
Vietnam, du hast es besser – dort weiß man wenigstens noch, wie Zensur funktioniert
Vietnam. Ein Land, das viele in Europa bestenfalls mit Pho-Suppe, Motorrädern und Kriegsfilmen aus der VHS-Zeit verbinden. Doch hinter Palmen und Patrouillen verbirgt sich ein Regime, das Zensur nicht versteckt, sondern stolz wie ein Parteibuch vor sich herträgt. In Vietnam braucht es keinen Algorithmus, um abweichende Meinungen zu unterdrücken – dort reicht die Polizei. Wer sich dort im Internet kritisch äußert, braucht keine Trollarmee zu fürchten, sondern eine Zelle. Ohne WLAN. Dafür mit staatlicher Fürsorge in Form von Prozess, Urteil und Haftstrafe.
Menschenrechtler schlagen Alarm – wobei „schlagen“ das falsche Wort ist. Sie piepsen. Sie piepsen durch Statements, durch NGO-Berichte, durch halbherzige diplomatische Andeutungen. Denn es ist wie immer: Solange ein Land wirtschaftlich interessant ist oder strategisch irgendwie zwischen China und den USA liegt, schaut man lieber weg, statt hin. Repression? Ja, aber in einem tropisch-warmen Klima. Ein bisschen wie Urlaub, nur mit Hausdurchsuchung.
Die Ironie, die nie schläft: Likes als Landesverrat
Und während man über Vietnam den moralischen Zeigefinger erhebt – natürlich sanft und in Gender-Mainstreaming-konformer Haltung – regt sich ein seltsames Déjà-vu. War da nicht neulich etwas… in Deutschland? Wo ein Chefredakteur wegen vermeintlicher Majestätsbeleidigung light sieben Monate Haft auf Bewährung bekam? Wo Hausdurchsuchungen nicht wegen Kokain oder Kinderpornografie stattfanden, sondern wegen Facebook-Kommentaren und Likes auf Twitter (pardon: X – das soziale Netzwerk mit dem Charme einer dystopischen Waschmaschine)?
Ja, richtig erinnert. Willkommen im deutschen Paragrafenwunderland, wo §188 des Strafgesetzbuches wie ein alter Opa in der Ecke steht und plötzlich wieder sprechen darf. Der sogenannte Schutz der Ehre von Verfassungsorganen klingt, als wäre er aus einem Feuilleton des Kaiserreichs gefallen, wird aber wieder modern – wie Tweed oder die Renaissance der Schallplatte. Wer sich heute kritisch über „Repräsentanten des Staates“ äußert, kann durchaus Post von der Staatsanwaltschaft bekommen – und zwar nicht in Form eines netten Follows.
Der §188 – Deutschlands Antwort auf vietnamesische Konsequenz
Man darf es natürlich nicht vergleichen – obwohl genau das der Sinn dieser Satire ist. In Vietnam kommt man für Kritik an der Regierung direkt ins Gefängnis. In Deutschland geht man zuerst durch die Instanzen, dann durch die Medien und am Ende vielleicht durch den Reißwolf der öffentlichen Meinung. Die Methoden unterscheiden sich, das Prinzip bleibt gleich: Wer zu laut denkt, wird aussortiert. Nur sind die deutschen Varianten hübscher verpackt: Mit StGB, mit richterlichem Siegel und einem Hauch liberaler Selbsttäuschung.
§188 schützt Politiker*innen vor „verleumderischer Beleidigung“ – was immer das im Zeitalter der permanenten Kränkungskultur bedeuten mag. Der Staat sagt: Man muss die Würde des Amtes schützen. Die Satire sagt: Wenn ein Amt nicht mit Kritik umgehen kann, hat es keine Würde verdient. Und irgendwo dazwischen steht der Bürger, der sich fragt, ob er beim nächsten Tweet besser ein Emoji verwendet, das als ironisch erkennbar ist. Ironie wird zur Überlebensstrategie, Subtext zur Mutprobe.
Die Gedanken sind frei – solange sie nicht geliked werden
Es ist der feine Unterschied zwischen Meinungsfreiheit und Meinungsmanagement. Vietnam hat keinen Bedarf an Feigenblättern – dort zeigt die Autokratie ihr Gesicht offen. Deutschland hingegen streichelt seine Pressefreiheit mit der einen Hand, während die andere Hand die Presserechtler beschäftigt. Und immer öfter trifft es nicht mehr nur klassische Journalisten, sondern auch den Normalbürger mit DSL-Anschluss und einem zu flotten Daumen. Ein falsches Like kann heute schon als politische Stellungnahme gelten – und das ist die vielleicht gruseligste Pointe unserer Zeit: Nicht mehr, was du sagst, wird gefährlich – sondern, was du bestätigst.
Likes waren einmal Zeichen der Zustimmung, dann wurden sie zur Währung, nun sind sie potenzielle Beweismittel. Der Like ist das neue Geständnis. Und man spürt ihn förmlich, den alten Geist des Totalitarismus, wie er durch die Kommentare schleicht und leise flüstert: „Zeig mir, wen du likst, und ich sage dir, ob du morgen noch ungestört wohnen kannst.“
Repression als Serviceleistung: Wir unterdrücken Sie gerne
Die moderne Repression ist freundlich. Sie hat keinen Schnurrbart, keine Schergen in Ledermänteln, keine brüllenden Lautsprecher. Sie hat Datenschutzerklärungen, Push-Benachrichtigungen und Nutzungsbedingungen. Und vor allem hat sie eine Rhetorik: Die da lautet, alles diene nur dem Schutz. Dem Schutz vor Hass. Vor Desinformation. Vor Extremismus. Vor allem, was die Ordnung der Dinge in Frage stellt.
Doch irgendwann kippt der Schutz in Schranke. Und dann sind wir wieder bei Herodot, oder bei Orwell, oder bei der simplen Wahrheit, dass Macht sich immer selbst absichert – ob mit Bajonett oder Paragraf. Nur ist der moderne Bürger kein Dissident mehr, sondern ein Kunde. Und der moderne Dissident ist ein Troll – so lange, bis sich zeigt, dass seine Fragen berechtigt waren.
Fazit: Der Witz, der keiner mehr sein will
Vielleicht ist das alles nur ein großer Witz. Vielleicht leben wir in der ironischsten aller Welten, in der autoritäre Staaten Ehrlichkeit walten lassen und demokratische Systeme ihre dunklen Seiten mit Regenbogenflaggen dekorieren. Vielleicht ist auch das nächste Like der letzte – bevor der nächste § greift. Und vielleicht steht eines Tages ein Kind vor einem Bildschirm, scrollt durch alte Memes, und fragt: „Papa, was war damals eigentlich diese Meinungsfreiheit?“
Und Papa wird sagen: „Ach, das war so ein Ding wie Napster oder StudiVZ. Gab’s mal. War cool. Aber dann… kam der Like.“