Sender Gleiwitz getroffen?

Ein nächtlicher Zwischenfall, der keiner sein darf

Es war wieder eine dieser Nächte, in denen der Himmel über Osteuropa nicht von Sternen, sondern von fliegenden Baumarktartikeln aus iranischer Fertigung erhellt wird. Shahed-Drohnen – die IKEA-Regale der modernen Kriegsführung, nur ohne Aufbauanleitung und Rückgaberecht – durchpflügten den polnischen Luftraum. Neunzehn Mal, so ließ man uns wissen, sei die unsichtbare Grenze durchbohrt worden. Neunzehn Mal also dieser kleine, scharfe Stich ins nationale Selbstbewusstsein, begleitet von der gebetsmühlenhaften Versicherung, dass „alle Verfahren ordnungsgemäß funktioniert haben“. Ein Satz, so steril wie die Verpackung von OP-Besteck, aber ebenso wenig dazu geeignet, den Blutdruck einer Nation zu senken, die ihre geografische Position seit Jahrhunderten als ein zwischen Amboss und Hammer gelegtes Brettchen erfährt.

Natürlich, nichts sei geschehen, außer eben dass etwas geschah. Keine Toten, kein brennendes Warschau, kein Donnerschlag der Katastrophe. Nur das Gespenst des Krieges, das seit Februar 2022 mit viel zu realem Atem durch die Flure weht, nun auch über die Weichsel hinweg. Und während die Luftsirenen heulen, beruhigen uns Ministerpräsident, Staatspräsident und Verteidigungsminister im Chor wie eine schlecht geprobte Kirchenkapelle: „Alles in Ordnung, keine Panik, die Verfahren, die Verfahren!“ – als ob die Verfahren, diese wundersamen Automaten des Staates, kugelsicher seien, raketenfest und mit moralischer Autorität ausgestattet.

Historische Déjà-vus und andere Démonstrationen

„Noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg stand Polen so nahe an einem offenen Konflikt“, ließ der Premier verlauten. Welch eine Bemerkung! Man möchte den Stenographen bitten, hier die ironische Fußnote einzutragen: Siehe 1939, siehe Gleiwitz. Denn was ist Geschichte anderes als eine Revue von Wiederholungen in immer neuen Kostümen? Gleiwitz war ein fingiertes Radiogeknatter, ein PR-Stunt im Maßanzug der Wehrmacht, um das „Zurückschießen“ zu begründen. Heute, im Zeitalter der Drohnen, ist das Theater nicht weniger durchschaubar, nur eben technisiert. Damals ging man mit Leichen in polnischen Uniformen auf Sendung, heute reicht eine surrende Blechkiste aus Fernost, um die diplomatische Pulsuhr in den roten Bereich zu treiben.

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Dass Tusk, der Pragmatiker aus Brüssel, den Vergleich zum Krieg der Kriege wagt, ist einerseits ein rhetorischer Taschenspielertrick, andererseits auch ein Symptom jener kollektiven Angst, die sich durch das Land frisst wie Holzwürmer durch das Parkett der Nationalgeschichte. Der „September-Schock“ sitzt tief im polnischen Gedächtnis. Man muss kein Freud sein, um zu erkennen, wie jede Grenzverletzung sofort zur Neuauflage einer nationalen Trauma-Serie wird: Staffel 1939, Staffel 1944, Staffel 1981. Und nun, willkommen zu Staffel 2024, präsentiert von Shahed und gesponsert von Gazprom.

Verfahren, Formeln, Versprechen – oder: Die Illusion der Kontrolle

Doch bleiben wir einen Moment bei diesem köstlich bürokratischen Satz: „Alle Verfahren haben ordnungsgemäß funktioniert.“ Es ist die Art von Beruhigung, die nur in Amtsstuben erfunden werden kann, wo der Krieg stets als Formular erscheint, nie als Granatsplitter. Man stellt sich vor, wie die Beamten mit Lineal und Stempel bewaffnet an der Grenze stehen: „Drohne, bitte hier den Antrag auf Luftraumverletzung einreichen. Dreifach ausgefüllt, mit Durchschrift für die NATO.“ Und während draußen Metall regnet, sitzt drinnen ein Jurist und nickt zufrieden: alles nach Vorschrift, alles im Verfahren, alles in bester Ordnung.

Doch das Volk, diese notorisch unvernünftige Größe, hört das anders. Für den Bürger, der die Sirene hört, heißt „Verfahren“ nicht, dass er ruhig schlafen darf. Für ihn bedeutet es: Irgendwo in einem fensterlosen Keller sitzt jemand und hakt Kästchen ab, während über seinem Haus etwas summt, das explodieren könnte. Die Bürokratie als Sicherheitskonzept – es ist, als würde man im brennenden Theater auf die Einhaltung der Brandschutzordnung verweisen, statt den Notausgang aufzusperren.

Zwischen NATO-Schirm und historischer Nacktheit

Natürlich, der große Trost heißt NATO. Artikel 5, das magische Schutzschild, der vermeintliche Stahlhelm, unter dem Polen sich kauert wie ein Kind unter der Bettdecke. Doch die Frage bleibt: Wird dieser Artikel wirklich so fest stehen, wenn eine Drohne tatsächlich trifft, wenn es nicht nur um Luftraumverletzung, sondern um Rauch und Schutt geht? Oder wird man sich dann in Washington, Berlin und Paris auf die semantischen Feinheiten zurückziehen: War es ein Angriff? Ein technisches Versehen? Ein plausible deniability-Manöver, wie es die Russen so gern in Serie produzieren?

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Die bittere Wahrheit: Polen ist zwar NATO-Mitglied, aber es bleibt, geografisch betrachtet, das immergleiche Vorzimmer des Ostens, das Pufferland, das seit Jahrhunderten von fremden Armeen als Durchgangszimmer benutzt wird. Die Drohnen fliegen nicht nur durch die Luft, sie fliegen durch das kollektive Gedächtnis – und erinnern daran, dass kein Bündnis die nackte Angst vor dem Déjà-vu vertreiben kann.

Epilog mit Augenzwinkern

Man könnte sich fast wünschen, es bliebe bei diesen Drohnenüberflügen, bei den Verfahren, die funktionieren, bei den Kanzleien, die Listen führen. Denn die Alternative hieße, dass die Geschichte wieder in Farbe und Blut auf die Bühne tritt – und wir alle wissen, wie schlecht sie in den Hauptrollen besetzt ist. Vielleicht ist die größte Pointe, dass wir den Ausdruck „Sender Gleiwitz“ inzwischen nur noch aus Geschichtsbüchern kennen, während sich die Gegenwart ihre eigenen Inszenierungen sucht: nicht mehr ein fingiertes Radiostudio, sondern eine surrende Drohne über der Weichsel.

Die Ironie des Ganzen? Vielleicht wird man in dreißig Jahren Schülern erklären müssen, dass 2024 die Welt an der Grenze zu Polen stand und es fast wieder so weit gewesen wäre – und man wird, wie immer, hinzufügend sagen: „Aber die Verfahren, Kinder, die Verfahren! Die haben ordnungsgemäß funktioniert.“

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