentabilitätslogik.

Von der Macht der Worte und der Ohnmacht der Ethik

Nun mag man einwenden: Das ist doch juristisch korrekt! Und ja – die rechtliche Konstruktion ist formvollendet, fast schon kunstvoll in ihrer Präzision. Doch gerade hier liegt der Skandal: Es ist eine Perfektion, die nichts mehr mit Wahrheit zu tun hat. Eine sterile, normierte Makellosigkeit, die aus der Feder einer Juristin stammt, deren Aufgabe es wäre, Recht nicht nur zu deuten, sondern auch im Lichte der Ethik zu verteidigen. Brosius-Gersdorf jedoch wählt die Flucht in die kalte Technik des Rechts. Ihr Satz ist das juristische Äquivalent eines sezierenden Skalpells: sauber, scharf, und ohne jedes moralische Zucken.

Denn was bedeutet es, die Geburt zur Schwelle der Würde zu erklären? Es bedeutet, dass das ungeborene Kind bis zum letzten Moment verfügbar ist – ein Besitz, eine Option, ein „noch-nicht-Mensch“, der ohne Konsequenz geopfert, selektiert oder abgetrieben werden darf. In der Konsequenz heißt das: Der siebte, achte, gar neunte Monat? Solange der Geburtskanal nicht betreten wurde, bleibt das Leben eine juristische Grauzone, eine ethische Leerstelle.

Das ist keine Aufklärung. Das ist Regression – eine Rückkehr zu einem funktionalen Menschenbild, das an Nützlichkeit und Sichtbarkeit glaubt, nicht an Wesenhaftigkeit. Brosius-Gersdorfs Position ist kein Fortschritt. Sie ist das intellektuelle Kleid einer biopolitischen Ideologie, die vorgibt, modern zu sein, aber in Wahrheit der kalte Bruder des Utilitarismus ist. Mensch ist, wer funktioniert. Wer auf der Weltbühne erschienen ist. Wer Papiere hat. Und alle anderen? Noch nicht ganz da. Noch nicht ganz würdig. Vielleicht bald. Vielleicht nie.

Das Recht als Fata Morgana der Moral

Juristen – das muss man ihnen lassen – lieben die Konstruktion. Je abstrakter, desto besser. Die Menschenwürde, so sagen sie, ist „ein normativer Begriff“. Und normativ heißt: Man kann ihn definieren. Doch was passiert, wenn man beginnt, das Unverfügbare verfügbar zu machen? Wenn man das moralische Tabu des Lebensbeginns durch Definitionen ersetzt, die sich wunderbar in Kommentaren nachschlagen lassen, aber nichts mehr mit dem zu tun haben, was Menschen intuitiv als Leben erkennen?

Brosius-Gersdorf hat mit ihrem Satz nicht einfach eine Meinung geäußert. Sie hat einen Grundwert in Frage gestellt. Sie hat gesagt: Wir, die Juristen, entscheiden, wann Leben beginnt. Wann Würde zählt. Wann Menschsein beginnt. Und wir tun es auf Grundlage eines funktionalistischen Rationalismus, der sich selbst für objektiv hält – in Wahrheit aber tief ideologisch ist. Denn was ist ideologischer als die Behauptung, es gäbe eine Stunde Null der Menschenwürde, die exakt mit einem körperlichen Ereignis beginnt?

Es ist der größte Etikettenschwindel des modernen Rechts: Man redet von Würde, meint aber Verfügbarkeit. Man redet von Selbstbestimmung, meint aber Nutzbarmachung. Und man redet von Freiheit, meint aber die Freiheit, das Schwächste preiszugeben. Kein Wunder, dass diese juristische Brillanz so gerne von Technokraten und Biopolitikern zitiert wird. Sie brauchen ihre moralische Tarnung. Brosius-Gersdorf liefert sie frei Haus.

Das Kind als Projektionsfläche postmoderner Beliebigkeit

Natürlich ist diese Haltung in den progressiven Kreisen beliebt. Sie passt zum Zeitgeist. Autonomie! Selbstbestimmung! Reproduktive Rechte! Alles wunderbar. Doch wer genau hinschaut, erkennt: Der Preis für diese Freiheit wird von denen bezahlt, die keine Stimme haben. Die nicht geboren sind. Die auf den guten Willen anderer hoffen müssen. Und deren Dasein zur Disposition steht, solange eine Richterin behauptet, sie hätten noch keine Würde. Denn erst wenn die Nabelschnur durchtrennt ist, beginnt das Fest der Menschenrechte.

Die Ironie ist kaum zu überbieten: Ausgerechnet jene, die sich als Verteidigerinnen des Lebensrechts der Frauen verstehen, sprechen einem anderen Leben dieses Recht vollständig ab. Und nennen das Fortschritt. Man könnte fast lachen, wenn es nicht so tragisch wäre.

Fazit: Tragbar? Juristisch vielleicht. Ethisch ein Desaster.

Ist Frauke Brosius-Gersdorf als Verfassungsrichterin tragbar? Juristisch gesehen: zweifellos. Ihre Texte sind klar, ihre Argumentation ist kohärent, ihre Expertise unbestritten. Aber das allein darf nicht genügen. Denn Richter am Bundesverfassungsgericht tragen nicht nur schwarze Roben, sie tragen Verantwortung. Für Werte. Für Ethik. Für die Deutung dessen, was dieses Land im Innersten zusammenhält. Und wer den Begriff der Menschenwürde zu einem technischen Etikett macht, das man je nach Bedarf ankleben oder entfernen kann, disqualifiziert sich moralisch.

Man kann Brosius-Gersdorfs Haltung nur als das bezeichnen, was sie ist: eine intellektuelle Kapitulation vor der heiklen Frage, wann das Leben beginnt. Und eine juristisch verkleidete Verneinung der universellen Idee, dass Würde nicht verliehen wird, sondern mit dem Dasein beginnt – geboren oder nicht.

Wenn diese Frau über Menschenwürde richten soll, dann Gnade uns das Grundgesetz. Und die ungeborenen Kinder erst recht.