Nie wieder. Vielleicht. Irgendwann.

Es gibt sie noch, die guten alten Rituale der Republik. Zum Beispiel: eine Studie beauftragen, damit sich die Republik in die Augen schaut – oder wenigstens ins Gesicht. Seit 2018 lässt das Parlament den Antisemitismus vermessen, seziert, in Prozentzahlen gefasst. Und wenn man sich dabei selbst lobt, dann wenigstens dafür, dass man hingeschaut hat. Nicht jeder schaut überhaupt noch hin.

Doch diesmal hat die Realität dem Ritual einen Strich durch die Idylle gemacht: Am 7. Oktober 2023 verübte die Hamas ein Massaker an israelischen Zivilisten. Es war der blutigste Angriff auf Juden seit der Shoah. Die Bilder – brutal, unmissverständlich, grauenvoll – gingen um die Welt. Und was macht Österreich? Es stellt eine Frage: War das eigentlich wirklich Terror?

Was ist schon ein Terrorakt? – Eine Frage des Blickwinkels

Immerhin 69 Prozent der 2.037 österreichweit Befragten ab 16 Jahren sind sich einig: Ja, das war Terror. Eine ordentliche Mehrheit – in anderen Ländern nennt man das „konsensfähig“. In Österreich sagt man dazu wohl: „Gerade noch tragbar.“

Anders sieht das die Gruppe der Befragten mit arabischem oder türkischem Migrationshintergrund. Dort halten nur 39 Prozent das Massaker für Terror. 40 Prozent hingegen – man muss es zweimal lesen – verneinen das ausdrücklich. Der Rest schweigt oder zögert.

Eine kognitive Dissonanz in Reinform: Was weltweit als Angriff auf die Menschlichkeit gilt, wird hier als Debattenstoff wahrgenommen. Vielleicht war es ja auch ein kulturelles Missverständnis. Oder einfach nur – Perspektive?

Shoa light – Die neue Mode der Relativierung

Noch erschütternder sind jene Zahlen, bei denen man sich fragt, ob der Geschichtsunterricht nicht längst durch YouTube ersetzt wurde. 21 Prozent der türkisch- oder arabischstämmigen Befragten glauben, die Berichte über die Konzentrationslager seien übertrieben. In der Gesamtbevölkerung immerhin acht Prozent.

Acht Prozent! In einem Land, das Mauthausen in der DNA tragen sollte, in dem jedes Kind die Bilder der befreiten Lager kennt – oder kennen sollte. Stattdessen: Lager als „Erzählung“, Vernichtung als „Narrativ“, Holocaust als Hyperbel. Das 20. Jahrhundert als Memefläche mit Filter.

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Die Jugend rebelliert – gegen Geschichte

Noch ein Schlag in den Bildungssolarplexus: Ausgerechnet die 16- bis 25-Jährigen sind am empfänglichsten für antisemitische Tendenzen. 15 Prozent dieser Altersgruppe zweifeln an der Shoa – nicht als historisches Ereignis, sondern an ihrer Dimension, an ihrer Wahrheit.

Woher kommt diese Ignoranz? Vielleicht ist es nicht Desinteresse, sondern Überfütterung. Wer jeden Tag fünf Stunden „Content“ konsumiert, dem erscheint das reale Grauen von Auschwitz womöglich wie ein besonders schlechter Netflix-Dreh. Kein Cliffhanger, kein Algorithmus, kein Like.

Die Welt wird kuratiert – und Antisemitismus klickt leider gut.

Der neue Antisemitismus trägt viele Masken

Es gibt ihn noch, den klassischen Antisemitismus – dumpf, plump, aus dem Bauch heraus. Aber viel gefährlicher ist der neue, der akademisierte, der intersektionale. Der, der sich nicht mehr gegen „die Juden“ richtet, sondern gegen „Israel“. Der die Shoa nicht leugnet, aber in einen Wettbewerb der Opfer stellt. Der nicht hasst, sondern „kritisiert“. Nur leider eben ausschließlich jüdische Staaten.

Wer sagt: „Ich habe nichts gegen Juden, aber …“, hat schon verloren. Das „aber“ wiegt schwerer als jede Geschichtsstunde. Und es ist salonfähig geworden. Auch in Universitätsfluren, auf Podien, in linksliberalen Milieus, die sonst bei jedem Wimpernschlag Diskriminierung wittern – nur nicht, wenn es um Juden geht.

Der österreichische Umgang mit Schuld – eine Volkssportart

Man will sich ja bessern. Wirklich. Aber bitte ohne zu viel Aufwand. Gedenktafeln sind okay. Schulprojekte auch. Vielleicht eine Kerze am 27. Jänner. Aber bitte kein emotionales Investment. Und vor allem: keine Konfrontation mit der Gegenwart.

Antisemitismus? Den gibt’s doch nur „bei denen“. Bei den Rechten. Oder bei „den Zuwanderern“. Dass er mitten im Bildungsbürgertum blüht, im Gymnasium, in der Sozialarbeit, am Küchentisch – das ist schwerer zuzugeben. Vielleicht braucht es dafür eine neue Studie. Oder besser: ein gutes Feuilleton.

Österreich, du kannst einpacken – oder anfangen

Die neue Studie ist ein Dokument des Versagens – nicht der Forschung, sondern der Gesellschaft. Sie zeigt: Antisemitismus lebt, atmet, geht zur Schule, studiert, wählt. Er ist nicht am Rand. Er ist mittendrin.

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Was also tun? Vielleicht radikaler unterrichten. Vielleicht aufhören, das Unaussprechliche ständig zu relativieren. Vielleicht endlich verstehen, dass „Nie wieder“ kein Kalenderspruch ist, sondern eine Arbeitsanweisung.

Oder wir machen weiter wie bisher. Warten auf die nächste Studie. Die nächste Runde Ratlosigkeit. Vielleicht sogar mit multimedialer Begleitkampagne. Mit Influencer*innen und Hashtags. #ErinnerungskulturDeluxe.

Aber eines ist sicher: Wer im moralischen Spiegel nichts mehr sieht, sollte nicht das Licht dimmen. Sondern die Augen aufmachen.

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