Luther – Zwischen Straße und Schande

Wenn man Straßennamen von antisemitischen Namensgebern säubert – was ist mit Martin Luther?

In den letzten Jahren hat sich eine Welle der moralischen Bereinigung über die Straßen Europas ausgebreitet. In vielen deutschen Städten werden mit festem Entschluss die Namen von Straßenschildern abgeschraubt, die nach Menschen benannt sind, deren Lebenswerk und Geisteshaltung heute als untragbar gelten. Antisemiten, Kolonialisten, Frauenfeinde – all jene, die einst als Helden gefeiert wurden, finden sich nun in der gesellschaftlichen Ausnüchterung und auf den Ersatzbänken der Geschichte wieder. Eine notwendige Geste, eine längst überfällige, moralische Hygienemaßnahme, so wird uns gesagt.

Doch während man die einen mit spitzen Fingern aus dem Stadtbild zupft, kleben die anderen förmlich an den Straßenschildern wie alte Kaugummireste. Besonders ein Name ragt inmitten dieser Debatte als Mahnmal grotesker Doppelmoral heraus: Martin Luther. Ein Mann, der im Laufe der Jahrhunderte Heiligenschein und Teufelshörner zugleich aufgesetzt bekam. Ein Mann, dessen rhetorische Ausfälle gegen Juden – freundlich formuliert – heute wohl als „verbaler Fehltritt“ und „unglückliche Entgleisung“ deklariert werden würden. Also, was nun? Was ist zu tun mit diesem problematischen Namenspatron unserer Lutherschen Alleen, Lutherstraßen und Lutherschulen? Ein Schweigen, das ohrenbetäubend ist.

Der Reformator mit der antijüdischen Ader

Luther, der große Reformator, der Vater der Reformation, der Aufrührer gegen die katholische Kirche und – wie sich im späten Verlauf seines Lebens offenbarte – der Protagonist eines aggressiven Antisemitismus. Wenn es nur um seine theologischen Errungenschaften ginge, könnte man ihm in der protestantischen Kirche sicherlich weiterhin einen Ehrenplatz im Pantheon der religiösen Vorbilder einräumen. Aber dann kam das Jahr 1543, in dem Luther die Schrift Von den Juden und ihren Lügen verfasste. Eine kurze Lektüre dieser Zeilen reicht aus, um selbst den glühendsten Verteidiger Luthers erbleichen zu lassen.

„Dass man ihre Synagogen oder Schulen mit Feuer anstecke“, schrieb Luther, „und was nicht verbrennen will, mit Erde überhäufe und beschütte.“

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Aha. Und weiter?

„Dass man auch ihre Häuser desgleichen zerbreche und zerstöre.“

Das könnte man wohl als eine frühe, vielleicht sogar prophetische Anleitung zur Kristallnacht deuten, nicht wahr? Luthers 1543er Pamphlet las sich so reißerisch und brutal, dass selbst die Redenschreiber von Goebbels kaum etwas hinzufügen mussten. Wenn es jemals Zweifel daran gab, dass der Pfarrer aus Wittenberg dem modernen Antisemitismus einen tragischen Weg bereitete, so sollten diese mit solchen Zitaten endgültig ausgeräumt sein.

Ja, aber…

Doch die Verteidiger des großen Reformators sind schnell zur Stelle. „Man muss Luther im Kontext seiner Zeit verstehen“, rufen sie uns zu. Ach, die Zeit! Immer wieder wird sie als Alibi hervorgekramt, als mildernder Umstand. Gewiss, das 16. Jahrhundert war ein Zeitalter, in dem Judenhass nicht die Ausnahme, sondern die Norm war. Doch macht das Luthers Hass besser, gerechter oder gar weniger schändlich? Sicherlich nicht. Die Frage bleibt: Wenn wir den Maßstab der Gegenwart an andere historische Persönlichkeiten anlegen, warum dann nicht auch an Martin Luther? Und wenn wir Straßen umbenennen, die nach anderen Antisemiten benannt sind, warum dürfen dann Lutherstraßen weiter ungestört bestehen?

