Leckt mich doch!

Man kann ja heutzutage nichts mehr sagen, ohne dass irgendein selbsternannter Tugendwächter, Social-Media-Prangerbetreiber oder faktencheckender Empörungsbeamter aus der digitalen Gosse emporsteigt und mit einem ausgestreckten Zeigefinger wedelt. „Das ist problematisch!“ rufen sie. „Uninformiert!“ kreischen sie. „Unangemessen!“ raunzen sie. Es scheint, als ob eine neue Priesterschaft entstanden sei, die das Heilige Wort der Korrektheit verwaltet und jeden verdammt, der es wagt, einen ironischen Unterton, eine böse Pointe oder gar eine unerhörte Meinung zu äußern. Nun, ich sage: Leckt mich doch!

Die Inflation der Empörung

Es gibt eine eigenartige Parallelität zwischen unserer Währung und unserer Empörungskultur: Beide haben an Wert verloren. Früher konnte man noch mit echter Wut Eindruck schinden. Ein brüllender Gewerkschaftsführer, ein tobender Intellektueller, ein wutentbrannter Arbeiter – das hatte Kraft. Heute? Ein Twitter-Hashtag, ein beleidigter Kommentar unter einem Artikel, ein wildes TikTok-Geheule – und schon ist der Skandal perfekt. Doch wenn jedes unbedeutende Geräusch zum Skandal erhoben wird, verliert das Wort „Skandal“ jede Bedeutung. Was bleibt, ist eine Gesellschaft, die sich selbst in einem Strudel aus Selbstmitleid und Aggressionsimpotenz ertränkt. Ich wiederhole: Leckt mich doch!

Die Tyrannei der Wohlmeinenden

Noch schlimmer als die wütenden Empörungsritter sind jene, die mit milder Stimme und traurigem Blick von der Notwendigkeit eines „besseren Miteinanders“ sprechen. Diese sanften Tyrannen wollen nicht nur die Sprache reinigen, sondern gleich die gesamte Welt zu einem flauschigen Kindergarten umgestalten, in dem niemand jemals auf die Nase fällt. Doch ohne Sturz kein Aufstehen, ohne Reibung keine Wärme, ohne Disput keine Erkenntnis. Die Menschheit hat sich nicht aus der Höhle hinaus ins Weltall gekämpft, weil sie sich gegenseitig mit Samthandschuhen angefasst hat. Also, liebe Wohlmeinenden: Leckt mich doch!

Die Ökonomisierung der Moral

Die moralische Entrüstung ist längst zur Ware geworden. Jedes Unternehmen, das vor wenigen Jahren noch Umweltskandale und Menschenrechtsverletzungen in Serie produzierte, verkauft uns nun mit zärtlichem Flüsterton Diversity-Initiativen und Nachhaltigkeitsberichte. Dieselben Konzerne, die in dunklen Hinterzimmern ihre Arbeiter ausquetschen wie reife Zitronen, belehren uns über ethischen Konsum. Wer das nicht durchschaut, dem sei dringend geraten: Wach werden – und sich kollektiv mal gepflegt ins Knie… oder eben: Leckt mich doch!

TIP:  Von der Freiheit, sich verkaufen zu müssen

Weniger Heuchelei, mehr Leben!

Wir brauchen weniger Entrüstung, weniger moralische Inquisition, weniger wohlmeinende Tyrannei. Wir brauchen mehr Ehrlichkeit, mehr Ironie, mehr Freude am Streit. Wir brauchen das Recht, Unsinn zu reden, Unkorrektes zu denken, Unbequemes zu äußern. Und wenn das jemanden stört? Nun ja – ihr wisst schon, was zu tun ist.

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