
Demokratie als Risikoabschöpfungsmodell
Der demokratische Rechtsstaat ist ein zartes Pflänzchen. Er braucht Pflege, Fürsorge, Wachsamkeit – und im Zweifelsfall ein bisschen autoritäres Mikromanagement. Jedenfalls scheint das die neue sicherheitspolitische Gartenlehre aus Berlin zu sein, wie jüngst wieder mit einem in seiner diskreten Schamhaftigkeit fast rührenden Schritt der Innenministerin demonstriert wurde. Ein Gutachten, wohlgemerkt „nur für den Dienstgebrauch“, stuft die stärkste Oppositionspartei als „gesichert rechtsextrem“ ein. Nicht etwa möglicherweise oder wahrscheinlich, sondern „gesichert“ – als hätte man in einem Geheimlabor endlich den ideologischen Erreger unter dem Mikroskop isoliert. Bravo, Nancy. So diskret, so schnörkellos, so grundrechtlich minimalinvasiv.
Man kann es auch als eine Art von chirurgischem Demokratieverständnis bezeichnen: Ein kleiner, präziser Schnitt am Parteienpluralismus, möglichst ohne Öffentlichkeit, ohne Widerspruch, ohne Verfahren – und dann ab in den verfassungsrechtlichen Abfallcontainer. Es ist die perfide Eleganz der Macht, die sich darin offenbart: Während das Verfahren noch schläft, marschiert das Urteil schon durch die Nachrichtenagenturen. Das nennt man dann wohl Demokratieschutz durch Vorverurteilung. Wer fragt, ob das mit Demokratie noch irgendetwas zu tun hat, steht schneller im „rechten Eck“, als man „Verfassungsschutz“ sagen kann – dieser politpoetische Begriff, der immer weniger mit Schutz und immer mehr mit Verfassung zu tun hat.
Faeserland ist abgebrannt: Wenn die Ministerin das Denken übernimmt
Was ist eigentlich das Ziel dieser stillen Exkommunikation? Wähler erziehen? Der Diskurs säubern? Die Demokratie immunisieren, wie man es mit einem Prebunking-Virus tun würde, wie Ursula von der Leyen es so schön vorschlug? Der Slogan „Vorbeugen ist besser als heilen“ klingt verdächtig nach einem Desinfektionsmittel für politische Meinungsvielfalt. Das Denken wird zur infektiösen Krankheit erklärt, und das politische Heilmittel heißt: möglichst frühzeitig verdächtige Gedanken isolieren – samt ihrer Träger. Wer einmal auf der Liste steht, kommt schwer wieder runter. Man könnte fast meinen, man hätte den autoritären Reflex nicht bekämpft, sondern lediglich neu etikettiert.
Es ist ein Fortschritt in der Verwaltung des Sagbaren, dass der Diskurs nicht mehr über Debatten geregelt wird, sondern über Gutachten. Demokratie wird nicht mehr gelebt, sondern bewertet. Und zwar von Behörden, die in ihrer Loyalität zur Ministerin einen so stabilen Kontakt haben wie der Verfassungsschutz zur politischen Zweckmäßigkeit. Früher schrieben Philosophen über den Souverän, heute schreibt der Inlandsgeheimdienst darüber, wer überhaupt in seiner Nähe stehen darf.
Die 60-Prozent-Republik: Applaus für Abwesenheit
Liebe Wahlberechtigte, 60 Prozent Wahlbeteiligung – das ist das neue „Wir haben geliefert“. 40 Prozent Abwesenheit sind nicht etwa ein Zeichen politischer Entfremdung, sondern eine Form demokratischer Schrumpfungspflege. Man versteht sich mit dem Rückzug. Wer nicht wählt, überlässt das Feld freiwillig jenen, die es besetzen dürfen – und sei es mit dem Segen einer ministeriellen Totalvermutung. Doch wer sich dann noch beklagt, hat laut offizieller Lesart kein Recht zur Klage. So einfach ist Demokratie heute: Wer nicht mitmacht, wird gezählt, aber nicht gehört. Und wer mitmacht, aber falsch wählt, wird pathologisiert.
Die Demokratie lebt. Aber wie ein Koma-Patient, der durch Infusionen aus EU-Geldern, Verwaltungsakten und Talkshow-Applaus künstlich beatmet wird. Und währenddessen sprechen ihre Pfleger von „wehrhafter Demokratie“ – was so klingt wie „sanfte Strangulierung im Namen der Rechtsstaatlichkeit“. Die Gewaltenteilung winkt freundlich aus dem Off, während die Exekutive das Urteil spricht, bevor irgendein Gericht es lesen darf.
Vom Rechtsstaat zur Meinungsdesinfektion: Hygienemaßnahmen für das Wahlvolk
Informationsmanipulation, so sagt Frau von der Leyen, sei wie ein Virus. Und tatsächlich, der Vergleich hinkt nicht – er kriecht, speichelt, krampft. Wer infiziert ist, muss behandelt werden, wer noch gesund ist, wird geimpft – mit Prebunking. Ein Begriff so steril und bürokratisch, dass selbst Orwell ihn abgelehnt hätte. Das Prebunking ist gewissermaßen der Zensur-Vorläufer, die Prophylaxe gegen das Denken, bevor es beginnt. Man impft das Volk gegen Informationen, die nicht mit dem gewünschten Narrativ harmonieren – wie eine Firewall gegen Meinungsabweichung.
Es ist die Aufklärung in ihrer inversen Phase: Nicht der mündige Bürger, sondern der präventiv überwachte Verdachtsfall. Und wer sich dieser „Immunisierung“ widersetzt, der ist dann eben – ja, genau – ein Symptom. Ein Symptom der Krankheit, gegen die sich der demokratische Körper wehren muss. Ein Keim. Ein Träger. Ein Nichtdenker. Ein Feind.
Was bleibt? Das Mantra vom Schutz – und das Grinsen der Geschichte
Was bleibt, ist die vollendete Umdeutung. Die Demokratie schützt sich nicht mehr durch Diskurs, durch Toleranz, durch Stärke. Sie schützt sich durch Listen, Akten, Bewertungen und das sprachlich weichgebettete Ausschalten der Opposition. Eine Demokratie, die meint, nur noch durch Exkommunikation überleben zu können, hat ihre immunologische Selbstsicherheit längst verloren. Und das macht sie anfällig. Nicht für Rechtsextremismus. Sondern für sich selbst.
Denn irgendwann, in einer stillen Nacht, wird ein zukünftiger Historiker auf diese Zeit blicken – und er wird schmunzeln. Nicht aus Zynismus, sondern aus historischer Wiedererkennung. Er wird sagen: „Damals glaubten sie, sie könnten die Demokratie retten, indem sie sie abschafften. In kleinen Stücken. Gutachtenweise. Und sie nannten es: Fortschritt.“