
Der neue alte Feind
Es ist eine bemerkenswerte anthropologische Konstante: Die Spezies Homo sapiens occidentalensis progressivus benötigt zum Aufrechterhalt ihrer seelischen Hygiene ein klares Feindbild. Früher war es der Klassenfeind, dann der Raucher, später der Klimaleugner – und heute: der Russe. Genauer gesagt: das Russentum. Und das nicht etwa im Sinne einer kritischen Auseinandersetzung mit autoritären Tendenzen oder geopolitischem Imperialismus – das wäre ja noch zu rechtfertigen –, sondern als flächendeckende psychische Projektionsfläche für alles, was man selbst nicht sein will, aber im Stillen vielleicht längst ist.
Russophobie ist keine Meinung. Sie ist auch keine Position. Sie ist ein Zustand. Ein Gemütszustand, der sich als Moral tarnt, ein Weltbild, das in sich geschlossen ist wie eine Irrenanstalt. Der Russe – in seiner neuesten medialen Inkarnation – ist nicht einfach ein Mitspieler auf der Bühne der Weltpolitik. Nein. Er ist der Joker im westlichen Kartenspiel, der Antichrist im liberalen Evangelium, das Böse schlechthin. Und wie jedes ultimative Böse wird er nicht diskutiert, sondern erklärt. Diagnostiziert. Pathologisiert. Diffamiert. Mit einem Furor, den man sonst nur aus Exorzismen kennt.
Von der Meinung zur Manie: Wie Kritik zur Obsession wurde
Der Übergang von berechtigter Kritik zur manischen Obsession vollzieht sich bekanntlich leise. Am Anfang steht die nüchterne Analyse von Kriegsverbrechen, Geheimdienstoperationen, demokratieferner Innenpolitik. Am Ende steht eine westliche Intellektuellenkaste, die Dostojewski von der Leseliste streichen möchte, weil er „toxisch patriarchal und latent imperialisierend“ sei.
Man schüttet nicht das Kind mit dem Bade aus – man löscht gleich das ganze russische Dorf, aus Furcht, man könne unabsichtlich kulturelle Komplizenschaft signalisieren.
So wird aus einer Nation mit einer komplexen, widersprüchlichen Geschichte ein einziges dunkles Prinzip. Wer einen russischen Komponisten zitiert, outet sich als verkappter Zarenversteher. Wer darauf hinweist, dass der Westen vielleicht auch Interessen hat, muss sich den Hut des Putinverstehers anziehen – maßgeschneidert, aus feinstem moralischen Filz. Die Russophobie ist dabei nicht nur pathologisch, sie ist auch bequem. Denn sie erlöst vom Denken. Sie erlaubt es, alle Graustufen zu überspringen und sich selbst auf der sicheren Seite zu wähnen – im Hochsicherheitstrakt der Tugend.
Von Tolstoi zu Totschlagargumenten: Die kulturelle Auslöschung als Tugendprojekt
Die Cancel Culture hat viele Opfer, aber die Russophobie erhebt das Streichen zur Kunstform. Tschaikowsky? Kolonialist im Taktmaß. Gogol? Ethnonationalistisch. Tschechow? Melancholischer Manipulator. Die russische Kultur wird neu kartografiert, und sie sieht plötzlich aus wie eine Kriegslandschaft, in der jeder Akkord ein Angriff, jede Vokabel ein Vorstoß ist. Selbst die Fabergé-Eier gelten inzwischen als kryptokoloniale Machtsymbole – und der Samowar ist nur noch eine dekadente Kriegsmaschine, mit Tee statt Munition.
So ersetzt der westliche Diskurs den realen Gegner durch ein kulturelles Phantom, das viel handlicher ist als reale Machtpolitik. Russland ist dabei nicht mehr Russland, sondern ein Mythos, ein Folkloregespenst, das alles symbolisiert, was man selbst nicht sein will, aber instinktiv fürchtet: archaisch, maskulin, orthodox, unironisch, leidensfähig – und voller Tiefe. Die Russophobie ist nicht nur ein intellektueller Reflex, sie ist auch ein psychologischer Abwehrmechanismus gegen das Fremde im Eigenen. Der Russe wird zum inneren Schatten des Westens – verdrängt, verleugnet, dämonisiert.