Ist es, weil er die Bibel übersetzt hat? Weil er den Weg für den Protestantismus ebnete? Weil er dem Papst die Stirn bot? Sicherlich, das sind historische Errungenschaften, die nicht kleingeredet werden dürfen. Doch wenn wir bereit sind, ganze Straßenzüge von den Namen anderer umstrittenen Figuren zu „säubern“, dann darf auch Martin Luther nicht unangetastet bleiben. Es scheint fast, als hätten wir eine unsichtbare Linie gezogen: Hier die gewöhnlichen Antisemiten, die man aus dem Gedächtnis tilgt, und dort die „genialen“ Antisemiten, denen wir ihre Verbrechen in weiser Nachsicht verzeihen.

Die moralische Krux der Geschichte

Vielleicht liegt der Kern dieses Problems in der Komplexität des moralischen Urteilens über historische Persönlichkeiten. Luther ist nicht der einzige Fall, in dem sich die Öffentlichkeit schwer tut, einen klaren Schnitt zu machen. Da wäre auch ein Richard Wagner, der antisemitische Töne in seine Opern brachte und dessen Musik doch gleichzeitig als Meilenstein der deutschen Kultur gilt. Da wäre ein Immanuel Kant, dessen Aufklärungsphilosophie bis heute gefeiert wird, obwohl er nicht weniger rassistische Theorien über die „Minderwertigkeit“ nicht-europäischer Völker verbreitete. Und dann wäre da eben Luther – ein Mann, der in unseren Schulbüchern als Begründer des modernen Europas dargestellt wird, gleichzeitig aber als Wegbereiter des Judenhasses eine ebenso traurige Rolle spielt.

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Diese Ambivalenz macht es den Städten und Gemeinden schwer, klare Entscheidungen zu treffen. Luther, so heißt es, war „ein Kind seiner Zeit“. Doch sind wir nicht alle Kinder unserer Zeit? Und haben wir nicht alle die Pflicht, die dunklen Seiten unserer Geschichte ebenso zu thematisieren wie die hellen? Was wir hier vor uns haben, ist ein moralisches Paradoxon: Können wir jemanden ehren, dessen Ideen in Teilen zu den größten Verbrechen der Menschheit geführt haben?

Der unerwartete Dialog

Nun, es wäre doch eine nette Idee, Martin Luther selbst zur Rede zu stellen. Stellen wir uns vor, er könnte in der heutigen Zeit aus seinem Wittenberger Grab auferstehen und sich zu den Vorwürfen äußern. Er könnte vielleicht sagen: „Ich habe meine Worte nicht so gemeint!“ Vielleicht würde er hinzufügen: „Die Umstände der Zeit, die Katholiken, der Papst – sie haben mich dazu getrieben!“ Und am Ende würde er wohl, in gewohnt provokativer Manier, die Schultern zucken und ausrufen: „Was soll’s? Wenn es euch nicht passt, dann reißt meine Statuen eben nieder. Ich habe ohnehin genug Stürme überstanden!“

Wir, die Nachgeborenen, müssten uns dann die Frage stellen: Haben wir die Integrität und den Mut, diesen Stürmen zu begegnen? Oder bleiben wir weiterhin stumm und dulden es, dass in unseren Städten Straßen und Plätze nach einem Mann benannt sind, dessen Worte zu Hass und Zerstörung führten?

Wohin mit Luther

Am Ende bleibt uns eine einfache Wahrheit: Wir können die Geschichte nicht ungeschehen machen, aber wir können entscheiden, wie wir mit ihrem Erbe umgehen. Wenn wir uns dazu entschließen, die Straßennamen von Antisemiten zu säubern, dann muss auch Martin Luther zur Diskussion stehen. Es reicht nicht, seine theologischen Errungenschaften zu feiern, ohne seine dunklen Seiten zu benennen.

Es wäre vielleicht an der Zeit, die Lutherstraßen in „Straßen der Reformation“ umzubenennen. So könnten wir seine historischen Verdienste ehren, ohne gleichzeitig einem Erben des Judenhasses Reverenz zu erweisen. Bis dahin jedoch bleibt Martin Luther als doppelbödige, moralisch zwiespältige Figur in unseren Städten präsent – als Mahnmal einer Geschichte, die noch immer darauf wartet, vollends verstanden zu werden.

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Weiterführende Links und Literatur:

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