Liebe Wahlberechtigte,

Ein Hoch auf die Abwesenden

Wer auch immer mit dem Ausgang der gestrigen Wahlen unzufrieden ist – sei es aus Enttäuschung über die triumphierende Mittelmäßigkeit, die bedauerliche Wiederwahl der Untragbaren oder das erdrutschartige Aufkeimen der politischen Exoten – möge sich bitte, in stiller Demut, die goldene Zahl auf der Stirn brennen: 60 Prozent. Sechzig. Hundert. Und davon nur ein dürftiger, schamroter Anteil, der sich überhaupt die Mühe gemacht hat, in seinen besten Sonntagsschuhen zur Wahlurne zu stolpern, wahlweise mit Müsliresten im Bart oder dem hämischen Grinsen des moralischen Übermenschen. Der Rest – die fulminanten vierzig Prozent – hat sich derweil auf seine höchste Bürgerpflicht berufen: das heroische Nichtstun.

In einem Akt bewundernswerter Konsequenz haben diese modernen Diogenesse, diese stoischen Verweigerer, das Licht der Demokratie verschmäht und sind lieber in ihren metaphorischen Fässern geblieben – vielleicht auf der Couch, vielleicht am Grill, vielleicht auf Bali. Wer könnte es ihnen verübeln? Schließlich war der Himmel schön, die Netflix-Serien neu, die Politiker alt und die Wahlprogramme so erregend wie eine feuchte Papiertüte. Da mag der politisch Bewusste noch so laut lamentieren, der Empörte noch so geifernd auf den Tisch schlagen: Ein leeres Wahllokal ist eben auch ein Statement. Nur eines, das nicht im Parlament sitzt, sondern zu Hause Chips krümelt.

Der Triumph der Demokratie oder: Wie man mit wenig Begeisterung viel Mist anrichtet

Und so marschieren sie nun, die Auserwählten der wenigen: Kandidaten, deren Wahl mehr dem Zufall eines falsch eingelegten Kreuzchens als bewusster politischer Entscheidung geschuldet ist. Mandatsträger, die stolz die Stimmen von gerade einmal einem Drittel der Bevölkerung hinter sich wissen – was, auf die ganze Nation gerechnet, ungefähr der Treuequote einer mittelmäßigen Fernsehserie auf einem dritten Programm entspricht. Wahrlich, ein Fanal der Volksnähe!

Aber wir sollten nicht zu streng urteilen. Demokratie, diese betagte Diva mit ihren knarrenden Knochen und der Tendenz zum Würdelosen, lebt schließlich von der Beteiligung derer, die sich beteiligen. Wer zu Hause bleibt, stimmt auch ab – nur eben schweigend. Vielleicht aus Überdruss, vielleicht aus Trotz, vielleicht aus der noblen Überzeugung, dass man einem sinkenden Schiff wenigstens nicht noch mehr Ballast aufbinden sollte.

TIP:  Privatstädte

Die heilige Pflicht zur Verdrossenheit

Oh, Ihr wackeren Wähler! Ihr tapferen Zehn-Prozent-Parteienwähler, Ihr listenschreibenden Hobbydiktatoren, Ihr notorischen Kreuzchenverteiler! Habt Ihr nicht längst erkannt, dass Eure Stimmen lediglich zu einer weiteren Koalition der grauen Kompromisse führen werden? Dass Ihr, im besten Fall, die Wahl zwischen einem langsam und einem schnell arbeitenden Bagger hattet, die beide das Fundament dieser bröckelnden Republik untergraben?

Und trotzdem habt Ihr gewählt, trotzig, verbissen, vielleicht sogar ein wenig ironisch. Ihr habt Kandidaten unterstützt, deren Hauptqualifikation darin besteht, bei TikTok weniger peinlich zu wirken als ihre Konkurrenten. Ihr habt Programme abgesegnet, die entweder so konkret waren wie Horoskope oder so allgemein wie die Wettervorhersage für den März 2073. Chapeau!

Wenn Politik zur Unterhaltung wird und Unterhaltung zur Politik

Was aber wäre eine Wahl ohne ihre grandiose Bühnenshow? Die Sieger posieren wie Castingshowgewinner, die Verlierer klammern sich an Ausreden wie an Rettungsringe: „Man müsse die Ergebnisse differenziert betrachten“, nuschelt der Abgewählte in die Mikrofone, während ihm die Schweißperlen den Mut aus dem Gesicht waschen. „Wir haben unser Ziel erreicht“, tönt der Spitzenkandidat der Splitterpartei, deren Ziel vermutlich darin bestand, wenigstens von ihrer eigenen Großmutter gewählt zu werden.

Die Medien, treue Kettenhunde des Spektakels, sabbern derweil in den Talkshows vor Erregung. Experten schieben Diagramme über den Bildschirm wie ein Wahrsager seine Tarotkarten. Wahlanalysen werden serviert wie ranzige Häppchen: man isst sie aus Höflichkeit und fühlt sich danach schlecht.

Eine Ode an die Farce

Am Ende bleibt nur ein Fazit, so bitter wie die letzte Praline im Adventskalender: Wer nicht wählt, darf nicht klagen. Und wer wählt, hat allen Grund dazu.

In einer Zeit, in der Politik zur lauwarmen Seifenoper verkommen ist, in der Prinzipien schneller geopfert werden als schlechte Reime bei einem Rap-Battle, ist jede Wahl ein Akt tapferer Absurdität. Vielleicht sollten wir sie feiern wie eine absurde Tradition – wie das Eierlaufen zu Ostern oder das Bleigießen zu Silvester. Mit einem Augenzwinkern, einem Schuss Zynismus und der festen Überzeugung, dass wenigstens der Versuch zählt.

TIP:  Sag zum Abschied leise "rechtsextrem"

Denn, liebe Wahlberechtigte, eines ist sicher: Nichts verteidigt die Würde einer Nation besser als eine Wahlbeteiligung, die sich irgendwo zwischen „halb interessiert“ und „völlig resigniert“ einpendelt. In diesem Sinne: Prost! Auf die nächste Farce!

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