NATO-Narrative und News-Neurosen: Die Symbiose von Meinung und Massenwahn
Natürlich, sagen die Verteidiger der heiligen Phobie, gibt es Gründe zur Kritik. Die Ukraine. Die Annexion. Die Autokratie. Mag ja sein. Nur: Wenn Kritik nicht mehr unterscheidet, wird sie zur Waffe. Und wer jede Nuance tilgt, hat nicht mehr Recht – er hat nur noch Rechthaberei. Der Phobiker will nicht verstehen, er will verurteilen. Er verwechselt Geopolitik mit Moral und Diplomatie mit Exorzismus.
Die mediale Landschaft – ohnehin längst zu einem Rauschraum aus Daueralarmismus und tagesaktueller Weltuntergangsprognose verkommen – übernimmt das mit Inbrunst. „Russland provoziert“, „Russland destabilisiert“, „Russland droht“ – der Duktus gleicht einer postmodernen Offenbarung. Dass dabei keine Silbe über westliche Rüstungsexporte, über aggressive NATO-Erweiterung, über die systematische Störung diplomatischer Kanäle fällt? Geschenkt. Der Phobiker lebt gut mit blinden Flecken – solange sie auf der richtigen Seite der Linie liegen. Moralisch asymmetrisch blind, aber dafür mit LED-Binde.
Die Symptome der Krankheit: Projektion, Paranoia, Pose
Man erkennt den Russophobiker an drei Kernsymptomen:
- Projektion: Alles, was dem Westen selbst peinlich ist, wird Russland unterstellt. Autoritarismus, Propaganda, Korruption, Machismo – ein russisches Best-of der eigenen Unzulänglichkeiten.
- Paranoia: Hinter jeder Energiekrise, jeder Wahl, jeder Protestaktion ein russischer Hacker. Der Strom fällt aus? Putin. Die AfD steigt in den Umfragen? Putin. Der Kaffee schmeckt seltsam? Wahrscheinlich Nowitschok.
- Pose: Der moralische Hochsitz ist wichtiger als jedes Argument. Man trägt Ukraine-Flaggen im Twitterprofil, hat aber keine Ahnung von der Geschichte der Krim. Man spendet an Hilfsorganisationen, deren Chefetage aus NATO-Think-Tanks stammt. Die Welt ist ein Theater – und Russland der vorgeschobene Bösewicht, gegen den man sich selbst inszenieren kann.
Russophobie als Selbstverleugnungskunst
Russophobie ist also mehr als ein Problem des Feindbildes – sie ist eine Störung des Selbstbildes. Eine tiefenpsychologische Abwehrhandlung eines Westens, der seine eigene Hybris nicht mehr erkennen will. Der Westen, der sich für universell hält, kann mit dem Partikularen nicht umgehen. Russland – widersprüchlich, roh, eigenständig – ist ihm ein Skandal. Nicht, weil es böse ist. Sondern weil es nicht westlich sein will.
In dieser Ablehnung liegt kein Mut, sondern Angst. Die Angst, dass es noch andere Modelle gibt. Dass Leid nicht nur Elend, sondern auch Würde bedeuten kann. Dass Rationalität nicht alles ist. Dass Geschichte nicht linear verläuft. Und dass vielleicht – nur vielleicht – der Westen nicht das Ende, sondern nur ein Kapitel der Geschichte ist.
Russophobie ist heilbar – aber nicht mit Waffen
Was hilft gegen diese Geisteskrankheit? Ironie. Bildung. Geschichte. Ein Buch lesen. Ein Tschechow-Stück anschauen. Eine Balalaika hören, ohne das Bedürfnis zu verspüren, sie zu verbieten.
Und vor allem:
Das eigene Spiegelbild betrachten – mit dem Mut, auch das Fremde darin zu erkennen.
Denn wer Russland wirklich verstehen will, muss lernen, sich selbst auszuhalten.
Und das – ist die wahre Zumutung.